Die Kriegspropaganda nimmt Fahrt auf: «Plant Putin einen Krieg?» - Von Wolfgang Effenberger 05.12.2021 18:02
Am 24. November 2021 überschrieb Patrick Diekmann, Redakteur für Außenpolitik bei «t-online», seinen Artikel
«Plant Putin einen Krieg? Die Nerven liegen blank» [1], um dann zu vermelden: Der Westen ist in Alarmbereitschaft. Als Grund wird der seit Mitte November 2021 an mehreren Fronten verschärfte Konflikt mit Russland genannt. Die US-Geheimdienste beschuldigen Präsident Putin, einen Krieg vorzubereiten: «An der russisch-ukrainischen Grenze versammelt der Kreml knapp hunderttausend Soldaten und Panzer, im Weltraum schießt Moskau mit einer Rakete einen eigenen Satelliten ab. Russische
Bomber, die mit atomaren Sprengköpfen bewaffnet werden können, fliegen nach
Belarus oder werden von NATO-Kampfflugzeugen über der Nordsee abgefangen. Der belarussische
Machthaber Alexander Lukaschenko erpreßt die Europäische Union mit
Flüchtlingen, mit Rückendeckung von Russlands Präsident Putin». [2
Diese
vom Westen so wahrgenommene Eskalation soll sich vor allem auf Satellitenbilder
und die Berichte des ukrainischen Verteidigungsministeriums stützen. Das klingt ja sehr vertrauenswürdig!
Hier sei nur exemplarisch an zwei Vorgänge erinnert: Mitte September 1990 - wenige Wochen nach Saddam Husseins Einmarsch
in Kuwait - beriefen sich hohe
US-Militärs auf streng geheime Satellitenbilder, die angeblich bewiesen, dass
bis zu 250.000 irakische Truppen und 1.500 Panzer an der Grenze zu
Saudi-Arabien standen und den wichtigsten Öllieferanten der USA bedrohten. Doch
die ›St.
Petersburg Times‹
in Florida konnte zwei kommerzielle sowjetische Satellitenbilder publizieren,
die zur gleichen Zeit aufgenommen worden waren und keine irakischen
Truppen in der Nähe der saudischen Grenze zeigten: Nur leere Wüste. [3]
Am
11. März 2021 setzte der ukrainischen Präsident Wolodymyr Selensky den Beschluß
݆ber die Strategie der Entbesetzung
und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen
Republik Krim und der Stadt Sewastopol‹
[4] in Kraft. Hier fällt vor allem die kreative Wortschöpfung ›Entbesetzung‹ auf. Mit seinem Dekret befindet sich Selensky im Einklang mit der
am 4. 12. 2014 im US-Kongreß verabschiedeten Resolution ›H. Res. 758‹, die »das Vorgehen der russischen Föderation unter Präsident
Wladimir Putin als eine Politik der Aggression gegen Nachbarstaaten - mit dem Ziel der politischen und
wirtschaftlichen Dominanz - scharf
verurteilt«. [5] Dieser Vorbemerkung folgt ein
umfangreiches Sündenregister Russlands. Gebetsmühlenartig wird die Russische
Föderation u.a. beschuldigt, in die Ukraine einmarschiert zu sein und deren
Souveränität verletzt zu haben, Computerattacken in den USA durchzuführen, 2008
in Georgien einmarschiert zu sein, Waffen an Syrien verkauft zu haben, etc. Am
Ende der langen Reihe meist unbewiesener oder zumindest fraglicher Vorwürfe
folgen 22 Forderungen, die den Kongreß und den Präsidenten zu Handlungen
zwingen sollen. So soll der Präsident unter anderem auf die US-Verbündeten und Partner
in Europa und die anderen Staaten der Welt einwirken, gezielte Sanktionen gegen
die Russische Föderation und ihre Führung zu verhängen, den Abzug der
russischen Truppen samt ihrer Ausrüstung von ukrainischem Territorium
durchzusetzen, in Abstimmung mit dem Kongreß den Zustand und die
Einsatzbereitschaft der US-Streitkräfte und der Streitkräfte der anderen
NATO-Staaten zu überprüfen, sowie die aus der Beistandsklausel (Art. 5)
erwachsene Verpflichtung zur kollektiven Verteidigung ernst zu nehmen und dafür Sorge zu tragen, dass eventuelle Mängel
abgestellt werden.
Noch
am Tag der Verabschiedung der Resolution bezeichnete das Kongreß- Urgestein Ron Paul diese auf seiner Homepage in dem
Artikel «Reckless Congress ›Declares
War‹ on Russia» als «eines der
übelsten Gesetze». [6] Und der kanadische Ökonom Michel Chossudovsky sorgte
sich um die weltweite Sicherheit. Für ihn hatte das Abgeordnetenhaus dem
amerikanischen Präsidenten und Oberkommandierenden der Streitkräfte praktisch ›grünes Licht‹ gegeben, ohne weitere Zustimmung des Kongresses in einen Prozeß
der militärischen Konfrontation mit Russland einzutreten. [7] «Diese
historische Abstimmung», so Chossudovsky, «die möglicherweise das Leben von
hunderten Millionen Menschen weltweit beeinflußt, wurde in den Medien praktisch
völlig ausgeblendet». [8] Bis heute weiß die Öffentlichkeit kaum etwas davon!
Der ehemalige stellvertretende Finanzminister der Regierung Reagan und
Herausgeber des ›Wall Street Journal‹, Paul Craig Roberts, sah damals in
der Resolution gegen Russland ein Paket von Lügen [9], und fragt heute: Werden
wir in einem Krieg zerstört werden, bevor wir unsere Freiheit an die
inszenierte ›Covid-Pandemie‹ des Establishments verlieren?
Einen
Tag vor Diekmanns Artikel hatte der auf christlichem Fundament stehende US-Blog
›The Saker‹unter dem Titel ›Warum
hat Russland so viele Streitkräfte gegen die NATO eingesetzt?‹ nach Antworten gesucht. Da ist
zunächst der Blick auf die geografische Situation von elementarer Bedeutung. Russland
ist in fünf Militärbezirke eingeteilt
und Moskau liegt im westlichen Militärdistrikt, gerade einmal 800 km von Kiew
entfernt. Während des ›Ersten Kalten
Krieges‹ war die NATO knapp 2.300 km
(Amberg-Moskau) entfernt, und die 2. strategische
Staffel stand in der Ukraine und sicherte Moskau. Heutzutage wird die gesamte
Ukraine de facto von der NATO kontrolliert. Weniger als 200 km südlich von
Sankt Petersburg stehen NATO-Truppen (also bei einer Stadt, die an die 900 Tage
von der deutschen Wehrmacht eingekesselt war, mit dem Ziel, die Einwohner dem
Verhungern preiszugeben; rund eine Million Zivilisten starben im Kessel von Leningrad). Da ist es nicht
überraschend, dass Russland seine berühmte 1. Garde-Panzerarmee als
strategische Reserve für den westlichen Militärbezirk reaktiviert hat.
Der Abstand zwischen Moskau und dem potentiellen Feind
beträgt nur wenige 100 km. Da werden sich viele Russen an die leidvolle
russische Geschichte mit den drei aus dem Westen kommenden Angriffswalzen
erinnern: Da ist zunächst einmal der Polnisch/Litauisch-Russische
Krieg (1609–1618) unter der Führung des
polnischen Königs Sigismund III., mit dem Ziel, die Krone Russlands
für sich zu sichern. Das polnische Heer besetzte 1610 Moskau und konnte erst
zwei Jahre später vertrieben werden. 1618 endete der Krieg und Russland mußte
Polen-Litauen territoriale Zugeständnisse machen, wodurch letzteres seine
größte territoriale Ausbreitung erreichte. Im Russlandfeldzug Napoleons vom 24.
Juni 1812 bis 14. Dezember 1812 standen dessen Truppen nur kurzfristig in
Moskau, und Hitlers Russlandfeldzug vom 22. Juni 1941- 9. Mai 1945 blieb
schon im Winter 1941 vor Moskau stecken. Vergessen sind in Russland auch nicht die Kriege, die vom neuerstandenen
Polen unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs geführt wurden. [10] Unvergessen
bleibt vor allem der Polnisch-Sowjetische Krieg (1919 bis 1921). Das nach dem
Ersten Weltkrieg wiedererrichtete Polen
führte unter Ausnutzung des Bürgerkriegs in Russland einen Angriff nach Osten,
um den historischen Grenzverlauf von 1772 wieder herzustellen und eine osteuropäische Konföderation
unter polnischer Führung zu schaffen: Pilsudkis Zwischenmeer/Inter Marum (mit
gleicher Intention heute wieder von den USA favorisiert.
Seit Mitte
1945 versucht das westliche Imperium USA/UK Russland/Sowjetunion zum Krieg zu provozieren.
[11] Nach der Auflösung des Warschauer ›Pakts‹ und der Sowjetunion 1991 nahmen die
Kriegsvorbereitungen gegen Russland Fahrt auf; seit dem vom Westen
orchestrierten Putsch in der Ukraine haben sie sich dramatisch beschleunigt.
Die NATO hat sich stetig an Russland herangeschoben und nichts unterlassen, um
Russland zu schädigen (siehe North-Stream 2). Die Provokationen gegen Russland
sind kaum noch zu zählen. Der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu hat
soeben berichtet, dass die USAF im November zehn strategische Bomber aus
östlicher und westlicher Richtung eingesetzt hat, um Nuklearangriffe auf
Russland zu proben, und dass sie ihren Kurs nur 20 km vom russischen Luftraum
entfernt geändert haben.
Schoigu
berichtete vor wenigen Tagen, dass im November bei den Übungen der strategischen
Streitkräfte der USA unter dem Titel ›Global
Thunder‹ zehn strategische Bomber
die Option des Einsatzes von Atomwaffen gegen Russland fast gleichzeitig aus
westlicher und östlicher Richtung geübt hätten. Dabei betonte er, dass die
Mindestentfernung von der russischen Staatsgrenze 20 km betragen habe.
Insgesamt habe es in den letzten Wochen »etwa 30 Flüge zu den Grenzen der Russischen
Föderation« gegeben, das sei zweieinhalbmal soviel wie im entsprechenden Zeitraum
des Vorjahres. [12]
Während die
USA niemals von ihren Nachbarn angegriffen worden sind, dafür aber selbst Mexiko und Kanada angegriffen
haben, stand der Feind nur einmal vor der Haustür. Das war 1812 nach der Kriegserklärung
an Großbritannien. [13]
Da blickt Russland auf eine ganz andere Geschichte zurück, eine
Geschichte, die respektiert werden sollte. Nach allem, was vom Westen aus gegen
Russland unternommen wurde, kann niemand annehmen, dass die Russen den westlichen
Führern auch nur ein Wort glauben werden. Eines dürfte sicher sein: Sie
werden keinen vierten Überraschungsangriff zulassen. Vielleicht blufft
ja auch der Westen nur und setzt auf einen Regime-Change. Er hat schließlich Russland
nicht angegriffen, als es am schwächsten war. Steht vielleicht alles im Dienst
des Militärisch-Industriellen Komplexes? Wie dem auch sei, man muß davon
ausgehen, dass die NATO als Prätorianergarde der westlichen Plutokraten ihre
Offensivpläne gegen Russland nicht aufgeben wird. Und die westlichen Geostrategen
haben das Axiom des Geographen Halford Mackinder und seine Warnungen über die
Bedeutung von Euro-Asien nicht vergessen: Wer über das Herzland herrscht,
beherrscht Eurasien und wer über Eurasien herrscht, beherrscht die ganze Welt.
Der Einfluß
eines zusammenbrechenden westlichen Finanzsystems auf die vermeintlichen
geopolitischen Sachzwänge ist kaum vorstellbar. Auch kann nicht ausgeschlossen
werden, dass sich der Konflikt verselbständigt und der kriegsauslösende Impuls
von Polen und von der Ukraine ausgeht. Vor allem, wenn entsprechende
Rückendeckung kommt. Am 25. November hat Bundeskanzlerin Merkel Polens
Ministerpräsidenten Morawiecki Unterstützung zugesagt und sich angesichts der
Flüchtlingskrise an der polnisch-belarusischen Grenze demonstrativ auf die
Seite Polens gestellt. Belarus habe Migranten mit ›einer hybriden Attacke‹
ins Land gelockt, und wolle eine ›Destabilisierung
der ganzen Europäischen Union‹ herbeiführen, so Merkel. [14] Um die 2000 Migranten sollen die Europäische
Union destabilisieren - und die fast zwei Millionen von Merkel 2015
eingeschleusten Migranten nicht? Mit Blick auf den Charakter der Krise verstieg
sich Merkel zu der Feststellung, dass sie und Morawiecki die gleiche Meinung
haben. Wie das? Merkel öffnete damals die Grenzen, und Morawiecki ließ nun zum
Schutz Polens Militär auffahren. Ein Fall von kognitiver Dissonanz?
Dank Merkel ist auch der Schutz der Ukraine
dank der gemeinsamen deutsch-amerikanischen Erklärung zur Unterstützung der Ukraine
vom 21. Juli 2021 garantiert. [15] In dieser Erklärung unterstützen die Vereinigten
Staaten und Deutschland mit Nachdruck die Souveränität der Ukraine, deren
territoriale Unversehrtheit, Unabhängigkeit und den von ihr eingeschlagenen
europäischen Weg. Dreimal wird in der Erklärung das Bekenntnis abgegeben, «gegen
russische Aggression und russische destruktive Aktivitäten» in der Ukraine und
darüber hinaus vorzugehen und Russland zur Rechenschaft zu ziehen. Außerdem
betonen die USA und Deutschland ihre nachdrückliche Unterstützung der ›Drei-Meere-Initiative‹ und ihrer Bemühungen zur Stärkung der
Konnektivität von Infrastrukturen und der Energiesicherheit in Mittel- und
Osteuropa. Deutschland sagt zu, seine Zusammenarbeit mit dieser Initiative auch
im Hinblick auf die finanzielle Unterstützung von Vorhaben in den Bereichen
regionale Energiesicherheit und
erneuerbare Energien auszuweiten.
Die ›Drei-Meere-Initiative‹ besteht aus 12 mittel- und
ostmitteleuropäischen Staaten der Europäischen Union vom Baltikum bis Kroatien
und Bulgarien. Sie wurde nach dem Ersten Weltkrieg von Polen vom polnischen
Diktator Josef Pilsudski als ›Zwischenmeer‹ angedacht, als ein polnisches Einflußgebiet,
welches von der Ostsee bis hin zum Schwarzen Meer reichen sollte, wie einst zur
Zeit des polnisch-litauischen Großreichs. So werden wohl wieder einmal die
Großreichsträume einiger Nationalisten für das Schüren des Kriegsfeuers genutzt.....
[1]
https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/krisen/id_91198490/die-nerven-liegen-blank-plant-putin-einen-angriff-auf-die-ukraine-.html
[2]
Ebenda
[3]
Scott Peterson: In war, some facts less
factual - September 6, 2002
https://www.csmonitor.com/2002/0906/p01s02-wosc.html
[4]
Link Original:
https://www.president.gov.ua/documents/1172021-37533; keine englische
Übersetzung auf offizieller Seite verfügbar
[5]
https://www.congress.gov/bill/113th-congress/house-resolution/758/titles
[6]
http://www.ronpaulinstitute.org/archives/featured-articles/2014/december/04/reckless-congress-declares-war-on-russia/
Ronald Ernest Ron Paul (*1935) ist US-amerikanischer Arzt und Politiker und
Mitglied der Republikanischen Partei; er war zwischen 1976 und 2013 (mit
Unterbrechungen) Abgeordneter im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten. Er war ferner bei der US-Präsidentschaftswahl 1988 Kandidat
der ›Libertarian Party‹ und Bewerber um die republikanische Kandidatur für die
Präsidentschaftswahl 2008 und 2012
[7]
Michel Chossudovsky: «Amerika auf dem ›Kriegspfad‹: Repräsentantenhaus ebnet Krieg mit Russland den Weg» vom 16. 12.
2014 unter http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/geostrategie/prof-michel-chossudovsky/amerika-auf-demkriegspfad-
repraesentantenhaus-ebnet-krieg-mit-russland-den-weg.html
[8]
Ebenda
[9]
Paul Craig Roberts: »Russia Has
Western Enemies, Not Partners« vom 5. Dezember 2014,
unter http://www.paulcraigroberts.org/2014/12/05/russia-western-enemies-partners-paul-craig-roberts/
[10] Der Polnisch-Tschechoslowakische Grenzkrieg
(23. bis 30. Januar 1919), der polnisch-ukrainische Krieg (1918 und 1919), der
Polnisch-Litauischen Krieg mit der Eroberung von Gebieten um die litauische
Hauptstadt Vilnius (Oktober 1920), dann von 1919 bis 1921 Kämpfe in
Oberschlesien
[11] 1. Juli 1945 geplante Operation ›Unthinkable‹: Britischer Angriff gegen die Sowjetunion; Oktober 1945 geplante
US-Operation ›Totality‹: Atomarer Angriff auf die 20 größten
Industriestädte; 1949 Kriegsplan ›Dropshot‹: Umfassender Angriff auf die
Sowjetunion im Jahr 1957 .....
[12]
https://de.rt.com/international/127534-russischer-verteidigungsminister-usa-uebten-einsatz-von-atomwaffen-gegen-russland/
[13] am 18.
Juni 1812 während der napoleonischen Kontinentalsperre
[14]
Merkel
sichert Polen ›volle Solidarität‹ zu
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/merkel-polen-belarus-101.html
Stand: 25. 11. 2021
[15] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/gemeinsame-erklaerung-usa-und-deutschland/2472074
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