Afghanistan - Invasion gescheitert 09.05.2021 20:02
d.a. Der 2001 von der USA und ihren NATO-Verbündeten in Afghanistan begonnene Krieg,
mitunter verharmlosend auch nur als »Militäroperation« bezeichnet, findet sein Ende. Einige der den US- resp. NATO-Angriffen des öfteren zugeteilte Namen kann man lediglich unter dem Aspekt eines unverhohlenen Zynismus betrachten, so auch die dem Einfall in Afghanistan verliehene Bezeichnung »Enduring Freedom«, da bei genauer Verfolgung der dort zum Einsatz gelangten Strategien von Anfang an ersichtlich gewesen sein musste, dass diese keinen Frieden schaffen würden. Im vergangenen Jahr hatten die
USA und die Taliban erstmals seit mehr als 18 Jahren ein Abkommen unterzeichnet,
das den Abzug der fremden Truppen im Verlauf dieses Monats festlegte. Gegenwärtig
halten sich in Afghanistan knapp 10.000 Soldaten der NATO und der Partnerländer
der Allianz auf, darunter 2.500 US-Militärs; die Hauptaufgabe - wird erklärt - besteht in der Ausbildung afghanischer
Sicherheitskräfte.
Dem ›Wall Street Journal‹ zufolge, dies unter Berufung auf Offizielle, drängen jedoch die US-Verbündeten
in Europa, darunter auch Deutschland, inzwischen darauf, dass die USA ihren
Truppenabzug aus Afghanistan verschieben und den anderen Teilnehmern des NATO-Einsatzes
so mehr Zeit und Unterstützung für ihren eigenen Rückzug aus dem Land geben. Es
wird darauf verwiesen, dass Washington seinen Koalitionspartnern für die Zeit
ihres Truppenabzugs materielle und technische Unterstützung zugesagt hat. Einige
der Verbündeten haben erklärt, dass sie es nicht rechtzeitig schaffen würden,
Afghanistan zu verlassen, so dass sie darum baten, dass auch nach dem 4. Juli
US-Soldaten in Afghanistan verbleiben. Wie es heisst, besteht ein weiteres Problem
offenbar darin, dass die Türkei, die seit Jahren die Sicherheit am Flughafen
von Kabul gewährleistet hat, die NATO
wissen liess, dass sie ihre Truppen ebenfalls abziehen könnte. Der mögliche
Abzug letzterer Kräfte könnte einige westliche Länder dazu bewegen, ihre Pläne
zum Verbleib ihrer reduzierten diplomatischen Kontingente im Land zu
revidieren. [1]
Wie der Bericht von ›German Foreign Policy‹ darlegt [2], ist der erste große
Militäreinsatz der Bundeswehr außerhalb Europas komplett gescheitert. Zum
Schutz ihres Abzugs mußte jetzt eigens noch ein Mörserzug, eine Panzerabwehr-
und Feuerunterstützungskompanie, an den Hindukusch geflogen werden. Zuvor hatte
die Biden-Administration ihre Verbündeten mit einem neuen Alleingang bei der
Entscheidung über die Beendigung des Einsatzes düpiert. Seit Ende April gilt
die Zusage der Taliban, dem Westen erstmals in der Geschichte des Landes freies
Geleit einzuräumen, nicht länger; auch ihre Zusage, die westlichen Militärbasen
vor Angriffen anderer afghanischer Milizen zu schützen, ist abgelaufen.
Dem Abzugsbeginn waren erhebliche transatlantische
Verstimmungen vorausgegangen. Präsident Trump hatte die verbündeten westlichen
Mächte bereits vor den Kopf gestoßen, als er nach dem Abschluß des Abkommens vom
29. Februar 2020 zwischen den USA und
den Taliban immer wieder Truppen im Alleingang reduzierte, so dass speziell die
Staaten Westeuropas nach dem Amtsantritt Biden auf einen Kurswechsel in
Washington gehofft hatten. Biden hat den
Abzug dann tatsächlich zunächst gestoppt und angekündigt, diesen einer
sorgfältigen ›Revision‹ unterziehen zu wollen. Das war als Einwilligung in die Forderungen der
meisten anderen NATO-Staaten, den Taliban vor dem endgültigen Abzug noch so
viele Zugeständnisse wie möglich abzuverlangen, verstanden worden. Auch NATO-Generalsekretär
Jens Stoltenberg hatte nach Bidens ›Revisions‹-Ankündigung wiederholt betont, das Kriegsbündnis werde seine militärische
Präsenz am Hindukusch nur beenden, sofern die Taliban gestellte Bedingungen
erfüllten, während Außenminister Maas im März geäußert hatte, dass man sich ›in der Sache einig sei, dass
wir einen 'condition-based‹ Abzug wollen‹; die europäischen NATO-Staaten schienen sich damit durchgesetzt zu
haben.
Von Bedingungen dieser Art nahm die Biden-Administration
jedoch Mitte April in einem neuen Kurswechsel Abstand, ohne die verbündeten
Staaten vorab auch nur zu konsultieren, was nicht nur in Deutschland, sondern
auch in anderen EU-Staaten und in der NATO zu weiteren Spannungen führte; die
Bundeswehr sah sich ebenfalls in Nöte gestürzt: Sie hatte für ihren Abzug
ursprünglich drei Monate veranschlagt, muß nun aber um einiges schneller
vorgehen, da die Vereinigten Staaten ihren eigenen Abzug schon am 4. Juli,
ihrem Unabhängigkeitstag, abschließen wollen.
Wie ›GFP‹ weiter
schreibt, ist nicht klar, ob
es der Bundeswehr bis dahin gelingt, ihr gesamtes Material aus Afghanistan
abzutransportieren, da womöglich zu wenig Transportflugzeuge zur Verfügung
stehen. Die einst verfügbare Option, Militärmaterial auf dem Schienenweg über
russisches Territorium aus dem Land zu bringen, steht heute wegen der Eskalation
des Machtkampfs gegen Russland nicht mehr zur Verfügung. Sollte nicht genügend
Zeit für den Abtransport verbleiben, müssen Teile des Materials möglicherweise
vor Ort zerstört werden, um es nicht den Taliban oder anderen feindlichen Milizen
in die Hände fallen zu lassen.
Nach dem Scheitern aller hochfliegenden Pläne befindet sich Afghanistan,
was die Lage der Bevölkerung, die Gewalt und die politischen Perspektiven
angeht, in einem desolaten Zustand, der auch die deutsche Präsenz am Hindukusch
prägt.
Die Arbeit des deutschen Generalkonsulats in Masar-i-Sharif, die seit
einem Anschlag im Jahr 2016 nur noch innerhalb des nahe der Stadt
eingerichteten deutschen Militärlagers weitergeführt worden war, wird nach dem
Abzug der deutschen Truppen eingestellt. Die deutsche Botschaft in Kabul war
schon 2017 bei einem Anschlag zerstört worden, so dass der Botschafter und sein
Stab in Containern auf dem Gelände der stark gesicherten US-Botschaft arbeiten.
Als Maas Ende April nach Afghanistan reiste, um mit der dortigen Regierung über
den bevorstehenden Abzug zu sprechen, wurde er mit einem explizit gegen
Raketenbeschuß gesicherten Transportflugzeug A400M nach Kabul sowie vom
dortigen Flughafen mit einem US-Hubschrauber zu den hochgesicherten
Regierungsgebäuden geflogen. Die afghanische Hauptstadt mit gepanzerten
Fahrzeugen zu durchqueren, gilt schon lange als viel zu gefährlich.
Das US-Abkommen vom 29. 2. 2020 sah den 30. April
als endgültiges Abzugsdatum für die westlichen Truppen vor; es herrscht nun die
Befürchtung, dass die Taliban jetzt zu Attacken auch auf deutsche Soldaten und
das Militärlager in Mazar-i-Sharif übergehen könnten. Dass es seit der
Unterzeichnung des US-Abkommens mit den Taliban nicht mehr zu gravierenden
Angriffen auf westliche Militärlager kam, liegt laut Berichten an einem geheimen
Anhang zu dieser Vereinbarung: Demnach haben die Taliban nicht nur zugesichert,
keine westlichen Truppen mehr zu bekämpfen, sondern nur noch einheimische
Ziele; sie haben ferner zugesagt, westliche Militärlager vor Überfällen anderer
Milizen zu schützen, so etwa des afghanischen Ablegers des IS: Die Rede ist von
einem Taliban-Schutzring. Auch diese Zusicherung ist jetzt allerdings
hinfällig. Stattdessen haben die Taliban, wie berichtet wird, begonnen, die
westlichen Stützpunkte locker einzukreisen. Ob sie noch vor dem Abzug angreifen
oder nur danach die geräumten Militärbasen übernehmen wollen, ist nicht klar.
Es steht zu befürchten, dass die
Taliban, die schon jetzt mehr als die Hälfte Afghanistans kontrollieren, nach den Rückzug der USA zunehmend die Macht im Land übernehmen. Fakt bleibt, dass der 20-jährige
Krieg am Hindukusch, der über eine halbe Million Tote verursacht hat [3], Afghanistan
in einem katastrophalen Zustand zurücklässt. So bestehen in dem Land weiterhin Korruption,
Drogenhandel und die Diskriminierung von Frauen. Die Wahnsinnskosten, die dieser
Krieg dem Steuerzahler aufgebürdet hat, sie werden derzeit mit 1 Billion $ beziffert, dürften
in ihrer aktuellen Gesamtheit noch weitaus höher und im Endeffekt gar nicht
mehr nachzurechnen sein, haben doch allein die zahlreichen Geberkonferenzen
Milliarden verschlungen.
Es müsse beim Neuaufbau nach dem militärischen Sieg
über die Taliban darum gehen, den tragischen Konflikt in Afghanistan zu beenden
und die nationale Aussöhnung, einen dauerhaften Frieden, Stabilität und die
Achtung der Menschenrechte im Lande zu fördern, hatte es im Petersberger
Abkommen vom 5. 12. 2001, das Afghanistans Übergang zu einer Demokratie nach
westlichem Vorbild regeln sollte, geheissen. Dementsprechend hatte Berlin von
Beginn an eine führende deutsche Rolle bei Afghanistans bevorstehendem
Wiederaufbau im Visier gehabt.
Während weithin Konsens über das Scheitern des
20-jährigen NATO-Kriegs am Hindukusch herrscht, findet die deutsche Verteidigungsministerin
lobende Worte. »Wir verlassen Afghanistan mit Stolz«, erklärt Annegret Kramp-Karrenbauer:
»Wir haben alle Aufträge erfüllt, die uns vom Parlament gegeben wurden«. [2]
Da
bleibt man sprachlos zurück ......
Das in der Presse immerhin breit bekannt gemachte brutale
Attentat vom Samstag, 8. Mai auf eine Schule, das sich nur 2 Tage nach dem Beginn
des Abzugs der restlichen US-Soldaten ereignet hat, könnte zu der Annahme
führen, dass die afghanische Regierung unter Umständen mit weiteren Taliban-Attentätern
konfrontiert wird, sobald der Abzug der US-Truppen abgeschlossen ist. Die
Explosion erfolgte, als die Schüler, in ihrer Mehrzahl Mädchen, die Schule
verliessen; 58 Schüler wurden getötet, Dutzende verletzt. Vor einem Jahr erfolgte
fast zur selben Zeit, nämlich am 13. Mai 2020, ein Angriff auf die Station für
Mütter im Krankenhaus von Kabul, der 24 Frauen, Kinder und Babys das Leben
kostete. [4]
Wie
sich die Entwicklung des Landes gestaltet, lässt sich nicht abschätzen; sie
bleibt abzuwarten, zumal sich Afghanistan schwerlich erneut unter den Einfluss
des Westens begeben wird.
[1] https://snanews.de/20210508/wsj-partner-usa-verschiebung-truppenabzug-afghanistan-2013211.html 8. 5. 21 [2] https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8588/
4. 5. 21
[3] https://www.infosperber.ch/politik/welt/nato-krieg-in-afghanistan-forderte-ueber-eine-halbe-million-tote/ 26.04.2021 Urs P. Gasche
[4] https://www.bbc.com/news/world-asia-53059022 16.. 6. 2020
MSF
Afghan maternity ward to close after deadly gun attack
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