Die NATO und der Geburtstag, auf den man lieber verzichtet hätte - Von Pierre Lévy 07.04.2019 21:42
Es gibt Geburtstage, auf die wir gerne verzichten würden.
Aber es mußte geschehen: 28 Minister waren am 4.
April, also auf den Tag genau 70 Jahre nach der Unterzeichnung des
Gründungsaktes der Nordatlantischen Allianz, nach Washington gekommen, um zu
schlemmen.
Denn die NATO verschwand 1991, als der von
der UdSSR und den sozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas 1955 gegründete
Warschauer Vertrag aufgelöst worden war, nicht. Nach Angaben des
Westens sollte die NATO lediglich der vermeintlichen
Bedrohung durch die Sowjets und ihren Verbündeten entgegenwirken. Indessen
wurde fast drei Jahrzehnte nach der Auflösung der UdSSR noch kein Geheimplan
für die Invasion der Sowjetarmee in Westeuropa gefunden. Aber wer weiß: Wenn
Wladimir Putin zufällig ein solches Zauberbuch vor sich hätte und davon
träumte, es in die Tat umzusetzen? Heutzutage fühlen sich einige Menschen in
Polen und den baltischen Staaten von Rußland bedroht. Man kann nie vorsichtig
genug sein.
Übrigens hat der ehemalige georgische
Präsident Michael Saakaschwili erst kürzlich in einem Artikel angekündigt, dass
der Kreml im Begriff ist, Schweden oder Finnland anzugreifen.
Im Ernst: Die NATO besteht nicht nur fort, sie ist
seit der Auflösung des Ostblocks deutlich stärker geworden, zum Beispiel seit
dem NATO-Gipfel in Wales 2014. Damals haben die Führer der Allianz sowohl die
Einrichtung einer gemeinsamen ›Task
Force‹,
die in ›wenigen
Tagen‹
eingesetzt werden kann, als auch eine drastische Erhöhung der nationalen
Militärausgaben beschlossen. Und von 1999 bis 2004 war die Organisation bereits
um nicht weniger als 10 zusätzliche Länder erweitert worden (ganz zu schweigen
von der Annexion der DDR durch die BRD…… ein prominentes Mitglied der NATO).
Dann, ab den 2000er Jahren, verbreiteten
die Soldaten der Allianz ›die
Demokratie‹
in Afghanistan, im Irak, in Somalia, in Libyen ...
Nebenbei hatte Präsident Nicolas Sarkozy 2008
beschlossen, Frankreich wieder in den integrierten Führungsstab der NATO, den
Charles de Gaulle 1966 donnernd verlassen hatte, einzubinden. Und - wie sein Amtsvorgänger François Hollande - denkt Emmanuel Macron nicht einen Moment lang
daran, umzukehren. Im Jahr 2009 kamen dann noch Kroatien und Albanien hinzu; das
jüngste Mitglied ist Montenegro (2017).
Dies unterstreicht das Ausmaß, in dem die
Balkanregion - seit Jahrhunderten
sensibel und explosiv - vom Westen als
Einflußbereich begehrt wird. Es stimmt, dass diese Region 1993, 1995, 1996 und
1997 Ziel der ersten Angriffe der transatlantischen Streitkräfte war, in diesem
Fall in Bosnien-Herzegowina. Dann kam 1999 die Bombardierung Serbiens, die
erhebliche menschliche und wirtschaftliche Schäden verursachte. Eine besondere
Art der NATO, ihren 50. Geburtstag zu feiern. 20 Jahre später haben sich die
meisten Balkanländer dem Club angeschlossen. Auch Mazedonien ist nun auf Kurs.
Über zwei Jahrzehnte hinweg blockierte ein Namensstreit zwischen diesem Land
und Griechenland dessen NATO-Beitritt. Die westlichen Führer haben unermüdlich
gearbeitet, um das Veto Athens gegen diese Aussicht aufzuheben. Ihre Bemühungen
waren letztendlich nicht umsonst. Im Juni 2018 unterzeichneten der mazedonische
Premierminister, der Sozialdemokrat Zoran Zaev, und sein griechischer
Amtskollege Alexis Tsipras, lustigerweise immer noch als ›radikaler Linker‹ bezeichnet, ein Abkommen, durch
das Mazedonien offiziell zu Nordmazedonien wurde. Damit wurde der Weg für den
Beitritt zur NATO frei. Die transatlantischen Führer haben sich offenkundig
über dieses glückliche Ereignis gefreut.
Manche EU-Abgeordnete, die nie zögern,
wenn es darum geht, sich der Mainstream-Ordnung zu unterwerfen, schlugen dann
vor, den beiden Regierungschefs den Friedensnobelpreis zu verleihen. Es ist
natürlich ein außerordentlicher Beitrag zum Weltfrieden, wenn der militärische
Arm der Nordatlantischen Allianz so gestärkt wird. Dies wenigstens ist die
Botschaft, die die Vorsitzenden der ›linken‹ Fraktionen - Sozialdemokraten, Einheitslinke, Grüne - im Europaparlament aussprechen wollten, als
sie sich zusammengeschlossen hatten, um den Vorschlag zu unterstützen.
Nur eines ist unklar: Warum haben sie
nicht bis zum 1. April gewartet, um diese merkwürdige Initiative zu verkünden? [1]
Bis 2014, schreibt der Journalist Zlatko
Percinic, hatte niemand gewagt, Rußland öffentlich als Feind zu bezeichnen.
Doch der damalige NATO-Vizegeneralsekretär Alexander Russel Vershbow setzte am
1. Mai 2014 ein klares Zeichen, als er sagte, dass man Rußland von nun an
»nicht mehr als Partner, sondern als Gegner« betrachte.
Obwohl sich dieses Bild in den vergangen
fünf Jahren weiter verfestigt hat, sorgt ausgerechnet das mit Abstand
wichtigste Mitgliedsland für Furore. US-Präsident Donald Trump bezeichnete die
NATO während seines Wahlkampfs als ›obsolet‹ und hatte im vergangenen Jahr
Möglichkeiten ausloten lassen, wie sich die USA aus dem Militärbündnis
zurückziehen könnten. Als Hauptgründe sind die finanzielle Belastung sowie die
Weigerung Deutschlands, den Forderungen nach einer massiven Erhöhung der
Rüstungsausgaben nachzukommen, genannt worden. NATO-Generalsekretär Jens
Stoltenberg bleibt indessen nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen
Spiel zu machen. Er will keinerlei existentielle Probleme beim Militärbündnis
erkennen.
Und obwohl es nun so gekommen ist, wie es
viele Kritiker in den 1990er Jahren befürchtet hatten, als sie vor einer
Osterweiterung bzw. einer generellen Erweiterung der Allianz warnten, weil es
sie irgendwann zerreißen würde, wird nun die Forderung immer lauter, dass sich
die NATO auch um die ›Herausforderung‹ China kümmern müsse. Schon im
Fall Rußland hat sich gezeigt, dass längst nicht alle Mitgliedsländer den schon
fast militanten anti-russischen Kurs der Briten, Polen und der baltischen
Staaten fahren möchten. Bei China wird es noch
ungemein schwerer werden, eine konfrontativere Haltung einzunehmen, da die
meisten Länder außerordentlich tiefgreifende wirtschaftliche Beziehungen mit
Peking eingegangen sind; solch ein Vorstoß könnte zu noch größeren Spannungen
innerhalb der NATO führen, die vielleicht sogar irreversible Risse hinterlassen
könnten.
In den ersten 40 Jahren ihres Bestehens
hatte die transatlantische Allianz viel mehr Grund zu feiern, als weitere 30
Jahre später. Und niemand kann sagen, wie die Feiern in zehn oder zwanzig
Jahren aussehen werden, sollte das Militärbündnis so wie in den vergangen drei
Jahrzehnten weitermachen. [2]
Was die Verteidigungsausgaben angeht, so
hat Stoltenberg Donald Trump dafür gelobt, die Mitgliedsstaaten zu höheren
Verteidigungsausgaben gedrängt zu haben. Trumps Botschaft habe bereits ›klare Auswirkungen‹ und ›stärke‹ die NATO, erklärte er. In seiner Rede
vom 3. April vor dem US-Kongreß
zum 70. Jahrestag der Gründung des westlichen Militärbündnisses verwies Stoltenberg auf die Vorteile, die die USA von ihren
Verbündeten hätten. So habe die NATO nach den Terrorangriffen vom 11. September
2001 den Bündnisfall erklärt: »Unsere Allianz hat nicht 70 Jahre aus Rührseligkeit oder Sehnsucht nach der
Vergangenheit überstanden«, vielmehr sei
sie im nationalen Interesse jedes einzelnen Mitgliedslandes. Zwar warnte er vor
einem ›neuen Wettrüsten‹ mit Rußland, führte jedoch aus,
dass die NATO vor globalen Herausforderungen stehe. Zu diesen gehöre ein anmaßendes Auftreten Rußlands,
das schon vor 70 Jahren der Hauptgrund
für die NATO-Gründung gewesen sei. Allerdings will die NATO seinen Worten zufolge
keinen neuen Kalten Krieg mit Rußland und kein neues Wettrüsten. Die NATO dürfe jedoch
gegenüber Rußland
nicht ›naiv‹ sein.
Ferner müßten sich die 29
NATO-Staaten etwa auf das drohende Ende des INF-Abrüstungsvertrags zwischen Rußland
und den USA vorbereiten. Wie er darlegte, »wollen wir Rußland nicht
isolieren. Wir streben ein besseres Verhältnis zu Rußland an, aber
auch wenn dies nicht gelinge, müsse die NATO versuchen, mit einer ›schwierigen‹ Beziehung zurechtzukommen«. Stoltenberg warf Rußland in seiner
Rede erneut eine Verletzung des INF-Vertrags vor. Die NATO werde daher die »erforderlichen Maßnahmen« für eine »glaubwürdige und wirksame Abschreckung« ergreifen, sagte er. [3]
»Die NATO«, so Thomas Wiegold, der über
Verteidigungs- und Sicherheitspolitik , über die Bundeswehr, ihre Struktur,
ihre Technik und ihre Einsätze, schreibt, »die vermutlich größte wie auch langlebigste
Militärallianz der Geschichte, feiert ihren 70. Geburtstag – und die Fête wird
von Zoff überschattet«.
Zu diesem zählt neben dem Streit um die
deutschen Verteidigungsausgaben »der Streit zwischen dem
größten Mitglied USA und der teilweise ganz pragmatisch nach Rußland
orientierten Türkei. So erging von Seiten der USA eine deutliche Warnung an die
Türkei, die deren Kauf und geplante Nutzung des russischen Flugabwehrsystems
S-400 betrifft. Hierzu die Aussage des türkischen Außenministers: »Das russische System werde nicht in die
NATO-Systeme integriert, was faktisch einen Ausstieg aus der integrierten
Luftverteidigung der Allianz bedeuten würde«.
»Aber auch das ist eher
ein Randthema gegenüber der Frage: Worauf, auf welche Bedrohungen und auf welche
Aufgaben, stellt sich die 70-jährige NATO ein? In den ersten Jahrzehnten ihres
Bestehens richtete die Allianz ihr Augenmerk auf Rußland, dann
zwanzig Jahre lang auf die sogenannte ›out
of area‹-Krisenbewältigung
außerhalb des NATO-Gebiets. Und seit 2014 wieder verstärkt auf Rußland.
Aber nun zeichnet sich ein ganz anderer Schwerpunkt ab, und den sehen nicht nur
die USA«. Wie schon erwähnt,
geht es hier um China.
»China als
Herausforderung auch für die NATO«,
führt Wiegold des weiteren aus, »haben
auch Experten in Europa im Blick, wie der Präsident der Bundesakademie für
Sicherheitspolitik, Karl-Heinz Kamp: ›Langfristig
sieht sich die NATO allerdings einem existentiellen Problem gegenüber, das
weder in den aktuellen transatlantischen Spannungen, noch in der
Sprunghaftigkeit von Präsident Donald Trump begründet ist. Es erwächst
stattdessen aus den grundlegenden geostrategischen Veränderungen der kommenden
Jahre. Mit einer stetig zunehmenden Rolle Chinas bei einer gleichzeitig
abnehmenden Bedeutung Rußlands
[was mitnichten als eintreffend zu erwarten ist; Anm. Red.] werden sich die USA weit stärker als
bisher dem asiatisch-pazifischen Raum zuwenden und Europa trotz aller
Treueschwüre eher hintenan stellen. Will die NATO nicht einen großen Teil
ihrer Existenzberechtigung verlieren, wird sie ihre geografische Orientierung
ebenfalls deutlich ändern und ausweiten müssen. …… Folgt man dem Gedankengang
eines neuen chinesisch-amerikanischen Bilateralismus, dann wird die NATO ihre
Relevanz für die USA nur erhalten können, wenn sie langfristig einen
signifikanten Beitrag zur Einhegung chinesischer Machtansprüche
leistet. Eine solche NATO, die zu verhindern hilft, dass die liberale westliche
Weltordnung durch eine chinesische Variante ersetzt wird, wäre nicht nur für
die USA hilfreich, sondern auch für Europa selbst‹. [4]
Thomas Wiegold abschliessend: »Oder, um es auf eine journalistische
Formulierung zu bringen: »For NATO, China is the new Russia«. [5]
d.a.
Was immer die Art der Formulierung sein mag, nichts tönt
hier nach Frieden, geschweige denn nach Verstand......
[1]
https://deutsch.rt.com/meinung/86856-die-nato-und-der-geburtstag-auf-den-man-lieber-verzichtet-haette/
7. 4. 19 Die NATO und der Geburtstag,
auf den man lieber verzichtet hätte - Von Pierre Lévy, Paris
[2]
https://deutsch.rt.com/meinung/86778-70-jahre-nato-kein-grund-zu-feiern/ 4. 4. 19
70 Jahre NATO: Kein Grund zum Feiern – Von Zlatko Percinic
[3]
https://www.welt.de/politik/ausland/article191322641/Nato-Generalsekretaer-Stoltenberg-warnt-vor-Russland-Wollen-keinen-neuen-kalten-Krieg.html 3. 4. 19
Stoltenberg warnt vor Russland – »Wollen keinen
neuen kalten Krieg«
[4]
Zitiert mit freundlicher Genehmigung aus dem Vorab-Text für die Ausgabe
1/2019 der Zeitschrift Sirius
[5]
https://augengeradeaus.net/2019/04/nato-70-geburtstagszoff-vernebelt-blick-nach-vorne/ 4. 4. 19
T. Wiegold NATO @ 70: Geburtstagszoff vernebelt Blick
nach vorne sowie https://www.politico.eu/article/for-nato-china-is-the-new-russia/ For NATO, China is the new Russia
|