Konstruierte Gegensätze - Von Olivier Kessler 16.02.2015 01:28
Zuwanderungsbeschränkung und bilaterale Verträge - Wie auch schon im Abstimmungskampf
zur Masseneinwanderungs-Initiative schüren die Gegner und die meisten Medien nun auch nach Bekanntgabe der Umsetzungsvorschläge des Bundesrates Ängste: Sie warnen vor dem Ende der »bilateralen Verträge« mit der EU, sollte die Initiative wortgetreu umgesetzt werden. Diese Befürchtungen sind eine haltlose Panikmache, um den Volksentscheid rückgängig zu machen. »Clever gemacht, Bundesrat«, frohlockte die »Nordwestschweiz« nach der Bekanntgabe des Umsetzungsvorschlags zu der vom Volk und den Ständen angenommenen Initiative zur Begrenzung der Masseneinwanderung. Es sei richtig, jetzt einmal zu schauen, was sich herausholen lässt. Da
aber wohl »nichts herauszuholen« sei, müsse das Volk
wahrscheinlich nochmals darüber befragt werden, welcher Weg nun zu beschreiten
sei: Reduzierung der Masseneinwanderung oder Ende der bilaterale Verträge. Ins
gleiche Horn bläst der »Blick«-Kommentator: »Das Volk wird sich letztlich zwischen Bilateralen und
Zuwanderungsbeschränkung entscheiden müssen.« Auch der Kommentator
der »Berner Zeitung« sowie des »Landboten« meint, es deute vieles auf einen »showdown« hin: ›Bilaterale Verträge
oder Kontingente‹. Selbst das angeblich neutrale
Wahlhilfe-Portal ›Vimentis‹ konstruiert mit einer
Frage an alle Zürcher Kantonsratskandidaten einen Gegensatz: »Bevorzugen Sie
die Aufgabe der Bilateralen Verträge zu Gunsten von Einwanderungskontingenten für
EU-Bürger und Inländervorrang?«
Der
nun intensiv beschworene Widerspruch zwischen der vom Volk angenommenen
Masseneinwanderungs-Initiative und den bilateralen Verträgen hat
wenig mit der Realität zu tun. Vielmehr dient dies der Mystifizierung
und Überhöhung der Bilateralen, in der Hoffnung, damit den Volksentscheid vom 9.
Februar 2014 rückgängig zu machen.
Wahrheiten
und Unwahrheiten Was
richtig ist: Das Personenfreizügigkeitsabkommen ist Bestandseil der ›Bilateralen I‹, eines
Vertragspakets, welches neben der Personenfreizügigkeit noch sechs
weitere sektorielle Abkommen umfasst. Es geht um technische Handelshemmnisse,
öffentliche Aufträge, Landwirtschaft, Landverkehr, Luftverkehr und Forschung.
Was ebenfalls richtig ist: Diese sieben Abkommen sind durch eine sogenannte
Guillotine-Klausel miteinander verbunden. Wird also eines dieser Abkommen
gekündet, fallen automatisch alle anderen Verträge der ›Bilateralen I‹ dahin, was aber wiederum nicht heisst,
dass danach eine Neuverhandlung dieser Verträge ausgeschlossen wäre.
Was
hingegen nicht richtig ist und in den Medien kontinuierlich, ob bewusst
oder aus Unkenntnis, falsch dargestellt wird: Kündigt die Schweiz das
Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU, fallen nicht automatisch alle
bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU dahin. Das betroffene
Vertragspaket ›Bilaterale I‹ umfasst, wie gesagt,
gerade einmal sieben Abkommen. Die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz
und der EU sind allerdings viel umfangreicher, als man dies gemeinhin
darzustellen versucht. Von einer Kündigung der Personenfreizügigkeit nicht
tangiert sind beispielsweise die folgenden bilateralen Verträge: Das
Freihandelsabkommen von 1972, das Versicherungsabkommen von 1993, das Abkommen
von Dublin und Schengen, das Betrugsbekämpfungsabkommen wie auch das
Zinsbesteuerungsabkommen. Von einem Ende der bilateralen Beziehungen kann also
keine Rede sein.
Ende der ›Bilateralen
I‹–
eine Katastrophe? Die
Schweizer Stimmbevölkerung hatte sich dazu entschieden, die Zuwanderung zu
begrenzen. Deshalb kommt sie wahrscheinlich nicht darum herum, das
Personenfreizügigkeitsabkommen zu kündigen, wenn die Zuwanderung wieder
eigenständig gesteuert werden soll. Damit würden die ›Bilateralen I‹ dahinfallen. Wäre das für die Schweiz
tatsächlich eine Katastrophe, wie uns das die Medien fortlaufend weismachen
wollen? Ist dieses Vertragspaket für die Schweiz tatsächlich unverzichtbar?
Droht uns bei einer Aufkündigung dieser Verträge der wirtschaftliche Absturz?
Schauen wir uns die sieben betroffenen Abkommen doch einmal etwas genauer an.
1.
Personenfreizügigkeitsabkommen Die
Meinungen über die Notwendigkeit des Personenfreizügigkeitsabkommens gehen
auseinander. Jedoch ist es unredlich, zu behaupten, der freie Personenverkehr
hätte im Vergleich zum Kontingentsystem Bürokratie abgebaut. Zwar gestaltete
sich die Besetzung von Stellen durch Personen aus dem EU-Raum für Unternehmer
etwas einfacher; im Gegenzug wurde dadurch aber der staatlichen Einmischung ins
wirtschaftliche Geschehen Tür und Tor geöffnet. Unter dem Deckmäntelchen der ›flankierenden Massnahmen‹ wurde der liberale
Arbeitsmarkt der Schweiz zunehmend ausgehöhlt. Gesamtarbeitsverträge konnten
leichter als allgemein verbindlich erklärt werden und Mindestgarantien
betreffend Lohn- und Arbeitsbedingungen (z.B. Mindestlöhne) wurden von einer
Quasi-Lohnpolizei kontrolliert und durchgesetzt. Diese Praktiken müssen nun
natürlich nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative überprüft werden. Das
Hauptargument des Bundesrats war, dass die Schweiz auf das
Personenfreizügigkeitsabkommen angewiesen sei, um die nötigen Fachkräfte
rekrutieren zu können. Das ist jedoch Unsinn. Um diejenigen
Arbeitskräfte einwandern zu lassen, die die Wirtschaft braucht, ist kein
internationales Abkommen vonnöten. Dies kann die Schweiz auch unilateral
regeln, indem sie sagt, wer einwandern darf und wer nicht.
2. Technische
Handelshemmnisse und Konformität Der
Vertrag über technische Handelshemmnisse bezweckt, im grenzüberschreitenden
Verkehr mit Waren und Produkten eine Erleichterung zu gewährleisten. Technische
Standards sollen angeglichen und damit Import- und Exporthürden abgebaut
werden. Schweizer Güter, die in der EU zugelassen werden, sollen demzufolge
auch in der Schweiz zugelassen werden. Die Exportindustrie kann nach
Schätzungen des Bundesrats so jährlich 200 bis 500 Mio. Franken einsparen. Die
Schweiz hat ihre Vorschriften seit 1992 denjenigen der EU weitestgehend
angepasst. Aus diesem Grund wäre für den
Abbau der technischen Handelshemmnisse kein bilateraler Vertrag notwendig
gewesen. Die Schweiz hätte die Gesetzgebung geradeso gut unilateral anpassen
können. Vom heutigen Abkommen profitiert primär die EU, weil sie damit einen
privilegierten Zugang zum Schweizer Markt erhält. Sollte dieses Abkommen einmal
gekündigt werden, träten an ihre Stelle WTO-Regeln, die im Prinzip mit jenen
des bilateralen Vertrags identisch sind.
3. Öffentliches
Beschaffungswesen Das
Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen legt Kriterien fest, gemäss
denen gewisse Beschaffungen international öffentlich ausgeschrieben werden
müssen. Auch der Inhalt dieses Abkommens wird bereits weltweit durch ein
WTO-Übereinkommen grösstenteils abgedeckt, mit dem Unterschied, dass gemäss dem
bilateralen Abkommen neben dem Bund und den Kantonen auch Gemeinden und andere
öffentliche Einrichtungen ihre Aufträge ausschreiben müssen. Das hohe
Preisniveau der Schweiz ist dafür verantwortlich, dass viele ausländische
Firmen durch Unterbieten in der Schweiz zu Aufträgen gekommen sind, während nur
wenige Schweizer Unternehmen europäische Aufträge an Land ziehen konnten.
4. Forschungsabkommen Die
Schweiz ist unbestrittenermassen ein exzellenter Wissens-, Forschungs- und
Innovationsplatz. Der Forschungsplatz EU profitiert deshalb durch eine enge
Kooperation von der Ausstrahlung der Schweizer Forschung. Bereits in den ersten
Jahren der Nachkriegszeit begann die Zusammenarbeit im Bereich Forschung und
Wissenschaft zwischen der Schweiz und den europäischen Staaten. Über Jahrzehnte
hinweg entstanden Vertragswerke, Strukturen und Kooperationen. Den Status als
faktisch assoziierter Staat hätte die Schweiz auch ohne die ›Bilateralen I‹ erhalten. Die Freiheit des
wissenschaftlichen Austausches und der Forschungskooperation stellt im
Zeitalter der ›open innovation‹ ein weltweit anerkanntes Prinzip dar. Die internationale Science
Community würde deshalb eine Diskriminierung der Schweiz durch die EU nicht
akzeptieren, sondern ihr weltweit Alternativen zur Forschungszusammenarbeit
ermöglichen.
5. Landwirtschaftsabkommen Das
Abkommen über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen erleichtert den
gegenseitigen Handel mit Agrarprodukten durch den Abbau tarifärer
(Importkontingente und Zollabbau) sowie technischer Handelshemmnisse
(unterschiedliche Produktevorschriften und Zulassungsbestimmungen). Dabei ging
es insbesondere um die vollständige Liberalisierung des Käsehandels. Das
Abkommen ist primär im Interesse der billiger produzierenden EU-Betriebe und
der auf tiefe Preise ausgerichtete Konsumenten in der Schweiz. Das Interesse an
diesem Abkommen kam von der EU aus, weshalb bei einer Kündigung der ›Bilateralen I‹ bestimmt innert Kürze eine Ersatzlösung
gefunden werden dürfte.
6. Landesverkehrsabkommen Ziel
des Landesverkehrsabkommens, das auf Verlangen der EU in das bilaterale Paket
aufgenommen wurde, war eine koordinierte Verkehrspolitik zwischen der EU und
der Schweiz. Die EU wollte um jeden Preis verhindern, dass die Schweiz grossräumig
umfahren werden muss. Das EU-Mitglied Österreich hätte andernfalls die
Hauptlast des Alpenverkehrs zu tragen. Die Schweiz erhöhte mit diesem Abkommen
die Gewichtslimite für Lastwagen von 28 auf 40 Tonnen. Mit der Verlagerung auf
die Schiene wollte man zudem dem Umweltschutz gerecht werden. Generell büsst die Schweiz mit dem Abschluss
des Landesverkehrsabkommens die Möglichkeit ein, finanziell vom Alpentransit zu
profitieren. Statt Jahr für Jahr gewaltige Summen an Transitgebühren zu
verdienen, nahm die Schweiz Verpflichtungen in Milliardenhöhe auf sich.
Sie verpflichtete sich, zwei NEAT-Achsen zu bauen und für Dutzende von
Milliarden Franken Strassen und Brücken, die für 28 Tonnen konstruiert worden
waren, auf 40 Tonnen umzurüsten. Zusätzlich wurden dem Schweizer Steuerzahler
hohe Millionen-Beträge aufgebürdet, um die Verlagerung auf die Schiene
voranzutreiben. Somit ist klar: Die EU ist einseitige Profiteurin dieses
Abkommens.
7. Luftverkehrsabkommen Die
treibende Kraft hinter dem Luftverkehrsabkommen war die Swissair. Mit dem
Vertrag sicherte sich die Schweiz zwar den Zugang der schweizerischen
Fluggesellschaften zum europäischen Luftverkehrsmarkt. Diktiert wurden die
Bedingungen von da an aber von der EU. Die Schweiz unterwarf sich mit diesem
Abkommen künftigem EU-Recht und der EU-Gerichtsbarkeit. Wie die Praxis
zeigt, haben vor allem kleinere Flugplätze Probleme mit den EU-Regulierungen.
Sie beklagten sich über verschiedenste Formen massiver Überregulierung und über
das Fehlen von Augenmass. Vom Abkommen profitieren konnte paradoxerweise nicht
die Swissair, sondern eine der grossen EU-Fluglinien: die Lufthansa. Neben
Frankfurt und München baute die Fluggesellschaft Zürich zu einem ihrer drei
wichtigsten Flughäfen auf. Da es nach dem Ende der Swissair und der Crossair
keine nennenswerte Schweizer Fluggesellschaft mehr gibt, ist die Schweiz von
einer Kündigung entsprechend wenig betroffen. Mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit wird im Falle einer Kündigung sofort gegenseitig vereinbart,
dass der Flugverkehr aufrechterhalten bleibt.
Fazit:
Masslos überbewertete ›Bilaterale I‹ Erstens
liegen die allermeisten Abkommen der ›Bilateralen I‹ im deutlichen Interesse der EU. Die Wahrscheinlichkeit von
Neuverhandlungen nach dem Fall der Guillotine ist sehr gross. Zweitens decken
Vertragswerke ausserhalb der ›Bilateralen I‹ (beispielsweise das
WTO-Recht) bereits einen wesentlichen
Teil der Abmachungen ab. Der Schaden bei einem Wegfall dieser Verträge wäre
verschwindend klein. Drittens sind viele der bilateralen Abkommen überflüssig,
da deren Sachverhalte auch unilateral geregelt werden könnten. Die ›Bilateralen I‹ sind masslos überbewertet und werden
zu Unrecht als Drohkulisse heraufbeschworen, um die Stimmbevölkerung
einzuschüchtern, respektive sie von dem am 9. Februar 2014 eingeschlagenen Weg
wieder abzubringen.
Eines
ist klar: Der Wohlstand der Schweiz steht und fällt nicht mit den ›Bilateralen I‹. Allerdings wird das soziale Gefüge des
Landes durch die fortlaufende Masseneinwanderung arg auf die Probe gestellt.
Der Bundesrat wäre gut beraten, wenn er endlich den Volkswillen umsetzen und in
Zukunft auf seine antidemokratischen Spielchen verzichten würde.
http://www.schweizerzeit.ch/cms/index.php?page=/news/konstruierte_gegensaetze-2127 Der
aktuelle Freitags-Kommentar der «Schweizerzeit» vom 13. Februar 2015
|