Unser europäischer Moment

Jacques Cheminade ist Vorsitzender der französischen Partei »Solidarité et Progrès«

und ehemaliger französischer Präsidentschaftskandidat. Die nachfolgenden Auszüge sind seiner Rede beim Europarteitag der ›Bürgerrechtsbewegung Solidariät‹ entnommen:

Ich möchte zunächst zwei Aussagen machen, die unsere politische Identität in diesem Moment des 21. Jahrhunderts definieren. Erstens: Das Europa des Euros ist eine Falle, um uns alle in Europa zu ruinieren. Aber ein nationaler Monetarismus ist keine Lösung. Supranationaler Monetarismus und nationaler Monetarismus haben etwas gemeinsam: nämlich den Monetarismus, der die Zerstörung der Menschen und ihres politischen Ausdrucks, des Nationalstaats, bedeutet. Das Europa des Euros ist kein Fehler oder Zufall; es ist das Ergebnis einer Gemengelage, die von der britisch-holländisch-amerikanischen Oligarchie und deren Gefolgsmann Robert Mundell geschaffen wurde, um die Finanzliberalisierung überall auf der Welt zu verbreiten, die kulturellen und universellen Wurzeln Europas auszulöschen und eine Entvölkerung der gesamten transatlantischen Welt voranzutreiben. 

Zweitens: Niemand, und ich betone niemand, hat das Recht, unter dem fadenscheinigen Vorwand von Föderalismus, Europäertum oder falsch verstandenem Nationalismus die historische Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich, eine der vornehmsten Errungenschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu widerrufen. Es kann nicht darum gehen, nach hinten zu blicken, Vorurteile oder Mißstände zu schüren und auf nationalen Demütigungen zu spielen, sondern wir müssen die Zukunft aufbauen, unsere Identität in der Zukunft finden und zu den besten Momenten unserer gemeinsamen Vergangenheit stehen. Wenn man eine Stütze hat, baut man darauf auf, als Patriot, als wahrer Europäer und als Weltbürger. Das heißt, wir müssen unsere Augen weit über unseren Tellerrand erheben und die gesamte Welt im Blick haben: die USA, Rußland und Asien. In unserem Denken müssen wir stets den Vorteil des anderen im Kopf haben, nicht den Eigennutz, sondern das Prinzip der Entente, Détente und Zusammenarbeit zwischen den Nationalstaaten, wie es im Westfälischen Frieden von 1648 vorgesehen war. 

Wir stehen am Ende des Jahres 2013, dem 50. Jahr der deutsch-französischen Freundschaft seit dem Elysée-Vertrag von De Gaulle und Adenauer. Was haben wir in diesen 50 Jahren geschafft? Fast nichts. Daran sind jedoch nicht nur die Deutschen und Franzosen schuld; 1963 war auch das Jahr der Ermordung John F. Kennedys, das Jahr, als in der transatlantischen Welt eine Zukunftsvision zusammenbrach. Aber wir waren nicht nur Opfer dieses Zusammenbruchs, er geschah mit unserem Zutun. Infolgedessen ist es in Europa nicht mehr möglich, einen neuen Vorstoß für die Welt zu beginnen, da wir die Schändung Europas zugelassen haben. Deswegen können wir im Chor der Völker und Nationen nicht die erste Stimme sein, dennoch liegt eine

lange Geschichte hinter uns, und diese Geschichte war nicht nur leerer Schall, sondern auch voller Schönheit und Größe. Unter diesem Mandat der Geschichte und weil die Vision unserer Vorfahren in uns nicht gestorben ist, sind wir noch am Leben. Wir leben, wenn wir die Kraft aufbringen, etwas für die Zukunft beizutragen. Das bedeutet zuerst, unsere Länder von der Diktatur der City und der Wall Street sowie deren Kollaborateuren auf unserem Kontinent wie BNP Paribas, Société Générale, Deutsche Bank und anderen Kasinobanken zu befreien. Sie haben die Kontrolle über alle unsere großen Unternehmen. Wenn wir nicht kämpfen, um mit Hilfe des Glass-Steagall-Prinzips diese Kontrolle zu brechen, werden wir untergehen.  [1] 

Cheminade hatte bereits im Juni 2011 konkrete Vorschläge gemacht:

-  Stopp von Biotreibstoffen. Der Staat muß jegliche Umwandlung von Getreide, besonders Weizen und Mais, in Biotreibstoff blockieren. Ihre Produktion muß der Viehfütterung vorbehalten bleiben. Wenn notwendig, können zu diesem Zweck auch an bestimmten Exporten Abstriche gemacht werden. Diese Maßnahme wird die Weltmarktpreise nicht in die Höhe treiben, wenn sie von Maßnahmen gegen die Spekulation begleitet wird, wie wir sie vorschlagen. 

-  Die Spekulation mit landwirtschaftlichen Produkten muß verboten werden, insbesondere die der an den Börsen gehandelten Fonds (ETF) mit Tracker-Zertifikaten, die eine große Hebelwirkung haben. Ist es nicht unerträglich, daß eine Bank wie die Crédit Agricole (um nur sie zu nennen), die sich so großzügig gibt, wenn sie den Opfern der Trockenheit Kredite anbietet, über Aumundi [die gemeinsame Spekulationsabteilung von Crédit Agricole und Société Générale] fortfährt, auf Agrarpreise zu spekulieren? Wenn dieses Spiel nicht beendet wird, dann sind alle Erklärungen unserer Politiker höchstens Heuchelei und im schlimmsten Fall Verrat. Auch muß die Landwirtschaftspolitik gemäß dem absoluten Prinzip der Nahrungsmittelsouveränität umgehend neu durchdacht werden, um sie der malthusianischen Macht der Öko-Spekulanten zu entreißen.

-  Statt unsere Produzenten dazu zu zwingen, sich gegen das Auf und Ab der Preise auf undurchsichtigen Märkten durch im außerbörslichen Verkauf (OTC) erworbene Finanzderivate abzusichern, ist jetzt die Zeit gekommen, sowohl in den Produzentenländern als auch in den fortgesetzten Importländern, besonders im Maghreb, wieder öffentliche Lagerbestände zur Preissteuerung einzurichten, pro Land oder geographischem Gebiet. Wie zu Beginn der europäischen Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) erlaubt eine intelligente Verwaltung öffentlicher Lagerbestände die Begrenzung physischer Verknappung und das Vereiteln spekulativer Kurssteigerungen durch staatliche Käufe oder Verkäufe. Wir sollten uns daran erinnern, daß die Finanzprodukte zur Absicherung letztendlich Kosten von nahezu 40 € pro Tonne tatsächlich verkauften Getreides nach sich ziehen, während die jährlichen Kosten der Lagerhaltung von Getreide in einem Genossenschaftssilo in Frankreich nur 10 € pro Tonne betragen. Überlassen wir die Landwirtschaft nicht den Händen gieriger Interessen, die sich nur dem Besitz und nicht der Produktion verschrieben haben. Um unsere Nahrung zu erhalten, müssen wir den Spekulanten den Wind aus den Segeln nehmen! 

-  Im Rahmen einer neuen, auf dem staatlichen produktiven Kredit (und nicht auf monetären Spielchen) beruhenden internationalen Ordnung bedarf es einer Einrichtung zur Beobachtung des weltweiten Verbrauchs und der weltweiten landwirtschaftlichen Lagerbestände. Beenden wir den skandalösen neokolonialen Ansturm auf bebaubares Land; Verträge müssen zu Preisen abgeschlossen werden, die sich aus den Bedürfnissen der physischen Ökonomie herleiten und nicht aus denen der Finanzmärkte. 

Abschließend bleibt festzustellen, daß die Herausforderung, im Jahr 2050 9 bis 12 Mrd. Menschen zu ernähren, mit dem Infragestellen der verrückten Finanzwelt beginnt, die seit mehr als 40 Jahren die Welt regiert, und ihrer Ersetzung durch eine Weltordnung, die auf gemeinsamen Projekten und dem Vorrang für die menschliche Schöpferkraft beruht.  [2]    

Indessen greifen die sozialen Proteste, wie Edgar Gärtner festhält, weiter um sich. Die Sozialisten haben es in Rekordzeit geschafft, ihre Regierung in eine Sackgasse zu manövrieren. Alles, was François Hollande und sein Premierminister jetzt tun, um ihrer mißlichen Lage zu entkommen, macht die Probleme noch schlimmer. Nach einer Umfrage des Instituts Ifop, die im Journal du Dimanche veröffentlicht wurde, hat der Sieger der Stichwahl vom 6. Mai 2012 jetzt nur noch ein Fünftel seines Volkes hinter sich. Keiner seiner Vorgänger erlitt jemals in so kurzer Zeit einen vergleichbaren Popularitätsverlust. Hollande, der angetreten war, den verfetteten und überschuldeten Wohlfahrtsstaat durch Reformen zu retten, sieht sich auf einmal mit mehr oder weniger gewaltsamen Protesten aus allen Schichten der Gesellschaft konfrontiert, auch in Regionen, denen er seinen Wahlsieg verdankt. Dazu gehört die Bretagne, die seit längerem sozialistisch wählt. Die Halbinsel in äußersten Westen des annähernd sechseckigen Landes leidet nicht nur unter der großen  Entfernung von der Hauptstadt Paris, sondern auch an einer besonders ungünstigen Wirtschaftsstruktur. Vor allem die Vieh- und Fleischwirtschaft erweist sich auf Grund des vergleichsweise großzügigen gesetzlichen Mindestlohns und hoher Steuern und Sozialabgaben als kaum noch wettbewerbsfähig. Die Einführung einer Lkw-Maut für Schnellstraßen nach deutschem Vorbild [euphemistisch »Ecotaxe« genannt] brachte dann bekanntlich das Faß zum Überlaufen. Es rächt sich, daß Hollande von vornherein entschieden hat, der EU-Vorgabe der Rückführung der Staatsschuldenquote von bald 95 % des BIP und des Haushaltsdefizits von über 4 auf 3 % des BIP nicht durch eine Verkleinerung des aufgeblähten Apparats von über fünf Millionen Beamten und des Staatsanteils an der Wirtschaftsleistung von über 57 % zu folgen. Hollande will vielmehr eine Erhöhung von Steuern und Abgaben in der Größenordnung von 30 Milliarden €. Die durchschnittliche Abgabenlast auf Einkommen liegt in Frankreich inzwischen bei 46 %; Premierminister Ayrault hat für das kommende Jahr eine Neuordnung des gesamten Systems der Besteuerung, das mindestens so unübersichtlich ist wie das deutsche angekündigt; erwogen ist auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 20 %   angekündigt. Die Wirtschaft stagniert und die offizielle Arbeitslosenquote erreicht bald 11 %. Interessant ist, daß die rasch anschwellende Protestbewegung gegen die unerträglich werdende Steuerlast der konservativen Oppositionspartei UMP indessen keinen Zulauf bringt. Seit ihr Führer Sarkozy seine Wiederwahl verpaßt hat, ist die Partei zerstritten. Links und rechts, legt Gärtner abschließend dar, sind sich in Frankreich in der Anbetung des Götzen Sozialstaates einig. Liberal gilt als Schimpfwort. Umso interessanter sind spontane Bewegungen wie die der roten Mützen, die sich schlicht auf den gesunden Menschenverstand berufen. Sie spielt auf eine Massenbewegung gegen eine schmerzhafte Steuererhöhung durch den letzten französischen König wenige Jahre vor der großen Revolution an. In gewisser Weise ist die neue Bewegung eine Fortsetzung des Widerstands gegen die Einführung der Homo-Ehe durch die sozialistische Justizministerin Christiane Taubira, die in der ersten Jahreshälfte Millionen Franzosen auf die Straße trieb. Historiker sehen darin bereits den Beginn eines »1968 à l'envers«. Und jetzt warnen die Präfekturen vor einer unkontrollierbaren Ausweitung gewaltsamer Proteste.  [3]  

[1]  Strategic Alert Jahrgang 26, Nr. 49 vom 4. Dezember 2013
[2]  http://www.bueso.de/node/9932  3. 6. 11  Jacques Cheminade zur
Dürre in Frankreich: »Die Produktion schützen und den Augiasstall der Spekulanten ausmisten!«
[3]  Edgar Gärtner - Steht Frankreich vor dem Bürgerkrieg? Kopp exklusiv 48/13