»Frieden geht immer nur von Kleinstaaten und republikanisch organisierten Gemeinwesen aus« - Von Tobias Salander 26.04.2013 21:12
In Zeiten des Cyberwars und der Kriegsführung mittels Drohnen
sitzen die Söldner kriegsführender Staaten vermehrt auf bequemen Bürosesseln und agieren um den halben Planeten herum. Die Opfer, welche ihre Staaten zumeist ohne Kriegserklärung oder Gewährung des rechtlichen Gehörs zur Tötung freigegeben haben, sehen sie bestenfalls als Pünktchen auf einem Bildschirm - oder gar nicht - so bei der Streuung von Computerviren wie Stuxnet, welche die Steuerung von Atomanlagen, auch Atomkraftwerken und anderen Infrastrukturanlagen, lahmlegen können. Dennoch, trotz fehlenden »Feindkontakts« leiden viele der modernen Krieger an den gleichen posttraumatischen Stress-Syndromen wie ihre Kollegen in früheren konventionellen Kriegen, wie die New York Times, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung und andere berichten. Ein Beweis dafür, dass der Mensch sich nie ändern wird? Oder eher ein Zeichen der Hoffnung? Der Hoffnung, dass die
Menschheit endlich einsehen möge, dass das Führen von Angriffskriegen – seit
Nürnberg als schwerstes aller Verbrechen verboten – der menschlichen
Sozialnatur diametral zuwiderläuft, dass der Mensch damit nicht fertig wird,
und dass dieses Nicht-Aushalten-Können als Beleg dafür gedeutet werden kann,
was der Mensch für seine seelische Gesundheit benötigt oder eben nicht brauchen
kann. Wenn die Forschungen eines Michael Tomasello [1], Co-Direktor des
Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in
Leipzig, und vieler anderer ernstgenommen werden, dass nämlich der Mensch gerne
mit dem Mitmenschen kooperiert, schon die Kleinkinder vor dem Spracherwerb, so sollten
die Schlussfolgerungen auch für das Leben zwischen Staaten klar sein: Krieg als
Mittel der Politik muss ausgeschlossen sein, da er nie zu pro-sozialen und
nachhaltigen Lösungen führte. So auch festgehalten in der UNO-Charta. Doch uns
an der Gegenwart direkt Beteiligten, uns Zeitgenossen der US- und/oder NATO-geführten
Kriege gegen Serbien, Afghanistan, den Irak, der Kriege einzelner NATO-Mitglieder
gegen Libyen und Mali, fällt es oft schwer, einen klaren Kopf zu bewahren und
die Befunde aus der modernen Anthropologie, Biologie und Psychologie auf die
aktuellen Ereignisse zu übertragen – und die Charta der Vereinten Nationen
ernst zu nehmen und ihr nachzuleben. Einer heftigen Propagandawalze ausgesetzt,
sind wir allzu schnell bereit, bei jedem neuen Krieg davon auszugehen, dass dieses
Mal nun wirklich ein ›Krieg zur
Beendigung aller Kriege‹, ›Krieg zum Schutz des Friedens‹, ›Krieg für die Menschenrechte‹, ja sogar ein ›Krieg für das
Völkerrecht‹ geführt
werden müsse. Immer ist die Wahrheit das erste Opfer eines neuen Krieges. Die
Einsicht folgt oft erst später, zumeist zu spät. Deswegen kann ein Blick in die
Geschichte oft heilsam sein und die
Augen für Heutiges öffnen. Der Blick zurück ist gerade bei längeren Zeiträumen
oft deshalb so klärend, weil keine persönlichen Betroffenheiten die Sicht eintrüben
oder einseitig einfärben kann, weil kein Auftrag zur propagandistischen
Vernebelung läuft, weil sich die Natur des Menschen
seit über 10?000 Jahren nicht
mehr verändert hat und wir es also mit
dem gleichen Wesen zu tun haben, welches heute aktiv ist: dem Homo sapiens
sapiens. Und weil dem so ist, können wir uns in die Lage dieser Vorfahren
versetzen, deren Handlungsweisen nachvollziehen und Schlüsse für heute ziehen.
Eben zum Beispiel den, dass Kriege nicht der Natur des Menschen entspringen, sondern
immer auf Grund von Interessen einflussreicher Kreise inszeniert werden. Und da
sie von Menschen gemacht und immer auch wieder von Menschen beendet wurden,
lassen sich auch heutige Kriege beenden beziehungsweise gar nicht erst
beginnen.
Ein Beispiel, welches für uns Nachgeborene aus all den
genannten Gründen äusserst lehrreich sein kann, ist die sogenannte
Völkerschlacht von Leipzig im Jahr 1813, welcher heuer zum 200. Mal gedacht
wird. Zu diesem Anlass werden in Leipzig diesen Herbst Feierlichkeiten stattfinden,
und auf dieses Datum hin ist auch ein historisches Werk erschienen, welches die
Abläufe plastisch werden lässt, da es einen personalen Ansatz gewählt hat: Es
geht um den faktengetreuen historischen Roman von Sabine Ebert, welcher die
Abläufe quellengestützt nachzeichnet, mit wenigen erfundenen Passagen, die dem Roman-Genre
geschuldet sind, die den Blick auf die Ereignisse aber keineswegs verstellen, sondern
ganz im Gegenteil klärend wirken. Anlass genug, um dieses Werk zu würdigen und
in den Zusammenhang einer personalen Geschichtsschreibung zu stellen, welche dem
Frieden verpflichtet ist und seit Immanuel Kant und aus der Geschichte der
schweizerischen Eidgenossenschaft weiss, dass Frieden
immer nur von Kleinstaaten und republikanisch organisierten Gemeinwesen ausgehen kann, nie
aber von Grossgebilden. Dass letztere die Gedenkfeierlichkeiten zu vereinnahmen
versuchen werden, ist zu erwarten, würde die Geschichtsklitterung aber nicht
weniger unverschämt machen. Als Schweizer ist man vorgewarnt: So versuchten
gewisse Kreise beim 200. Jahrestag der Invasion der napoleonischen Truppen in
der Schweiz im Jahr 1798 Napoleon als Begründer der modernen Schweiz zu
verklären: den Gewaltherrscher, der das besetzte Land plünderte, zentralisierte
und die jungen Männer als Kanonenfutter nach Russland zwang. Den
Forschungen von Dr. René Roca [2] und anderen ist es
zu verdanken, dass diese Geschichtsklitterung richtiggestellt werden konnte,
indem Roca auf die genossenschaftliche Tradition in der Schweiz hinwies, die
schon lange vor der Gründung der Bundesstaaten von 1848 den Keim der direkten
Demokratie in sich barg. So kann es auch 2013 nicht die Lehre aus der
napoleonischen Zeit sein, dass der Friede in Europa durch einen
neo-napoleonischen Moloch zu den Menschen komme. Dies, auch wenn das
Grossgebilde von heute resp. der Präsident eines sich permanent als im
Kriegszustand zu bezeichnenden Landes den Friedensnobelpreis bekommen haben –
von einem Komitee, deren jüngsten Entscheidungen wegen sich der
Begründer Alfred Nobel gemäss Fredrik S. Heffermehl [3] im Grabe umdrehen
würde.
US-Strategen: Der Mensch als Gattungswesen will keinen Krieg Die Aussage kommt von unverdächtiger Seite, von einem, der
nicht als Friedenstaube, Idealist oder Pazifist bekannt ist: Der der Schule des
›Neorealismus‹ zugehörige US-Amerikaner Kenneth N. Waltz [4] vertritt mit
seinem Ansatz des ›anthropologischen
Realismus‹ die Auffassung, dass die Ursache für Kriege zwischen Staaten nicht im Machtstreben
des Menschen zu suchen sei, sondern im internationalen System, welches
anarchisch strukturiert sei, mithin also über keine rechtsstaatlichen
Einrichtungen und Traditionen verfüge. Da Staaten durchaus rationale Akteure
seien, die überleben wollten, sei ein Gleichgewicht der Mächte anzustreben –
heute auch mit Atomwaffen. Aussagen, die einerseits irritieren mögen, was die
Proliferation von unterschiedslos tötenden Waffen anbelangt, andererseits
wohltuend wirken, wird doch der Mensch vom Generalverdacht freigesprochen, er
sei des Mitmenschen Wolf, er verfüge über einen Todestrieb oder Archetypen wie
die eines Wotan, und was der Hobbes’schen, vulgärfreudianischen und Jungschen
Auffassungen so sind. Dass der Mensch an sich ein friedliches Wesen ist,
welches gerne mit seinen Mitmenschen kooperiert, zeigen die Studien von
Tomasello in aller Klarheit. Dass der Mensch als soziale Frühgeburt auf den
sozialen Uterus angewiesen ist und also Schutz benötigt, hat Adolf
Portmann [5] dargelegt.
Die Conditio humana: ein Zusammenspiel von Feingefühl und
Robustheit Kooperationswille, Schutzbedürfnis und Schutzgewähren gehen
Hand in Hand. Die Sozialnatur des Menschen ist also immer ein Zwillingspaar aus
Mitgefühl, Mitempfinden und Hilfeleistung einerseits und Abwehrwille gegen
Machtanmassung, Verteidigung der menschlichen Würde gegen Usurpatoren und
Aufstellen von Regeln zur Wahrung des Bonum commune. Diese zweifache
Ausgestaltung der ›Conditio
humana‹, auch als Zusammenspiel von
Feingefühl und Robustheit zu umschreiben, durchzieht die Geschichte von uns
Menschen seit Anbeginn. Gibt es in der Geschichte jedes einzelnen immer eine
bunte Palette von reineren und weniger reinen Emotionen, Affekten und
Bestrebungen, so reicht auch ein Überhang an destruktiven Tendenzen von
Individuen zu Fehlgriffen, die durchaus schlimm sein können, wie Mord und
Totschlag, Vergewaltigung und Hass, usw. Nie aber erklären sich so Kriege, die
über Jahre dauern und Tausende, Hunderttausende, ja Millionen Menschen das
Leben kosten. Das besagt also nicht nur die realpolitische Schule des Neorealismus
à la Kenneth N. Waltz, dies zeigen auch Briefe, Tagebucheinträge und in neuerer
Zeit Zeitzeugeninterviews mit Betroffenen von kriegerischen
Auseinandersetzungen. Der Mensch an sich will im Frieden leben, in Gemeinschaft
mit Gleichgesinnten, ohne deswegen Feindschaft zu den Übrigen aufzubauen. Fällt
er aber über den Mitmenschen her, und zwar in Massen und organisiert und
uniformiert, stehen dahinter immer Manipulationen, Ideologien und Missbrauch
des menschlichen Gestaltungswillens.
Die eigene Zeitgebundenheit wirkt zumeist blendend Dies in der eigenen Gegenwart nachzuvollziehen, fällt nicht
immer leicht, ist man doch unmittelbar in die Abläufe verstrickt und von
starken Interessen beeinflusst. So lassen sich Kriege auch im 21. Jahrhundert
leider zumeist immer erst im nachhinein als grosses Unrecht, verbunden mit
Irreführung der Öffentlichkeit, aufdecken. Werden uns Kriege als Kampagnen
verkauft, welche Kriege verhindern, welche die Menschenrechte gewährleisten,
welche einen Massenmord verhindern sollen, usw., und wird dies massenmedial
breit gestreut und ständig wiederholt, dann schafft oft erst die zeitliche
Distanz Klarheit. Die eigene Zeitgenossenschaft wirkt zumeist blendend und
betäubend, auch will man oft gar nicht wahrhaben, dass ein doch durchaus positiv
besetzter Politiker oder Staat Monströses tut. Da fällt es uns oft leichter, an
Beispielen aus der Geschichte nachzuvollziehen, dass Kriege immer mit Lügen
beginnen, dass zumeist Werte bloss Interessen kaschieren sollen, dass
Monströses auch monströs ist. Wenn zum Beispiel ein Staatsmann sagt, der Tod
von einer Million Menschen sei ihm egal, mag das in der zeitlichen Entfernung
von 200 Jahren empören, sagt es aber eine Aussenministerin über 500 000 Kinder eines zuvor über Jahre durch die
Medien dämonisierten und durch ein Embargo ausgehungerten Volkes, so fällt dies
unkommentiert in das schwarze Loch des Vergessens oder bestenfalls des
Verdrängens: bestenfalls, weil Verdrängtes die Angewohnheit hat, sich
irgendwann doch wieder an die Oberfläche emporzuarbeiten. Oder warum empfinden
wir die Aussage von Napoleon Bonaparte über seine Soldaten in Millionenzahl
nicht gleich wie jene der damaligen US-Aussenministerin Madeleine Albright über
die halbe Million Kinder aus dem Irak?
Seit 1999 haben wir den Respekt vor dem Krieg wieder
verloren Sind wir seit dem Kosovo-Krieg wieder auf Kriegspfad und
haben gemäss dem kürzlich verstorbenen Divisionär Dr. iur. Hans Bachofner
(1931–2012) [6] den Respekt vor dem Krieg verloren, mag ein Blick in die Geschichte heilsam sein.
Zum Beispiel auf ein Ereignis vor 200 Jahren. Die Rede ist von der erwähnten
Völkerschlacht von Leipzig, wo sich eine halbe Million Soldaten verschiedenster
Länder in der bis dahin grössten Schlacht der Menschheitsgeschichte
gegenüberstanden. Wer den neuen Roman mit dem Titel ›1813 - Kriegsfeuer‹ von Sabine Ebert liest, der auf dem
Studium von über 30?000 Seiten Primär- und
Sekundärliteratur beruht und sich möglichst nahe an den historischen
Gegebenheiten und Personen bewegt, legt das Buch immer wieder
zur Seite und kommt ins Grübeln: Wozu dieser Wahnsinn? Warum dieses sinnlose
Abschlachten von Zehntausenden zumeist sehr junger Männern? Warum gelang es
niemandem, der Tollheit Einhalt zu gebieten? Wie haben die Menschen damals
überleben, wie die Greuel verarbeiten können? Und warum ging es dann weiter und
weiter, über die ganzen Einigungskriege unter Bismarck, die Kriege in Norditalien,
auf der Krim, im Balkan - um dann in den
beiden Weltkriegen zu kulminieren - und weiter
in den seither über 100 geführten Kriegen, letztere mit der heutigen
neokolonialen Kriegsführung unter dem Mäntelchen der ›Menschenrechte‹. Wird die Menschheit denn nie klüger?
›Tutti fratelli‹ –
ein halbes Jahrhundert vor Henri Dunant Sabine Ebert hat nur wenige Figuren frei erfunden, vor allem
eine ist aber bitter nötig, um nicht in Hoffnungslosigkeit, Apathie oder
Zynismus und Sarkasmus zu fallen: Mit der Figur der Henriette Gerlach, Jette
gerufen, schafft sie eine Lichtgestalt, die die christliche Tradition des
barmherzigen Samariters aufgreift und eine Florence Nightingale
vorscheinen lässt. Oft denkt man aber auch an Bertha
von Suttner mit ihrem dialogisch aufgebauten Nobelpreisroman ›Die Waffen nieder‹, vor allem aber immer wieder an den
Ausruf ›Tutti fratelli‹, mit dem Henri Dunant [7], der Gründer
des Roten Kreuzes, in der Schlacht von Solferino im Lazarett von Castiglione
zum Ausdruck brachte, dass jedem verletzten Soldaten, egal welcher Herkunft,
geholfen werden muss, schlicht, weil es alles Menschen sind oder eben Brüder.
Damals der Korse, heute die untergehende Hypermacht? Brüder tauchen in Eberts Roman auch in einem andern
Zusammenhang auf, auf der Ebene der Herrschenden, und dies sind arg geheuchelte
Beziehungen. Als ›Bruder‹ bezeichnet der Imperator Napoleon den
sächsischen König Friedrich August I., den er in eigentlicher Geiselhaft hält,
ohne dies so zu benennen. Überhaupt dieses Sachsen: Von Napoleon nach der
Niederlage in Jena und Auerstedt von 1806 mit dem Versprechen geködert, es
nicht zu besetzen und zu plündern, es also anders und
bevorzugt zu behandeln als das mitbesiegte Preussen, muss es seine jungen
Männer wie so viele unterworfene Völker dem Hegemon für dessen Kriegszüge
ausliefern. Ein Schicksal, welches in der Geschichte nicht neu, bis heute aber
auch nicht überwunden ist: Wer nicht in der Lage ist, sich zu verteidigen, sei
es aus Feigheit, Blauäugigkeit oder wieso auch immer, wird für den Sieger Krieg
führen dürfen. Wer fremde Truppen auf seinem Territorium dulden muss, wird
geplündert, ausgehungert und entehrt. Was in der historischen Distanz so
deutlich wird, ist in der Gegenwart oft schwer zu erkennen. Aber hat nicht die
nun abdankende Hypermacht USA ähnliche Züge wie das imperiale Gehabe des
Korsen? Nur mit anderen, smarteren Begriffen kaschiert? ›Koalition der Willigen‹ ist da schon fast zu offensichtlich,
die ›Wertegemeinschaft‹ oder die ›internationale Gemeinschaft‹ jedoch sind cleverer verpackt. ›Vasall‹, ›Brückenkopf‹, ›Tributpflichtige‹, alles Begriffe, die der Geostratege
Zbigniew Brzezinski [8] in seinen Büchern verwendet, gemahnen doch eher an
Napoleon. Und auch hier die Frage: Warum wehrt sich da keiner? Ist das nur
Angst vor der Macht - oder schwingt auch Bewunderung und ein gewisses
krankhaftes Anlehnungsbedürfnis an vermeintliche Grösse mit? Auch dabei sein zu
wollen, wenn die Schönen und Reichen prassen?
Wer benennt den Megalomanen als solchen? In Sachsen zur Zeit der Völkerschlacht sind all diese
Abläufe exemplarisch nachzuvollziehen, von Sabine Ebert akribisch freigelegt.
So wird zum Beispiel anhand der Abläufe um die Person der Sächsin Auguste Charlotte,
Gräfin von Kielmannsegg, deutlich, wie Macht nicht nur für einfache Naturen und
Gemüter immer auch ›Sexappeal‹ zu versprechen scheint. Oder wie soll
man das umschreiben und fassen, dass eine Frau einem Massenmörder huldigt, der
auch die eigenen Untertanen schädigt, mithin also ihre Lebensgrundlage
zerstört? Und sich ihm als Topspionin gegen die eigenen Landsleute aus der
adeligen Oberschicht zur Verfügung stellt. Ist das die Folge des sogenannten
Charismas des selbsternannten Kaisers Napoleon? Und wieso kann das derart
greifen, dass man den Geisteskranken und Megalomanen in ihm schlicht nicht
wahrhaben will? Sabine Ebert beantwortet die implizit gestellten Fragen nicht
explizit, lässt aber den Leser sinnierend zurück. Gerade weil sie die Geschichte aus der
Perspektive einzelner Menschen der verschiedensten Nationen, Lager und sozialen
Schichten darstellt, also einen personalen Ansatz wählt, kann sich der Leser
einfühlen, ja oft auch einbeziehen. Erst so, durch den personalen Ansatz, wird
Geschichte greifbar, nur so macht sie wirklich Sinn. Nie soll Auseinandersetzung
mit Geschichte nur ›l’art pour
l’art‹ sein; natürlich darf dem Postulat der
Aufklärer des ›prodesse et
delectare‹, des ›nützen und erfreuen‹, stattgegeben werden. Und das gelingt
Frau Ebert in vorzüglicher Weise: Man nehme sich eine Woche Zeit für die
Lektüre und kann dann so richtig eintauchen – nie besteht die Gefahr, dass man
sich verlieren könnte, weil sich Analogien zu heute von Seite zu Seite
aufdrängen bzw. ergeben.
Ein literarisches Mahnmal für den ›unbekannten Soldaten‹ Mehr als einmal legt man das Buch auf seinen Schoss und
beginnt zu sinnieren: ›Frauen schenken
Leben, Männer nehmen es‹ - stimmt
das? Ohne radikalfeministisch zu wirken, löst die Autorin da ganze
Gedankenabläufe aus: Frauen und Männer aus der Geschichte gehen einem dabei
durch den Kopf, Sokrates, Jesus von Nazareth, Gandhi, Mutter Teresa, die
bereits erwähnte Florence Nightingale, aber für die Schweiz auch Gilberte de
Courgenay, die während des Ersten Weltkriegs die Soldaten in ihrem Restaurant
an Mutters statt annahm und alle namentlich gekannt haben soll, ›et tout les officiers‹, wie es im eigens zu ihren Ehren
komponierten Lied so schön heisst. Und natürlich Henri Dunant. Aber auch Bertha
von Suttner, Heinrich von Kleist mit seiner Novelle ›Die Marquise von O‹, die das
Schicksal von Frauen in Kriegen, hier ebenfalls den napoleonischen,
nachzeichnet, wenn eine Französin von einem russischen Offizier zwar zuerst vor
der Schändung durch seine Soldaten gerettet, dann aber doch schwanger wird,
ohne zu wissen, durch wen, und am Schluss aufgedeckt bekommt, dass es gerade
ihr Beschützer war, der ihr als Engel vorgekommen war und sich als Teufel
entpuppte. Kleist zeigt daran, wie der Krieg alles auf den Kopf stellt. Anders
als sonst wird hier zuerst geboren, dann ohne Gefühle geheiratet, danach sich verliebt.
Wenn sich bei Ebert die Protagonistin Jette mit dem Feind einlässt, dann
nicht aus Begehren, sondern aus Mitleid: Wie eine Mutter ihr Kind an sich
zieht, um es zu trösten, zieht die junge Sächsin den Besatzungsoffizier zu
sich, um ihm für den bevorstehenden Tod auf dem Schlachtfeld Trost zu spenden; in
ihm liebt, besser ehrt sie aber gleichzeitig all die Männer, die sie
kennengelernt hat, und zwar von den verschiedenen Parteien: da den
preussischen, dort den französischen Offizier, schliesslich den Freischärler,
der zu den Lützower Jägern strebt: man sieht vor dem geistigen Auge das Grabmal
des ›unbekannten Soldaten‹, dem die Autorin hier feinfühlig ein
literarisches Mahnmal errichtet.
Jeder Mann dient in einer Armee: in der eigenen oder in
einer fremden! Ganz besonders ergreifend und nachdenklich stimmend sind all die
Sequenzen, in welchen deutlich wird, was es bedeutet,
von einer fremden Macht erobert zu werden: Da ziehen die besten der Sachsen mit
dem Usurpator gen Moskau, werden dort auf dem Rückzug regelrecht verheizt, nur
um dann erleben zu müssen, wie derselbe Machtmensch ihre Heimat zum
Schlachtfeld macht, und zwar über Monate hinweg, bis das Land so völlig
ruiniert ist, dass er es getrost, wie er zynisch formuliert, dem Feind
überlassen kann, da sich da ja nichts mehr herausholen lasse. Dass sich einige
der sächsischen Offiziere das nicht gefallen lassen und zur Gegenpartei
überlaufen, am Schluss auch noch im Schlachtgetümmel der Völkerschlacht von Leipzig
selber, hat zur Folge, dass Sachsen gegen Sachsen kämpfen, beide für ihr
Vaterland. Dass ihr König laviert und taktiert, musste ihnen klar sein, weil
dies alle taten. Wer für eine Idee antrat, sah sich immer verraten. So hatten
etwa der preussische König und der Zar von Russland schon lange unter sich
ausgemacht, dass bei einem Sieg über Napoleon Sachsen dem preussischen Reich
einverleibt würde. Dass die stolzen sächsischen Patrioten, die gegen Napoleon
kämpfen wollten und sich dazu den Preussen unterstellten, weil ihnen keine
andere Wahl blieb, so gegen die eigenen Interessen kämpften, ohne es zu wissen,
ist tragisch. Dass die Alliierten untereinander oft uneins waren, wurde von
Napoleon vorausgesehen und ausgenutzt. Dass die Habsburger aber noch während
der Schlacht von Leipzig mit ihrem Gegner Napoleon Geheimverhandlungen
aufnahmen und ihm ohne das Wissen ihrer Alliierten und gegen deren Willen einen
Fluchtweg garantierten, war einerseits blanker Verrat an der gemeinsamen Sache,
andererseits Beweis dafür, dass diese gemeinsamen Interessen nur ephemer waren.
Zwischen Staaten gibt es keine Freundschaft, sondern nur
Interessen Oder - um es mit den
Worten Brzezinskis und anderer Geostrategen zu formulieren: Zwischen Staaten
gab es noch nie Freundschaft, sondern nur Interessen. Und das Interesse
Habsburgs war, Napoleon, dem Schwiegersohn von Kaiser Franz I., nicht die
Existenzgrundlage zu entziehen, denn man brauchte ein starkes Frankreich, damit
Preussen und Russland in der Nachkriegszeit nicht zu stark würden, frei nach
dem Motto: »Im Krieg ist immer schon nach dem Krieg, und nach dem Krieg ist
immer schon vor dem Krieg«. Aber auch all die polnischen Soldaten, Offiziere
und Generäle im Dienste Napoleons sahen sich betrogen, denn von einem
unabhängigen Polen träumten zwar sie, sonst aber niemand. Die Gemengelage war
so komplex, die Bruchlinien auch innerhalb des alliierten Bündnisses klar
spürbar, dass jeder ständig mit Verrat rechnen und ihn auch immer wieder
erleben musste. Insbesondere all jene, die feststellen mussten, dass sie
lediglich Kanonenfutter waren, sahen sich betrogen. Und natürlich lässt sich im
nachhinein alles klarer sehen, doch wenn man einmal in dem ganzen Schlamassel
drinsteckte, war es schwer, wieder herauszufinden. Und dennoch: Als sich die
500 000 Mann in der Leipziger Ebene gegenüberstanden, ruhten die Waffen durchaus einmal einen Tag lang, weil die Oberbefehlshaber aus
diversen Gründen keinen Angriffsbefehl gaben. Dies zeigt jedoch, dass Kriege
jederzeit von Menschen zu stoppen sind, da sie auch menschengemacht sind. Oder
aus Schweizer Perspektive: Besser lässt man sich auf solche Dinge gar nie ein.
Der Rat von Niklaus von Flüe von Immanuel Kant verstärkt Dass dies möglich ist, zeigt das Beispiel der Schweizer
Eidgenossenschaft. Als militärische Grossmacht im Mittelalter und der frühen
Neuzeit lernte man rechtzeitig aus all den Verhängnissen, die sich auch in der
Völkerschlacht von Leipzig zeigten: So wie in Leipzig Sachse gegen Sachse,
Deutscher gegen Deutschen kämpfte, standen oft reislaufende Eidgenossen gegen
Eidgenossen, Vater gegen Sohn; und als es eine Niederlage in Marignano
absetzte, suchte man bei einem weisen Mann Rat: Bei Bruder Niklaus von Flüe,
der dann die Richtung zeigte. Unsere Vorfahren liessen sich die Richtung dann auch
zeigen: Die beiden folgenden Empfehlungen sind bis heute wegweisend für die
Schweiz und können es für alle Völker sein: »Machet den Zaun nicht zu weit« und
»mischt euch nicht in fremde Händel«; sie sind vom Gehalt her genau das, was
Immanuel Kant in seiner berühmten
Schrift »Zum ewigen Frieden« aus dem Jahre 1795 den Menschen empfahl: Kleinstaaten statt Grossgebilde, Republiken
statt Monarchien, nur so könne Frieden ent- und bestehen. Dass sich die
Mehrzahl der Menschen in Europa diesem Gebot nicht anschliessen konnten, ist
tragisch, heisst aber nicht, dass das Prinzip falsch gewesen wäre: Gepaart mit dem Genossenschaftsprinzip, dem Aufbau von unten nach
oben, dem politischen Willen, in Freiheit zu leben und diese auch zu
verteidigen, und zwar mit aller Kraft, aber eben immer nur defensiv, haben die
Eidgenossen sich, dem Kontinent Europa und der Welt eine Insel des Friedens,
auch des sozialen Friedens, und eine Instanz der Vermittlung und der
friedlichen Streitschlichtung geschenkt. Dies wäre auch heute der Weg in eine
friedliche Zukunft: Ein Europa der Vaterländer, die durchaus auch aus kleineren
Gebilden bestehen dürften, wie zum Beispiel dem Freistaat Bayern [9] oder dem
Freistaat Sachsen. Es sage niemand, solche Staaten seien zu klein, um wirtschaftlich
zu überleben. Der Erfolg der Kleinstaaten Europas wie der Schweiz strafen
solche Aussagen Lügen.
Die Mär von der friedensstiftenden EU und NATO Wer nun aber nach der Lektüre des Romans zur Völkerschlacht
in Leipzig den Schluss ziehen möchte, dass es, um solche Schlächtereien künftig
zu verhindern, noch grössere Gebilde als jenes von Napoleon - zum Beispiel eine EU, die dann als
Friedensmodell Europa den Frieden bringe -
brauche, sieht sich durch die dramatische Eurokrise heute eines Besseren
belehrt: Professor Wilhelm Hankel hat, was die Wirtschaft und die Währungen
betrifft, einen friedlichen Ausweg gezeigt [10]. Was den politischen Teil
betrifft, bräuchte es Besinnung und die Frage, wie es kommt, dass grosse
europäische Länder seit 1999 wieder Krieg führen. Selbst wenn man den
völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Serbien als Friedenskampagne verkaufen
wollte, ebenso die Kriege gegen Libyen und in Mali, und dafür unter Auslassung
der ›Rechenschaftspflicht‹ den Begriff der ›humanitären Intervention‹, ›R2P‹, resp. den
der ›Schutzverantwortung‹ bemühte: Es bleiben Verstösse gegen
das Völkerrecht, immer wieder durch die Vormacht in der NATO, der USA, gedeckt.
Und genau darin müsste die Schlussfolgerung nach der Lektüre von ›1813 - Kriegsfeuer‹ liegen: Zu erkennen, dass sich europäische
Völker immer noch und immer wieder fremdbestimmen und manipulieren lassen,
einerseits von einem undurchschaubaren Machtklüngel in Brüssel, andererseits
von einem ebenso dunklen Gebilde mit Sitz in Washington DC. So wie man Napoleon
bei frühzeitiger und entschlossener Gegenwehr, was natürlich auch die
Abschaffung der eigenen elitären Machtstrukturen des Feudalismus bedingt hätte,
stoppen können hätte, oder, nachdem er den Zenit seiner Macht überschritten
hatte, dies rechtzeitig erkennen und dementsprechend handeln sollen hätte,
genauso liesse sich heute der taumelnde Hegemon abschütteln – in der Hoffnung,
er möge sich besinnen und im eigenen Land für Ordnung im Chaos sorgen. Die
Bürger der USA hätten das genauso verdient wie damals die Bürger Frankreichs,
die ob all der Kriegszüge des Imperators in Europa verhasst waren. Doch was für
herrliche Mitmenschen sind die Franzosen, ebenso die Amerikaner….. Würden sie
nur von Machtanmassung in Ruhe gelassen und bekäme die Manipulationsmaschinerie
keine Nahrung mehr.
Kleine Republiken, die sich nicht in fremde Händel mischen
…… Wäre Kant damals erhört worden, wäre Frankreich Republik
geblieben und die umliegenden Feudalstaaten Republiken geworden; ohne den
Drang, grosse Flächenstaaten bilden zu wollen, hätten sich alle für neutral
erklärt, ohne sich deswegen entwaffnen zu lassen, so wie die Eidgenossen: Was
für blühende Landschaften wären in Europa entstanden! Die Epoche des
Imperialismus und die Weltkriege wären nicht nötig, auch nicht denkbar gewesen.
Eine Utopie? Das Modell Schweiz und die Schrift Immanuel Kants beweisen das
Gegenteil: Wenn dies die Schlussfolgerung nach der Lektüre des Buches von
Sabine Ebert ist, hat sich die Lektüre gelohnt. Wenn das Heil aber in einem
neo-napoleonischen Koloss mit Sitz in Brüssel oder Washington oder sonstwo
gesucht werden sollte, war die grosse Arbeit der Autorin ›für die Katz‹, wie man in der Schweiz sagt. Oder, um im Kontext der
Romanhandlung zu bleiben: Figuren wie die fiktive Jette Gerlach können auch als
Vorbilder genommen werden: Ihr Wirken für den Frieden und die Barmherzigkeit
mögen als Leitlinie dienen, nicht nur für Frauen. Henri Dunant und die
Entwicklung der Bewegung des Roten Kreuzes weltweit ist das real existierende
Beispiel dafür, dass es ginge, wenn man denn nur wollte! Wem das zu
idealistisch erscheint, mag sich vom Realismus der Schweiz überzeugen lassen:
Zum Feingefühl gehört die Robustheit, zum Roten Kreuz die immerwährende
bewaffnete Neutralität: der realistische Blick auf die Welt und den Homo
sapiens sapiens, der zwar zum Schlechten, wieviel mehr aber zum Guten fähig
ist.
Quelle: http://zeit-fragen.ch/index.php?id=1433 Zeit-Fragen
Nr. 15 vom 21. 4. 13 - Der Autor Tobias Salander ist Historiker Literatur:
Sabine Ebert ›1813 - Kriegsfeuer‹ München 2013 ISBN 978-3-426-65214-5
[1] Michael Tomasello ›Warum wir kooperieren‹
Berlin 2010. ISBN 978-3-518-26036-4 [2] Roca, René ›Wenn die Volkssouveränität wirklich eine Wahrheit werden soll ..…
Die schweizerische direkte Demokratie in Theorie und Praxis – Das Beispiel des
Kantons Luzern‹ Schriften zur
Demokratieforschung, Band 6. Herausgegeben durch das Zentrum für Demokratie
Aarau. Zürich 2012. ISBN 978-3-7255-6694-5. Vgl. Rezension in Zeit-Fragen Nr. 4
vom 21. Januar 2013 [3] Fredrik S. Heffermehl ›Das Ziel bleibt: Aus Schwertern Pflugscharen machen‹ Zeit-Fragen Nr. 31 vom 23. Juli 2012 [4] Kenneth N. Waltz ›Why Iran should get the bomb. Nuclear
balancing would mean stability‹ Foreign Affairs
July/August 2012. Hrsg: Council on Foreign Relations. Deutsche Übersetzung in Zeit-Fragen
Nr. 43/44 vom 11. Oktober 2012 [5] Adolf Portmann ›Aufbruch der Lebensforschung‹
Zürich 1965 [6] Vgl. Zeit-Fragen Nr. 45 vom 22. Oktober 2012 [7] Henri Dunant ›Eine Erinnerung an Solferino‹
Wien 1997 ISBN 3-95-008010-4 [8] Zbigniew Brzezinski: ›Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft‹ Frankfurt 1999 [›The Grand Chessboard‹
New York 1997] ISBN 3-596-14358-6 [9] Wilfried Scharnagel ›Bayern kann es auch allein. Plädoyer für den eigenen Staat‹ Köln 2012 ISBN 978-3-86995-048-8.
Vgl. Rezension in Zeit-Fragen Nr. 5 vom 28. Januar 2013 [10] ›Mit
der Kraft der zwei Währungen aus der Krise‹
Interview mit Prof. Dr. Wilhelm Hankel Zeit-Fragen Nr. 14 vom 8. April 2013
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