Stoppt das Affentheater! - Von Claudio Zanetti

Regierungskrisen haben auch ihr Gutes. Sie machen klar, dass wir Regierungen generell viel zu wichtig nehmen, ja, dass es auch ohne Regierung geht.

In England glaubte man zuerst, dass ein Volk auch ohne einen von Gott eingesetzten König lebensfähig ist, als das Haupt Karl I. auf dem Schafott aufschlug. Auch in Polen geht das öffentliche Leben völlig normal weiter, obwohl bei einem Flugzeugabsturz 96 Menschen, darunter zahlreiche Vertreter der »politischen, militärischen und geistlichen Elite« des Landes, ums Leben gekommen sind. Damit sind wir bereits bei der zentralen Frage: Wofür brauchen wir noch eine Regierung, wenn das öffentliche Leben auch ohne sie funktioniert, in den Schulen und Spitälern gearbeitet wird, die Züge fahren, die Versorgung mit Konsumgütern gewährleistet ist, Wasser aus dem Hahn fliesst und Strom aus der Steckdose kommt?
 
Auch in der Schweiz haben wir eine Regierung: sieben Personen, die im Prinzip nichts anderes zu tun hätten, als dafür zu sorgen, dass die genannten Abläufe reibungslos funktionieren. In einem reichen Staat, der im Laufe seiner 162jährigen Geschichte enorme Umwälzungen in Europa, darunter zwei Weltkriege, weitgehend unbeschadet überstanden hat, sollte das eigentlich zu schaffen sein. Doch anstatt ihren Kernauftrag zu erfüllen, und an das Land und seine Bevölkerung zu denken, verbringen unsere höchsten sieben Funktionäre ihre Zeit mit Kabalen und Hieben. Obwohl uns hoch und heilig versichert wurde,  dass der Bundesrat nach der Abwahl von Christoph Blocher geradezu vor Nettigkeit strotzen würde und das Gesprächsklima vorzüglich sei, ist die Realität eine andere: Das Klima ist von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Aus Angst vor Indiskretionen werden einander selbst die wichtigsten Informationen vorenthalten. Und was von einem Heer von Kommunikations-Fachleuten als offensive Kommunikation angepriesen wird, ist vor allemgezielte Desinformation. So verkommt Politik zu einer dieser unerträglichen Casting-Shows.
 
Womit wir heute konfrontiert sind, ist die logische Folge einer unseligen Entwicklung, die in den 90er Jahren im Zuge der Integrations-Diskussion ihren Anfang nahm. Unsere selbst ernannten Eliten begannen plötzlich vom nationalen Interesse zu reden, das sich nur in internationalen Gremien und Organisationen durchsetzen lassen. Die Wahl des neuen Vorsitzenden der UNO-Generalversammlung oder die Art und Weise, wie hierzulande wichtige Botschafterposten vergeben werden, zeigt, wie rasch persönliche und nationale Interessen durcheinandergeraten. Von der real existierenden Integrationprofitiert nur die Elite. Der Zeitpunkt, einzelne Personen zur Verantwortung ziehen zu wollen, ist längst überschritten. Fakt ist, dass die Funktionstüchtigkeit unserer Regierung nicht mehr gewährleistet ist. Also müssen neue, unverbrauchte Köpfe her!
 
Es stimmt ganz einfach nicht, dass jedes Volk die Regierung hat, die es verdient. Das Schweizervolk arbeitet hart, bezahlt brav seine Steuern und kommt auch seinen übrigen Bürgerpflichten nach. Dafür darf es mit Fug und recht erwarten, dass auch die Regierung ihre Arbeit macht - und zwar unabhängig davon, ob sich die einzelnen Regierungsmitglieder grün sind. Doch seit bald 20 Jahren scheinen sich die meisten unserer Regierungsmitglieder vor allem um die Frage zu kümmern, ob sie von der Schweizer Illustrierten eine Rose oder einen Kaktus erhalten. Die Rechte und Freiheiten des Schweizervolks, die Förderung der gemeinsamen Wohlfahrt, Unabhängigkeit und Neutralität und all die anderen Werte, auf die man einen feierlichen Eid geleistet hat, wurden verdrängt, auf dem Altar der persönlichen Eitelkeiten geopfert. Je wichtiger sich eine Regierung nimmt, desto schlechter ist das für das Volk. Zum Bundesrat sollte nur gewählt werden, wer seine Aufgabe darin sieht, dem Volk, das ihn für eine beschränkte Zeit mit Macht ausgestattet hat, zu dienen. Nur so wird das herrschende Affentheater ein Ende haben. Nur so wird unsere Regierung zu der Kollegialität zurückfinden, die unser System jahrzehntelang auszeichnete. Gut, dass im Herbst 2011 die Eidgenössischen Räte - und damit der Wahlkörper für die Regierung - neu gewählt werden.
 
 
Quelle: Berner Zeitung vom 26. Juni 2010http://www.blog.zanetti.ch/?cat=5   Staat und Demokratie von Claudio Zanetti - 27. 6. 2010