Schlimmer als Guantánamo - Die Folterlager Afghanistans - Von Alexander Bahar

Während das »befreite« Afghanistan, von (Selbstmord-)Anschlägen der »Taliban« begleitet, unter dem »Schutz« der NATO-Bajonette seinen neuen (alten) Präsidenten wählte,

darben weiterhin Tausende des Terrorismus bezichtigte Gefangene weitestgehend rechtlos in den US-Sonderlagern des besetzten Landes. Lange Zeit hatte sich die internationale Aufmerksamkeit vor allem auf die Mißhandlung und Folterung von Gefangenen auf der US-Marinebasis in Guantánamo Bay sowie im Gefängnis von Abu Ghraib im Irak konzentriert. Nachdem infolge der Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten immer mehr Details über Kriegsverbrechen der USA im Zuge des »Antiterror«-Krieges in Afghanistan bekannt geworden waren, präsentierte die New York Times am 11. Juli in großer Aufmachung neue Enthüllungen über ein Massaker an etwa 2000 Taliban-Kriegsgefangenen in Dascht-i-Leili im Norden Afghanistans. Dem Bericht zufolge hatte die frühere US-Regierung unter George W. Bush alles unternommen, um den Massenmord zu vertuschen. Das Gemetzel hätten afghanische Verbündete der Amerikaner unter dem usbekischen Warlord Abdul Raschid Dostum auf dessen Befehl hin im November 2001 begangen. Dostum, der dem Kabinett von Hamid Karsai als Verteidigungsminister seit 2001 angehört hatte, war 2008 entlassen worden, wurde aber unlängst gegen den Widerstand der Obama-Regierung erneut mit diesem Amt betraut. Der afghanische Kriegsherr stand seinerzeit im Sold des US-Geheimdienstes CIA und arbeitete eng mit den US-Special Forces zusammen. Hohe Regierungsbeamte hätten deshalb erfolgreich die Ermittlungen mehrerer US-Behörden, darunter des FBI und des State Departments, gegen den für seine notorische Grausamkeit berüchtigten Potentaten unterbunden. Dostum ist nur einer von mehreren afghanischen Warlords der früheren Nordallianz, die sich die USA im Kampf gegen die Taliban als Verbündete auserkoren hatten. Etliche von ihnen übernahmen später wichtige Regierungsposten in der US-gestützten Marionettenregierung Karsai.
 
US-Präsident Obama sah sich nach dem Bericht der New York Times dazu veranlaßt, eine Prüfung anzuordnen, sprach sich allerdings gegen die Absicht seines Justizministers Eric Holder aus, einen Sonderermittler einzusetzen, der neben Foltervorwürfen gegen CIA-Mitarbeiter auch das Massaker von Dascht-i-Leili untersuchen sollen hätte. Holder ließ mittlerweile durchblicken, daß er offenbar nur solchen Folterfällen nachzugehen gedenkt, in denen Foltertechniken wie das »Waterboarding« »zu häufig wiederholt« wurden.
 
»Massaker in Scharif«
Der von der New York Times skandalisierte Massenmord steht in einer Reihe mit anderen Kriegsverbrechen wie etwa dem Blutbad in der Festung Kala-i-Dschanghi vom November 2001. Um einen angeblichen Gefangenenaufstand in der bei Masar-i-Scharif im Norden Afghanistans gelegenen Festung niederzuschlagen, hatten US-Flugzeuge und -Hubschrauber die Anlage aus der Luft bombardiert. Bis zu 800 Gefangene wurden dabei getötet, lediglich 86 überlebten, darunter auch der anschließend vom US-Militär auf höhere Anweisung mißhandelte und mit dem Tode bedrohte »amerikanische Taliban« John Walker Lindh. Bei den Opfern in Kala-i-Dschanghi handelte es sich um Taliban-Kämpfer, die sich am 21. November 2001 in Kundus, der letzten Taliban-Hochburg in Nordafghanistan, den Truppen Dostums ergeben hatten, also in jeder Hinsicht den Status von Kriegsgefangenen erfüllten. Von den rund 8000 Kämpfern, die in Kundus kapituliert hatten, waren jedoch nur 500 bis 800 nach Kala-i-Dschanghi verbracht worden. Bald tauchten Informationen auf, denen zufolge auch andere Kämpfer massakriert worden waren. Im Januar und Februar 2002 besuchte ein Team der in Boston ansässigen Menschenrechtsorganisation »Physicians for Human Rights« (PHR) mehrere Gräber in der Gegend von Masar-i-Scharif und Shibarghan. Es gelangte zu dem Schluß, daß zwei der untersuchten Massengräber jüngeren Datums seien. In seinem Untersuchungsbericht zitierte das Team Zeugenaussagen von Anwohnern, die Containerlastwagen beim Entladen und Bulldozer beim Verscharren von Leichen beobachtet hatten. In einem Brief an den damaligen afghanischen Interimspräsidenten Hamid Karsai vom 1. März 2002 schrieb die Organisation über ihr zu Ohren gekommene »Vermutungen von gut informierten internationalen Beobachtern, daß eine dieser Stätten nahe der Stadt Shibarghan möglicherweise dazu benutzt wurde, um Taliban-Gefangene loszuwerden, die sich im November und Dezember 2001 der Nordallianz ergeben hatten«. Anfang Juni 2002 führte dann der irische Dokumentarfilmer Jamie Doran an verschiedenen Orten in Europa seinen damals noch unvollendeten Film »Massaker in Scharif« vor, in dem er wesentlich präzisere Zeugenaussagen über ein Massaker an bis zu 3 000 Taliban präsentierte. In dem Film berichten Zeugen, daß sich amerikanisches Militär an dem bewaffneten Angriff der Nordallianz auf die in der Festung Kala-i-Dschangi gefangengehaltenen Taliban beteiligt hätte.
 
Den von Doran (im Jahr 2001) interviewten Zeugen zufolge wurden die Gefangenen von Kundus in Gruppen von je 200 bis 300 Personen von den US-Verbündeten der sogenannten Nordallianz bei großer Hitze dichtgedrängt in metallene Transportcontainer ohne Luftlöcher und Trinkwasser gepfercht, die sie zum Gefängnis Shibarghan bringen sollten. Unterwegs erstickte rund die Hälfte der Gefangenen oder wurde getötet, als Soldaten von außen auf die Container schossen. Andere wurden hingerichtet, als die Container bei einem Massengrab in der Wüste entladen wurden (ein entsprechendes Massengrab haben Mitarbeiter der UN im vergangenen Jahr entdeckt). Die Zeugen berichten auch, daß US-Militär anwesend war, als das Massaker stattfand. Afghanische Soldaten bezeugen, die überlebenden Kriegsgefangenen seien nach ihrer Ankunft im Gefängnis von Shibarghan gefoltert und einige von US-Soldaten willkürlich getötet worden 1. Ganz offensichtlich hatte General Abdul Raschid Dostum mit stillschweigender Billigung der anwesenden US-Militärs den Befehl zu diesem Massenmord gegeben. »US-Militär und Geheimdienstmitarbeiter haben zusammen mit General Dostum operiert und auch gemeinsam die Kapitulation der Taliban-Gefangenen angenommen«, erklärte Susannah Sirkin, stellvertretende Direktorin von PHR Mitte Juli gegenüber CNN. Neben PHR hatten andere Menschrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, insbesondere aber auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) immer wieder auf die Massaker hingewiesen, die im Zuge der US-Invasion im Herbst 2001 mit Duldung sowie unter Beteiligung der US-Streitkräfte sowohl an entwaffneten Taliban-Kämpfern als auch an Zivilisten begangen wurden. Immer wieder hatten Menschenrechtsorganisationen die USA und die NATO aufgefordert, diese Kriegsverbrechen zu untersuchen. Sie stießen jedoch auf so gut wie keine Resonanz. Es spricht vieles dafür, daß die »Enthüllung« durch die New York Times zum jetzigen Zeitpunkt den Zweck verfolgte, den Kriegsverbrecher Dostum rechtzeitig vor den Präsidentschaftswahlen am 20. August bloßzustellen, um sich so von der diskreditierten und bei der afghanischen Bevölkerung unbeliebten Regierung Karsai abzusetzen. Wie es die Obama-Regierung selbst mit dem Völkerrecht hält, hat sie mit ihrer jüngsten Großoffensive sowie insbesondere mit der Ankündigung zur gezielten Tötung von Drogenhändlern demonstriert; deren profitable Geschäfte hatten die US-Besatzer zuvor nach Kräften gefördert, indem sie sich im Kampf gegen Al Qaida und Taliban mit tief ins Rauschgiftgeschäft verwickelten Warlords und Milizenführern verbündet hatten.
 
US-Foltergefängnis Bagram
Im Jahr 2004 dokumentierte Human Rights Watch in dem Bericht »Enduring Freedom - Mißhandlungen durch US-Streitkräfte in Afghanistan« eine Reihe erschreckender Zeugnisse von Mißbrauch durch die US-Streitkräfte und das mit ihnen kooperierende afghanische Militär. Neben Fällen von willkürlichen und brutalen Verhaftungen, vielfach aufgrund falscher oder fehlerhafter Informationen, sowie mutwilligem Schußwaffengebrauch bei der Festnahme von Zivilpersonen selbst innerhalb von Wohngebieten, zeigte der Bericht die Mißhandlung von Häftlingen in Gefängnissen auf den US-Militärstützpunkten in Bagram, Kandahar, Jalalabad und Asadabad auf. Ehemalige Häftlinge berichteten, daß US-Soldaten sie verprügelt oder mit kaltem Wasser überschüttet und sie frierend in der Kälte stehengelassen hätten. Viele seien zudem tagelang verhört, über längere Zeit am Schlafen gehindert und über mehrere Stunden gefesselt in schmerzhafte Stellungen gezwungen worden. Einige Gefangene berichteten, man habe sie über längere Zeiträume an die Decke gekettet. Mit geschätzten 650 Insassen ist der Gefangenentrakt auf der Militärbasis Bagram, der im US-Militärjargon als BHF, »Bagram Holding Facility« bezeichnet wird, nördlich der afghanischen Hauptstadt Kabul das weltweit größte US-Gefängnis außerhalb der Vereinigten Staaten. Alle hier internierten, in Afghanistan oder an der Grenze zu Pakistan festgenommenen Terrorverdächtigen waren bislang praktisch rechtlos. Das Gefängnis wird derzeit massiv ausgebaut und soll am Ende 1200 oder mehr Gefangene aufnehmen können, denn zweifellos wird der von der Obama-Regierung forcierte Krieg in Afghanistan und Pakistan künftig zu vermehrten Festnahmen führen. Bereits jetzt vergeht kaum ein Tag, an dem US-Hubschrauber hier nicht neue Verdächtige abladen.
 
Bislang konnten die USA diese Kriegsgefangenen nach Bagram überführen, ohne die Beobachtung durch die Öffentlichkeit fürchten zu müssen. Seit kurzem jedoch geraten auch die afghanischen Foltergefängnisse der USA zunehmend in den Fokus der Medien. In einer ausführlichen BBC-Dokumentation berichteten ehemalige Bagram-Häftlinge am 24. Juni ausführlich über Folter und Mißhandlungen. Zwei Monate lang hatte der britische Radiosender recherchiert und dabei 27 ehemalige Insassen des Foltergefängnisses befragt. Laut BBC waren alle 27 zwischen 2002 und 2008 in dem Stützpunkt gefangengehalten worden. Das US-Militär hatte den Männern vorgeworfen, dem Terrornetzwerk Al-Qaida oder den Taliban anzugehören oder sie zu unterstützen. Gegen keinen der Befragten war jemals Anklage erhoben worden. »Sie haben Sachen mit uns gemacht, die man keinem Tier antun würde«, berichtet ein als Dr. Khandan bezeichneter Exgefangener. »Im Winter wurde man mit kaltem Wasser übergossen, im Sommer mit heißem.« Wie in Guantánamo habe man auch in Bagram versucht, Gefangene durch tagelangen Schlafentzug gefügig zu machen. Gefangene sollen mit Waffen und mit Hunden eingeschüchtert, geschlagen (auch auf ihre Wunden) und an den Füßen aufgehängt worden sein. Bei Verhören habe man Gefangenen gedroht, sie zu erschießen, wenn sie nicht gestehen würden. Bereits im Februar 2005 hatte die US-Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU) durch Gerichtsbeschluß die Veröffentlichung von bis dahin als geheim klassifizierten Unterlagen der US-Armee bewirkt. Den Dokumenten zufolge wurden in Afghanistan massenhaft Fotos von Scheinhinrichtungen vernichtet, nachdem die Folterbilder aus Abu Ghraib im Frühjahr 2004 für weltweites Aufsehen gesorgt hatten.
 
Das Pentagon wies die BBC-Vorwürfe in gewohnter Manier zurück. In Bagram würden alle internationalen Standards erfüllt, behauptete ein Sprecher des US-Kriegsministeriums. Regelverstöße habe es wohl in der Vergangenheit gegeben. Die dafür Verantwortlichen seien aber bereits zur Rechenschaft gezogen worden. Tatsächlich diente das Sonderlager in Bagram, im Militärjargon »Screening point« genannt, lange Zeit als eine Art Durchlaufstation für Verdächtige im »Krieg gegen den Terror«, die nach kurzer Prüfung von dort nach Guantánamo oder im Rahmen der als »Extraordinary Rendition« verharmlosten  Verschleppungspraxis in eines der rund um den Globus angesiedelten CIA-Gefängnisse »überstellt« wurden. Ende 2002 hatten die US-Truppen begonnen, ausgediente Hangars auf dem ehemaligen sowjetischen Luftlandestreifen in Bagram als Gefangenenbunker zu benutzen. Alle in Afghanistan festgenommenen Verdächtigen wurden dorthin geflogen. Seit die US-Regierung im Herbst 2004 entschied, keine weiteren Gefangenen mehr nach Guantánamo zu bringen, stieg die Zahl der Insassen in Bagram sprunghaft auf mehrere hundert an. Weil fast alle Insassen im Kampfgebiet von Afghanistan oder Pakistan festgenommen wurden und auch dort festgehalten werden, gilt für sie das Kriegsrecht; in diesem Punkt unterscheidet sich das Folterlager Bagram juristisch vom US-Sonderlager auf Guantánamo Bay. Nahezu alles ist hier militärische Geheimsache. Journalisten, die Bagram besichtigen wollen, müssen eine Grundsatzerklärung unterschreiben, in der sie sich verpflichten, keine Foto- und Filmaufnahmen von Häftlingen oder Häftlingseinrichtungen in Afghanistan zu machen, sofern dafür nicht die Zustimmung des zuständigen US-Presseoffiziers vorliegt. Auch werden keine Interviews mit Häftlingen zugelassen.
 
Lediglich das IKRK darf hin und wieder einmal dem streng abgeschirmten Teil der US-Basis einen Kontrollbesuch abstatten. »Bagram ist noch immer ein schwarzes Loch«, erklärte Carroll Bogert von Human Rights Watch Ende Januar gegenüber dem Spiegel, »das Lager ist abgeschotteter als Guantánamo«. Anders als in Guantánamo hatten die Gefangenen von Bagram bislang auch keinen Zugang zu Anwälten. Unter Verweis auf das Kriegsrecht argumentierte die Bush-Regierung stets, das Militär könne die Häftlinge auf unbegrenzte Zeit festhalten, oder zumindest solange, bis der Krieg in Afghanistan beendet sei. Diese Linie setzte die Obama-Regierung fort. Als im Februar vier Insassen, die bereits seit rund sechs Jahren in Bagram einsitzen, versuchten, ihre Haft vor einem US-Gericht anzufechten, bestritt ihnen auch die neue US-Regierung dieses Recht. Wie die Bush-Administration vertrat sie die Ansicht, die US-Gefangenen in Afghanistan hätten keinen Anspruch auf eine Prüfung ihrer Haft vor einem amerikanischen Gericht. Dann jedoch gestand überraschend Anfang April ein US-Distriktrichter drei Insassen des Lagers das Recht zu, ihre Haft vor einem US-Gericht überprüfen zu lassen. Alle drei Männer - ein Afghane, ein Jemenit und ein Tunesier - wurden außerhalb Afghanistans, vermutlich in Pakistan, festgenommen und dann nach Bagram gebracht. In seiner Entscheidung berief sich Richter John Bates explizit auf die diversen Urteile, die US-Gerichte bis hoch zum Supreme Court über Klagen von Guantánamo-Insassen gefällt hatten. Im Gegensatz zur Haltung der US-Regierung argumentierte der Richter, die Fälle von Guantánamo und Bagram seien juristisch gleich zu behandeln.
 
Zentrum systematischer Brutalität
Mitte Juni 2008 hatte die US-Zeitung McClatchy Newspapers eine mehrteilige Serie publiziert, die auf einer eigens von der Zeitung durchgeführten mehrmonatigen Studie basiert. Dem Autor der Serie, Tom Lasseter, zufolge ergab die Untersuchung, bei der u.a. 66 ehemalige Gefangene der USA interviewt wurden, daß viele dieser »Terrorverdächtigen« (»vielleicht Hunderte«) »auf der Grundlage von fadenscheinigen oder fabrizierten Beweisen, alten persönlichen Rechnungen oder gegen großzügige Bezahlung«  »fälschlicherweise gefangengenommen« wurden. Bei den meisten der Interviewten habe es sich um »niederrangige Taliban-Dienstgrade, unschuldige afghanische Bauern oder gewöhnliche Kriminelle« gehandelt. Der eigentliche Grund für ihre jahrelange Inhaftierung und rechtlose Stellung war in vielen Fällen das vom US-Militär auf die Ergreifung mutmaßlicher Taliban- oder Al-Qaida-Mitglieder ausgesetzte Kopfgeld: ein verlockender Anreiz für Denunziationen jedweder Art: oft wegen Jahre zurückliegender Rivalitäten mit Nachbarn oder Familienmitgliedern oder mit konkurrierenden Milizen. In den Interviews berichteten die ehemaligen Häftlinge von schweren physischen Mißhandlungen, die sie in Bagram oder Kandahar im Süden Afghanistans, den beiden afghanischen Hauptdurchgangsstationen auf der Route nach Guantánamo, erlitten hatten. Diese seien insbesondere in der Zeit von Ende 2001 bis 2004 weit schlimmer gewesen als in Guantánamo. Ihre Berichte werden von Vernehmern bestätigt, die in den beiden Gefängnissen Dienst taten. Deren Aussagen zufolge wurden die Wachen zu Folterungen angehalten, um Gefangene vor den Verhören »weich« zu klopfen. Außer über erlittenen Mißbrauch in Kandahar, Bagram und Guantánamo sprachen verschiedene Exgefangene auch über Mißhandlungen in den FOBs (Forward Operation Bases) der US-Besatzer im Osten und Süden von Afghanistan, wo man sie vor ihrem Transfer nach Kandahar oder Bagram festgehalten hatte.
 
Zeugen unerwünscht
Bagram war der Untersuchung von McClatchy Newspapers zufolge das brutalste der großen US-Gefangenenlager. Ehemalige Wachen und Gefangene, die McClatchy interviewte, sagten aus, Bagram sei von Ende 2001 an mindestens 20 Monate lang ein Zentrum systematischer Brutalität gewesen. Neu eintreffende Gefangene wurden in die höhlenartigen Katakomben eines ehemaligen sowjetischen Lagerhauses für Flugzeugteile geworfen, wo es den ganzen Tag über düster war, und dort in Verschlägen gefangengehalten, wo sie weder mit den Wachen sprechen noch diese auch nur anschauen durften. Wenn Tom Lasseter das Verhalten des US-Militärs in Bagram schildert, fühlt man sich unwillkürlich an Berichte aus Nazi-Konzentrationslagern erinnert: »Amerikanische Soldaten trieben die Gefangenen in Verschlägen zusammen, wo sie von rasiermesserscharfem NATO-Draht eingezäumt waren, die Art (von Draht), die benutzt wird, um Vieh zusammenzuhalten.« »Die Wachen schlugen, traten und stießen viele der Männer, bis sie vor Schmerz zusammenbrachen. US-Soldaten fesselten und zerrten andere Gefangene in kleine Isolationsräume, hängten sie dann an ihren Handgelenken an Ketten auf, die von der Maschendraht-Decke herabhingen.« »Der U.S. War Crimes Act von 1996«, so die Zeitung, »sieht für derartige Mißhandlungen die Todesstrafe vor«.
 
Aminullah, ein afghanischer Gefangener, der etwas mehr als drei Monate in Bagram gefangen war, erzählte: »Ich wurde geschlagen und getreten in Bagram (…). Wenn sie in Bagram einen Mann nachts zum Verhör holten, sahen wir am nächsten Morgen, wie er fast tot auf einer Trage herausgebracht wurde.« Ein anderer Afghane, Nazar Chaman Gul, war von US-Soldaten aufgegriffen worden, nachdem ihn ein Stammesrivale, der sich an einem anderen Mann gleichen Namens rächen wollte, denunziert hatte. Gul brachte ebenfalls drei Monate in dem Höllenloch zu. Er sagte, man habe ihn etwa fünf Tage lang geschlagen: »Amerikanische Soldaten kamen in den Verschlag, wo er auf dem Boden schlief und rammten ihm ihre Kampfstiefel in den Rücken und in den Magen.« Gul sagte: »Zwei oder drei von ihnen kamen plötzlich herein, fesselten meine Hände und schlugen mich.« Die afghanische Regierung stationierte schließlich eine Gruppe von (nicht gerade für ihre Sensibilität gegenüber Menschenrechten bekannten) Geheimdienstoffizieren in Bagram, die aber von den US-Truppen wieder hinausgeworfen wurden. Ganz offensichtlich wollte man keine Zeugen - selbst nicht aus den Reihen der eigenen Verbündeten.
 
Beinahe zeitgleich mit der von McClatchy Newspapers veröffentlichten Serie publizierte die Menschenrechtsorganisation »Physicians for Human Rights« (Ärzte für Menschenrechte, PHR) einen umfassenden Untersuchungsbericht über elf ehemalige Gefangene der USA im »Anti-Terrror«-Krieg. Ärzte, Psychiater und Psychologen von PHR untersuchten elf Gefangene, die über einen längeren Zeitraum in dem von den USA nach dem 11. September 2001 etablierten Gefängnissystem interniert worden waren. Alle von ihnen wurden schließlich ohne Anklage freigelassen. Die Untersuchung kam zu dem Ergebnis, daß es vor allem in den US-Gefängnissen in Afghanistan zu Mißbrauch und Mißhandlungen kam, und daß viele der Gefangenen auf Grund falscher Anschuldigungen festgehalten wurden. Als Nahrung hätten die Gefangenen nur kalte Mahlzeiten erhalten, ungenießbares verschimmeltes Brot, Getreide und Bonbons und viel zu wenig Wasser, erinnert sich ein Gefangener namens Adeel. Viele, auch er selbst, seien davon krank geworden. Manche Gefangene seien über Monate mit Handschellen gefesselt gewesen. Auch sei ihm keine Matratze zur Verfügung gestellt worden, so daß er auf dem nackten Holzboden schlafen mußte. Selbst Zahnbürste und Zahnpasta habe man ihm vorenthalten. Er habe in Bagram so gut wie nicht schlafen können, so Adeel, da der Sektor in dem Hangar 24 Stunden am Tag mit sehr starkem Licht beleuchtet war und die ganze Zeit über laute Rockmusik gespielt wurde. Infolge all dieser Bedingungen habe er jedes Zeitgefühl verloren und nicht mehr zwischen Nacht und Tag unterscheiden können. Manche der Gefangenen, einschließlich er selbst, seien nie nach draußen gebracht worden. »Zwei Monate lang habe ich die Sonne nicht gesehen«, sagte Adeel. »Der Körper hält das nicht aus«. Die an den Gefangenen in den US-Einrichtungen in Bagram und Kandahar verübte Gewalt schloß Prügel mit Stöcken und Fäusten ein, Tritte in den Magen und die Genitalien und Schläge auf den Kopf. Haydar, der vor seinem Transfer nach Guantánamo in Kandahar gefangengehalten wurde, verlor in der Folge drei Zähne, und Rasheed, der sowohl in den Einrichtungen von Bagram als auch von Kandahar eingekerkert war, verlor das Bewußtsein und mußte in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Youssef, Anfang dreißig,  Ende 2001 oder Anfang 2002 an der afghanischpakistanischen Grenze festgenommen, wurde in Kandahar bei Verhören mit Stöcken und Fäusten geschlagen und auch getreten. Während der Zeit in Kandahar war Youssef häufig über längere Zeiträume nackt, oder sein Kopf wurde mit einer Kapuze verhüllt, er wurde mittels Hunden eingeschüchtert und wiederholt attackiert, indem man ihn mit Gewalt gegen eine Mauer warf. Auch verabreichte man ihm Elektroschocks, wobei er das Gefühl hatte, »als ob meine Venen herausgezogen würden«. Nach ungefähr sechs Wochen wurde er nach Guantánamo ausgeflogen. Auch der Deutschtürke Murat Kurnaz, der nach einer Reise in die Region im Jahr 2001, kurz vor seiner Rückkehr nach Deutschland, von der pakistanischen Polizei festgenommen und von dieser für 3 000 Dollar an die US-Streitkräfte verkauft wurde, berichtete *, daß ihm während seiner Gefangenschaft auf dem US-Militärstützpunkt in Kandahar wiederholt Elektroschocks verabreicht wurden, während ihn seine Peiniger verhörten. Auch von ausgeklügelten, an die mittelalterliche Inquisition erinnernden Folterpraktiken berichtet Kurnaz. Auf dem Weg zum Verhör habe ihn das »Escort-Team« in einen Verschlag aus Blechwänden und NATO-Draht geführt. Dort sei er mit einer Kette an einem Haken aufgehängt worden, der an einem Balken befestigt war, wie in einer Fleischerei«. »Die Soldaten nehmen die Kette und führen sie unter meinen Handschellen hindurch. Die Kette läuft über den Haken, wie bei einem Flaschenzug. Am Haken ist eine Rolle befestigt. Ich werde daran hochgezogen, bis meine Füße den Boden nicht mehr berühren. Sie arretieren die Kette an dem Balken. (…) Die Handschellen schnüren das Blut in meinen Händen ab. Ich versuche mich zu bewegen. Ich kann meine Schultern anziehen, meinen Kopf im Nacken rollen und die Beine schwingen. (…) Nach einer Weile scheinen die Handschellen direkt in die Knochen zu schneiden. Die Schultern fühlen sich an, als reiße jemand unablässig an meinen Armen. (…) jede Bewegung schmerzt, und sei sie noch so klein. Vor allem in den Handgelenken und an den Ellenbogen. (… ) Ich weiß jetzt, man kann dabei sehr schnell sterben. Der Körper hält das nicht aus.« Fünf Tage ist Murat  Kurnaz auf diese Weise aufgehängt. Dreimal am Tag wird er von Soldaten heruntergelassen und von einem Arzt inspiziert. Seine Hände sind geschwollen, sie schmerzen nur am Anfang, danach spürt er sie nicht mehr. Neue Schmerzen, nun an anderen Stellen des Körpers, wie in der Herzgegend, stellen sich ein. Immer wieder kommt der Vernehmer, will wissen, ob der Gefangene seine Meinung geändert hat, stellt immer wieder die gleichen Fragen. »Als ich sie wieder herunterlassen, kann ich nicht mehr stehen. Meine Beine knicken ein, als wären sie Streichhölzer, und ich falle zu Boden«. Doch immer wieder ist ein Arzt zur Stelle, um den Gefangenen am Leben und damit leidens- und aussagefähig zu erhalten. »Als sie mich dann von hinten aufhängen, fühlt es sich an, als würden meine Schultern brechen. Sie binden meine Hände hinter meinem Rücken und ziehen mich herauf.« Während dieser Prozedur wird Kurnaz Zeuge des Todes eines anderen, auf ähnliche Weise aufgehängten Gefangenen: »Ich kenne den Mann nicht. Er hängt wie ich mit den Händen nach oben von der Decke herab. Ich kann nicht sagen, ob er tot ist. Sein Körper ist angeschwollen und blau. Nur an manchen Stellen ist er fahl und weiß. Ich sehe, daß viel Blut in seinem Gesicht klebt, es ist geronnen und ganz schwarz. Sein Kopf hängt zur Seite. (…) Ich glaube, der Mann ist tot. Er sieht aus wie einer, der im Schnee erfroren ist.« »Heute weiß ich«, schreibt Murat Kurnaz  rückblickend, »daß viele so gestorben sind. Auch andere Gefangene haben mitangesehen, wie Leute beim Aufhängen starben.« Immer wieder seien Leute von einem Verhör nicht zurückgekehrt, das habe sich in Guantánamo herumgesprochen.
 
Todesursache: Mord
Die Brutalität in Bagram eskalierte im Dezember 2002, als US-Soldaten in einem infamen Akt der Brutalität zwei afghanische Gefangene, Habibullah und Dilawar, zu Tode prügelten, nachdem sie diese zuvor an ihren Handgelenken aufgehängt hatten. Beide starben nur wenige Tage nach ihrer Inhaftierung, ganz offensichtlich an den Folgen von Folter. Über diese Todesfälle wurde in den folgenden Jahren vielfach berichtet. Die nach erfolgter Autopsie von der US-Militärpathologin Elizabeth Rouse, damals Oberstleutnant der US-Luftwaffe, ausgestellten Totenscheine nennen als Todesursache Mord. Der 30jährige Mullah Habibullah, der Bruder eines Taliban-Kommandeurs, kam Anfang Dezember 2002 ums Leben. Er war immer wieder Ziel sogenannter peronealer (von »perone«, giechisch: Wadenbein, den Nervus peronaeus betreffend; A.B.) und anderer Schläge und wurde häufig gefesselt. Habibullahs Tod »ist auf die schweren Verletzungen an seinen Beinen zurückzuführen, die wahrscheinlich ein Blutgerinnsel hervorriefen, das bis zum Herz wanderte und die Blutzufuhr der Lunge blockierte«. Der Verteidiger eines im Falle Habibullah angeklagten Soldaten sagte: »Mein Mandant hat stets in Übereinstimmung mit den Standardverfahrensregeln gehandelt, die in den Einrichtungen in Bagram galten.« Dilawar, ein 22jähriger Zivilist, Vater eines kleinen Kindes, wurde festgenommen, als er mit seinem Taxi in der Nähe einer US-Militärbasis unterwegs war. Das US-Militär beschuldigte ihn, ein Kurier für Al-Qaida zu sein, dabei war er sehr wahrscheinlich nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Er starb am 10. Dezember, sieben Tage nach dem Tod von Habibullah - wie dieser von US-Vernehmungsbeamten zu Tode geprügelt. Seine Beine wiesen vielfache Verletzungen auf, die ebenfalls durch peroneale« Schläge hervorgerufen waren. Ein Militärpolizist sagte aus, Dilawar sei innerhalb von 24 Stunden mehr als hundertmal auf diese Art und Weise geschlagen worden. Er wurde »während der letzten 4 Tage an den Handgelenken an der Zellendecke angekettet, was dann zu seinem Tod geführt« habe. Die Verletzungen, die ihm zugefügt wurden, werden im Totenschein so beschrieben: »Verletzungen durch Gewaltanwendung mit stumpfen Gegenständen gegen seine unteren Extremitäten, die eine Erkrankung der Herzschlagader verstärkten.« Ein an der Obduktion beteiligter Militärpathologe sagte aus, das Gewebe der Beine sei regelrecht »zu Brei zermahlen worden«. Laut seiner Kollegin Elizabeth Rouse war das Gewebe »am Auseinanderfallen«. Sie gab an, »vergleichbare Verletzungen bei von Bussen überrollten« Personen beobachtet zu haben. In einer beeidigten Zeugenaussage sagte Rouse, daß die Verletzungen der Beine »so ausgeprägt« gewesen seien, daß aller Wahrscheinlichkeit nach »eine Amputation nötig gewesen wäre«. Christopher Beiring, Hauptmann der US-Armee, der die 377. Militärpolizeikompanie von Sommer 2002 bis Frühjahr 2003 kommandierte, ist der einzige amerikanische Offizier, der für die Morde an Habibullah und Dilawar zur Verantwortung gezogen wurde. Er kam mit einem »Verweis« davon. Beiring erzählte den Militärermittlern, er habe keine förmliche Schulung erhalten, wie man eine Kompanie der Militärpolizei führt, nur eine kurze Einweisung und Training »on-the-job«. Willie V. Brand, der Soldat, gegen den die schwerwiegendsten Anklagen erhoben wurden, gab zu, daß er Dilawar während der Sitzung in einer Isolationszelle ungefähr 37mal geschlagen habe, 30mal allein auf den besonders empfindlichen Bereich um die Knie. Brand, dem für diese Tat bis zu 11 Jahren Gefängnis drohten, wurde lediglich zum Gefreiten degradiert, nachdem man ihn für schuldig befunden hatte, Dilawar attackiert und verstümmelt zu haben. »Jeder schlug einen Gefangenen« Im Rahmen der Militäruntersuchung nach dem Tod von Habibullah und Dilawar bezeugten US-Soldaten, daß die Mißhandlung von Gefangenen in Bagram vom Sommer 2002 bis Frühjahr 2003, also über eine Zeitspanne von sieben Monaten, exzessive Formen angenommen habe. Ehemaligen US-Wachsoldaten zufolge seien die Gefangenen oft wegen der kleinsten Regelverletzung geschlagen worden. Abdul Haleem, ein Pakistani, gab an, daß ihn US-Soldaten im Jahr 2003 in Bagram auf den Boden geworfen und gegen seinen Kopf getreten hätten, »als ob sie Fußball spielen  würden«. Adel Al-Zamel, ein Kuwaiti, berichtete, Wachen hätten ihn in Bagram im Lauf des Frühjahrs 2002 häufig mit Stöcken bedroht und gedroht, ihn zu vergewaltigen, auch erinnere er sich noch an die »Schreie aus dem Verhörraum« von Gefangenen, die in Bagram geschlagen wurden. »Ab einem gewissen Zeitpunkt schlug jeder einen Gefangenen«, rechtfertigte sich Brian Cammack, ein früherer Verhörspezialist der 377. Kompanie, gegenüber den Militärermittlern. Cammack wurde zu drei Monaten Militärhaft verurteilt und
unehrenhaft aus der Army entlassen, weil er Habibullah geschlagen hatte. Der Soldat Jeremy Callaway, der von August 2002 bis Januar 2003 in der 377. Militärpolizeikompanie diente und zugab, etwa zwölf Gefangene in Bagram geschlagen zu haben, erklärte den Ermittlern in einem beeidigten Zeugnis, er habe ein ungutes Gefühl dabei gehabt, Befehlen, »die Gefangenen psychisch und physisch zu brechen«, Folge zu leisten. »Ich denke, man kann das Folter nennen«, sagte er.
 
Captain Carolyn Wood, der die Vernehmer in Bagram unterstanden, wurde im Sommer 2003 ins Gefängnis Abu Ghraib im Irak geschickt und leitete dort ab August die Vernehmungen. Als Kommandeurin über 20 Analytiker und nachrichtendienstliche Vernehmer hatte Wood seit Juli 2002 in Bagram die Verhörtechniken ausgeweitet: u. a. durch den Einsatz von Streßpositionen, bis zu 30 Tage dauernder Isolationshaft, die Wegnahme von Kleidungsstücken und die Ausbeutung von Ängsten der Gefangenen wie etwa vor bellenden Hunden. Im Gefängnis Abu Ghraib waren ihre Erfahrungen aus dem Folterlager Bagram gefragt. Für ihren vorbildlichen Einsatz in Afghanistan und im Irak wurde Wood von der US-Army später mit zwei »Bronze Stars«belohnt. Der einzige US-Amerikaner, der für seine Mitwirkung an der Mißhandlung und Tötung von US-Gefangenen in Afghanistan bis heute ernsthaft bestraft wurde, ist David A. Passaro, der damals Mitarbeiter eines paramilitärischen CIA-Vertragsunternehmens war. Der frühere Special Forces-Sanitäter und US-Army-Ranger wurde zu 8 Jahren und 4 Monaten Gefängnis verurteilt, nachdem ein US-Gericht ihn für schuldig befunden hatte, den am 21. Juni 2003 verstorbenen afghanischen Bauern Abdul Wali auf dem US-Militärstützpunkt bei Asabad zwei Nächte lang brutalst mißhandelt zu haben. Nach entsprechenden Vorwürfen, Gefangene in Bagram bei Verhören zwischen August 2002 und Februar 2003 vergewaltigt bzw. mit Vergewaltigung bedroht zu haben, wurde Private First Class Damien Corsetti im Jahr 2005 in einem Militärgerichtsverfahren vom Vorwurf des Fehlverhaltens im Dienst, der Mißhandlung und der Begehung von Tätlichkeiten und anstößigen Handlungen an Gefangenen freigesprochen. Corsetti, dem seine Kollegen im Gefängnis von Bagram der New York Times zufolge den Spitznamen »König der Folter« oder »Monster« gaben, gehörte darüber hinaus zu jenen Personen, gegen die im Folterskandal von Abu Ghraib zwar ermittelt, die aber nicht angeklagt wurden. Im Interview mit der spanischen Tageszeitung El Mundo 2 beschrieb Corsetti,  inzwischen a.D., die »moralisch inakzeptablen« Fälle physischer und psychischer Folter, deren Zeuge er in den Gefängnissen von Bagram und Abu Ghraib geworden sei. Gegenüber El Mundo gab Corsetti an, die übergroße Mehrheit der Personen, die er im Rahmen seines Dienstes befragt habe, »hatten weder mit den Taliban noch mit Al-Qaida irgend etwas zu tun«. Viele Gefangene seien gefoltert worden, »um sie leiden zu lassen, nicht um Informationen von ihnen zu erhalten«. Nach einem nur  5stündigen Kurs wurde der damals 22jährige seinen Angaben zufolge zur Gewinnung von Informationen auf die Gefangenen im Gefängnis von Bagram losgelassen. Viele von ihnen waren einfache Bauern. Corsetti schilderte die harten Bedingungen im Gefängnis von Bagram. »Jeder Gefangene hat in seiner Zelle einen Teppich von 1,20 auf 2,50 m. Und sie sitzen 23 Stunden am Tag darauf, schweigend. Wenn sie sprechen, werden sie für 20 Minuten an die Decke gekettet, und schwarze Masken werden ihnen aufgesetzt, so daß sie nichts sehen können, und Ohrenschützer werden ihnen angelegt, so daß sie nichts hören können. Einmal in der Woche bringt man sie in den Keller (des Gebäudes), in Gruppen von fünf oder sechs, um sie zu duschen. Man tut es, um sie verrückt zu machen.« Außer den normalen Zellen gab es im Keller des Gefängnisses sechs Isolationszellen, dazu zwei Räume für diejenigen, welche die Soldaten als »besondere Gäste« bezeichneten. In dieser »Unterwelt« des Gefängnisses von Bagram habe die CIA mutmaßliche Führer von Al-Qaida gefoltert. Corsetti gegenüber El Mundo: »Eines Tages ging ich zu einer Verhörsitzung, und schon als ich eintraf, wußte ich, das ist kein normaler Fall. Da waren Zivilisten, darunter ein Arzt und ein Psychiater. Der Gefangene wurde Omar Al-Faruq genannt, ein asiatischer Al-Qaida-Führer, der von einem jener (Geheim-)Dienste ins Gefängnis gebracht worden war«, erinnert sich Corsetti. »Ich möchte nicht in die Einzelheiten gehen, denn das könnte für mein Land negativ sein, aber er wurde brutal geschlagen - täglich. Und auf andere Weise gefoltert. Er war ein schlechter Mann, aber das hat er nicht verdient«. In einer Aktion, die manchen Quellen zufolge von der USA toleriert wurde, flüchtete Al-Faruq aus dem Gefängnis in Bagram. Er wurde schließlich im April 2006 von den Briten in Basra (Irak) getötet. Corsetti behauptete, selbst niemals an Folterungen teilgenommen zu haben. »Mein ganzer Job bestand darin, dazusitzen und sicherzustellen, daß der Gefangene nicht starb. Aber mehrmals dachte ich, sie wären dabei zu sterben, wenn sie von jenen Leuten verhört wurden, die keinen Namen haben und für niemanden im besonderen arbeiten. Es ist unglaublich, was ein menschliches Wesen aushalten kann«, so Corsetti im Rückblick. »Al-Faruq sah mich an, während sie ihn folterten, und ich habe diesen Blick in meinem Kopf. Und die Schreie, die Gerüche, die Geräusche, sie sind ständig bei mir. Es ist etwas, das ich nicht loswerden kann. Die Schreie der Gefangenen nach ihren Angehörigen, ihrer Mutter. Ich erinnere mich an einen, der nach Gott gerufen hat, nach Allah, die ganze Zeit. Ich habe diese Schreie hier, in meinem Kopf.« »In Abu Ghraib und Bagram wurden sie gefoltert, um sie leiden zu lassen, nicht um Informationen von ihnen zu erhalten«, bekräftige Corsetti. Die Folter habe manchmal kein anderes Ziel gehabt, als »sie dafür zu bestrafen, daß sie Terroristen sind. Sie folterten sie und stellten ihnen keinerlei Fragen«. So etwa bei der Praxis, die als das »U-Boot«, Waterboarding, bekannt ist, dem simulierten Ertränken des Gefangenen. Die Zivilisten, die an den Verhören teilnahmen, hätten das »U-Boot« nach Lust und Laune, alle 5 oder 10 Minuten, angewandet, ohne irgend etwas zu fragen, so Corsetti. Andere Folterungen beinhalteten Corsetti zufolge die Anwendung von extremer Kälte und Hitze. »Ich erinnere mich an einen meiner Gefangenen, der vor Kälte zitterte. Seine Zähne hörten nicht auf zu klappern. (…) Man sah, daß dieser Mann dabei war, an Unterkühlung zu sterben. Aber die Ärzte waren da, so daß sie nicht starben, so daß es möglich war, sie einen weiteren Tag zu foltern«. Zu anderen Zeiten wurden die Gefangenen laut Corsetti mit extremem Licht geblendet.
 
Psychische Folter
Von großer Bedeutung war Corsetti zufolge die psychische Folter unter der Anleitung von Psychiatern. »Sie haben ihnen erzählt, daß sie ihre Kinder töten, ihre Frauen vergewaltigen werden. Und man hat in ihren Gesichtern, in ihren Augen ihr Entsetzen gesehen. Wir kannten die Namen ihrer Kinder, wußten, wo sie leben, wir zeigten ihnen Satelliten-Aufnahmen von ihren Häusern. Es ist schlimmer als jede Folter. Das ist moralisch unter keinen Umständen akzeptabel, nicht einmal beim schlimmsten Terroristen der Welt«, so Corsetti, der hinzufügte: »Manchmal ließen wir eine unserer Frauen (weibliches US-Militärpersonal) in einer Burka  durch die Verhörraume gehen, und wir sagten ihnen: ›Das ist deine Frau‹. Und der Gefangene glaubte es. Warum auch nicht. Wir hatten diese Leute davor eine Woche lang nicht schlafen lassen. Nach zwei oder drei Tagen ohne Schlaf glaubt man alles. (…) Die Gefangenen hatten Halluzinationen. (…) Man ist in einer Zelle, wo sie einen nur ab und an eine Viertelstunde schlafen lassen. Ohne Kontakt zur Außenwelt. Ohne Sonnenlicht. Auf die Weise kommt einem ein Tag wie eine Woche vor. Sie sind mental zerstört.« Die Lehre, die Corsetti aus seiner Erfahrung als Vernehmer gezogen haben will, ist, »daß Folter nicht funktioniert«. Es sei »eine Sache, wenn man seine Beherrschung verliert und einem Gefangenen einen Schlag versetzt, eine andere ist es, diese Akte von Brutalität zu begehen«. Im Herbst 2008 bekamen auch deutsche Diplomaten einen vagen Eindruck von dem Folterlager Bagram. Nachdem die US-Armee einen Deutsch-Afghanen monatelang festgehalten und die Unschuld des Mannes sich schließlich herausgestellt hatte, holte ihn der stellvertretende deutsche Botschafter in Bagram ab. Auch der deutsche Gefangene berichtete von Schlägen, Isolationshaft und Bedrohungen durch das US-Militär. In einem orangefarbenen Overall sei er vorgeführt worden, an den Händen und Füßen mit Stahlketten gefesselt, die Augen mit einer schwarzen Skimaske bedeckt. In einer kleinen Holzbox, so die Diplomaten, habe man mit dem Gefangenen reden dürfen, dabei seien schwerbewaffnete Soldaten nicht von seiner Seite gewichen. Der Mann mußte noch lange Zeit nach seiner Freilassung psychologisch betreut werden. Doch sowohl dieser wie auch die vielen anderen »Kollateralschäden« (vorzugsweise an leicht erfaßbaren zivilen Zielen wie Hochzeitsgesellschaften) konnten die deutsche Bundesregierung bislang nicht dazu bewegen, ihre Unterstützung des Krieges am Hindukusch auf den Prüfstand zu stellen. Dabeisein, ist alles, scheint hier einmal mehr die Devise zu sein - und zwar um jeden Preis.
 
Anmerkung d.a.: Zu was sich der Mensch noch immer hergibt und wie er sich noch immer an seinen Mitmenschen versündigt, ist unfassbar.
 
 
Quellen:   
http://www.jungewelt.de/2009/08-25/003.php  25. 8. 09
Teil I: Schlimmer als Guantánamo - Die Folterlager Afghanistans - Von Alexander Bahar
sowie https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/2009/08-26/017.php 26. 8. 09 Teil II:
Dabeisein um jeden Preis
Von Alexander Bahar erschien zuletzt: Folter im 21. Jahrhundert. Auf dem Weg in ein neues Mittelalter?dtv, München 2009, brosch. € 16,90
 
1 Giuliana Sgrena und Ulrich Ladurner, die im Auftrag der Wochenzeitung Die Zeit in Masar-i-Scharif recherchierten, bestätigten in einem Beitrag vom 27. Juni 2002 in vielen Punkten die Aussagen des Films von Jamie Doran, obgleich sie die Zahl der getöteten Taliban wesentlich niedriger ansetzten. Gleichzeitig wiesen sie auf ein weiteres Gemetzel in der Stadt Masar-i-Scharif hin, bei dem 570 Taliban den Tod fanden
2 El Mundo, 10. 12. 2007
(Englische Übersetzung auf der Website von Prof. Juan Cole: »Former US interrogator recounts torture cases in Afghanistan and Iraq« auf http://www.juancole.com/2007/12/former-us-interrogatorrecounts-torture.htm. Die diesbezüglichen Zitate sind dieser Quelle entnommen
* Murat Kurnaz. Fünf Jahre meines Lebens, Berlin 2007. Alle diesbezüglichen Zitate aus diesem Buch