Wladimir Putin am Valdai Club: Sechs Grundsätze für ein neues multipolares Weltsystem

Wir veröffentlichen nachfolgend die von Präsident Putin anläßlich des 20jährigen Jubiläums des »Valdai International Discussion Clubs« vorgetragene Rede:

Verehrte Teilnehmer der Plenarsitzung, liebe Kollegen, meine Damen und Herren

ich freue mich, Sie alle in Sotschi und, wie der Moderator schon sagte, zum Treffen des zwanzigjährigen Jubiläums des »Valdai International Discussion Clubs« begrüßen zu dürfen

Unser oder besser Ihr Forum, welches traditionsgemäß führende Politiker und Wissenschaftler, Experten und Aktivisten der Zivilgesellschaft aus vielen Ländern der Welt zusammengebringt, hat damit seinen hohen Stellenwert als wichtige intellektuelle Plattform einmal mehr unterstrichen. Die Valdai-Diskussionen spiegeln die wichtigsten Prozesse der Weltpolitik des 21. Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit und Komplexität wider. Ich bin sicher, dass dies auch heute der Fall sein wird, so wie es wahrscheinlich auch in den vorherigen Tagen, als Sie miteinander diskutierten, der Fall war, und so bleiben wird, da wir im Grund genommen vor der Aufgabe stehen, eine neue Welt zu errichten. In diesen entscheidenden Phasen tragen Sie, liebe Kollegen, die extrem wichtige Rolle und Verantwortung der Intellektuellen.

In den Jahren der Arbeit des Clubs haben sich sowohl in Russland als auch in der Welt gravierende, wenn nicht enorme Veränderungen vollzogen. Zwanzig Jahre sind nach historischen Maßstäben kein langer Zeitraum; aber eine Epoche, während der die gesamte Weltordnung zusammenbricht, scheint die Zeit zu verkürzen. Ich denke, Sie werden mir zustimmen, dass sich in den letzten 20 Jahren mehr ereignet hat als in den Jahrzehnten vieler historischer Perioden zuvor: Es waren qualitative Veränderungen, die einen grundlegenden Wandel der Prinzipien internationaler Beziehungen bewirkten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hofften alle, dass die Staaten und Völker die Lehren aus den aufwendigen und zerstörerischen militärisch-ideologischen Konfrontationen des vergangenen Jahrhunderts gezogen, die Zerbrechlichkeit unseres vernetzten Planeten erkannt und verstanden hätten, dass die globalen Probleme der Menschheit gemeinsames Handeln und die Suche nach kollektiven Lösungen erfordern. Egoismus, Überheblichkeit und die Mißachtung der echten Herausforderungen würden unweigerlich in eine Sackgasse führen, genau wie die Versuche der mächtigeren Länder, ihre Konzepte und Interessen anderen aufzuzwingen. Dies hätte jedem klar sein müssen. Das sollte es auch, aber es stellte sich heraus, dass dem nicht so war – nein! 

Als wir vor fast 20 Jahren zum ersten Mal im Club zusammentrafen, hatte unser Land eine neue Entwicklungsphase eingeschlagen. Russland hatte nach Auflösung der Sowjetunion eine äußerst schwierige Phase der Wiederherstellung durchgestanden. Wir brachten uns mit aller unserer Kraft und gutem Willen in den Prozeß des Aufbaus einer neuen, nach unserer Meinung gerechteren Weltordnung ein. Glücklicherweise ist unser Land in der Lage, einen großen Beitrag zu leisten, sodass wir unseren Freunden, Partnern und der ganzen Welt etwas anzubieten haben. 

Bedauerlicherweise wurde unsere Bereitschaft der konstruktiven Teilnahme mißverstanden und als Unterwerfung und Zustimmung dafür aufgefaßt, dass die neue Weltordnung von denen eingerichtet würde, die sich selbst zu den Gewinnern des Kalten Krieges erklärten. Es wurde als Eingeständnis gewertet, dass Russland bereit wäre, dem Kielwasser anderer zu folgen und sich nicht von eigenen nationalen Interessen, sondern von den Interessen anderer leiten ließe. In diesen Jahren haben wir mehr als einmal davor gewarnt, dass dieser Ansatz nicht nur in eine Sackgasse führe, sondern auch die zunehmende Gefahr eines militärischen Konflikts in sich berge. Aber niemand hat auf uns gehört, oder wollte es. Die Arroganz unserer sogenannten Partner im Westen hat sich ins Unermeßliche gesteigert. Ich kann es nur so ausdrücken. Die Vereinigten Staaten und ihre Satelliten haben einen steten Kurs in Richtung Hegemonie eingeschlagen: Militärisch, politisch, wirtschaftlich, kulturell und sogar moralisch und wertebasiert. Von Anfang an war uns klar, dass der Versuch, ein Monopol zu errichten, zum Scheitern verurteilt wäre. Die Welt ist zu komplex und vielfältig, um sie einem einzigen System zu unterwerfen, selbst wenn es auf die gewaltige und akkumulierte Macht des Westens nach Jahrhunderten der Kolonialpolitik gestützt wäre. Viele Ihrer Kollegen sind heute abwesend, doch sie leugnen nicht, dass ein Großteil des westlichen Wohlstands durch das Ausbeuten von Kolonien über die Jahrhunderte realisiert worden ist. Das ist eine Tatsache. Im Wesentlichen wurde dieses Niveau der Entwicklung durch das Ausplündern des gesamten Planeten erreicht. Die Geschichte des Westens ist im Wesentlichen eine Chronik endloser Expansion. Der westliche Einfluß in der Welt entspricht einer riesigen militärisch-finanziellen Pyramide, die ständig neuen Treibstoff braucht, um sich selbst zu stützen, dies mit natürlichen, technologischen und menschlichen Ressourcen, die anderen gehören. Aus diesem Grund kann und wird der Westen nicht aufhören; und unsere Argumente, Mahnungen, Appelle an die Vernunft, oder Vorschläge, wurden einfach überhört. Ich habe dies sowohl unseren Verbündeten als auch unseren Partnern öffentlich erklärt. Es gab sogar einen Moment, als ihr braver Diener vorschlug: »Vielleicht sollten wir auch der NATO beitreten?« »Aber nein!«, die NATO brauche kein Land wie das unsere, »nein!« Ich möchte wissen, was sie sonst noch brauchen. Wir dachten, wir gehörten dazu, hätten einen Fuß in der Tür. Was hätten wir denn sonst tun sollen? Es gab keine ideologische Konfrontation mehr. Was war das Problem? Ich denke, das Problem fußt auf geopolitischen Interessen und ihrer Arroganz gegenüber anderen: Ihre Selbstüberschätzung war und ist das Problem!                

Wir müssen auf den immer stärker werdenden militärischen und politischen Druck reagieren. Ich habe schon oft gesagt, dass nicht wir es waren, die den sogenannten Krieg in der Ukraine lostraten. Ganz im Gegenteil, wir versuchen ihn zu beenden. Wir waren es nicht, die 2014 einen Putsch in Kiew inszenierten, einen blutigen und verfassungsfeindlichen Coup d’état. Wenn immer solches an anderen Orten geschah, hörten wir sofort von allen internationalen Medien, vor allem natürlich von denen, die der angelsächsischen Welt unterstehen: Das sei inakzeptabel, das sei unmöglich, das sei anti-demokratisch. Aber der Putsch in Kiew war möglich. Sie nannten sogar die Summe, die sie für diesen Putsch ausgegeben hatten. Plötzlich war alles akzeptabel. 

Zu jener Zeit hat Russland sein Bestes getan, um die Menschen auf der Krim und in Sewastopol zu unterstützen:

- Wir haben nicht versucht, die Regierung zu putschen oder die Menschen auf der Krim und in Sewastopol einzuschüchtern und ihnen mit ethnischen Säuberungen nach Nazi-Art zu drohen.

- Wir haben nicht versucht, den Donbass durch Beschuß und Bombardierung zum Gehorsam zu zwingen.  

- Wir haben nicht gedroht, jeden zu töten, der seine Muttersprache sprechen will.

Sie wissen, jeder hier ist eine informierte und gebildete Person. Man kann Millionen von Menschen, welche die Realität aus den Medien als real auffassen, einer Gehirnwäsche – entschuldigen Sie den Ausdruck – unterziehen. Aber Sie hier wissen, was wirklich los war: Sie [das Regime der westlichen Putschisten] haben 9 Jahre lang bombardiert, geschossen und Panzer eingesetzt. Es wurde ein Krieg, ein echter Krieg gegen den Donbass entfesselt. Und niemand hat die toten Kinder im Donbass gezählt. Niemand, insbesondere nicht im Westen, weinte um die Toten. Der Krieg, den das Regime in Kiew mit aktiver und direkter Unterstützung des Westens startete, geht in sein zehntes Jahr und Russlands militärische Sonderoperation zielt darauf ab, ihn zu beenden. Und er erinnert uns daran, dass einseitige Schritte, egal wer sie unternimmt, unweigerlich Reaktionen auslösen. Wie wir wissen, erzeugt jede Aktion eine Gegenreaktion. Das ist es, was jeder Staat mit Verantwortung, jedes souveräne und unabhängige Land, das sich selbst respektiert, zu tun hat. Jedem ist klar, dass in einem internationalen System, in dem Willkür herrscht, in dem alle Entscheidungen von denen getroffen werden, die sich für einzigartig, ohne Sünde und allein im Recht halten, jedes Land angegriffen werden kann, nur weil es einem Hegemon mißfällt, der jegliches Augenmaß – und ich möchte hinzufügen, jeglichen Sinn für die Realität – verloren hat.

Leider müssen wir einräumen, dass unsere westlichen Partner den Sinn für die Realität verloren und alle Grenzen überschritten haben, doch vergeblich. Die Ukraine-Krise ist kein Territorialkonflikt, das möchte ich klarstellen. Russland ist das flächenmäßig größte Land der Welt, und wir haben keinerlei Interesse an der Eroberung weiterer Gebiete. Wir haben noch viel zu tun, um Sibirien, Ostsibirien und den Fernen Osten Russlands richtig zu erschließen. Hier geht es nicht um einen territorialen Konflikt oder auch um einen Versuch, ein regionales geopolitisches Gleichgewicht herzustellen. Es geht um eine viel umfassendere und grundlegendere Frage, nämlich um die Prinzipien, auf denen die neue Weltordnung beruhen wird. Dauerhafter Frieden setzt voraus, dass Sicherheit herrscht, Meinungen respektiert, ein Gleichgewicht auf der Welt hergestellt und niemand gezwungen werden könnte, so zu leben oder sich so zu verhalten, wie es dem Hegemon gefiele, selbst wenn es der Souveränität, den wahren Interessen, Traditionen und Bräuchen von Völkern und Ländern entgegenstünde. Nach einem solchen Schema würde das Konzept jeder Souveränität in Abrede gestellt und, verzeihen Sie den Ausdruck, auf dem Müll landen.

Es ist offensichtlich, dass ein Block-Denken nach dem Ansatz, die Welt in einer ständigen Konfrontation Wir-gegen-sie zu halten, eindeutig ein böses Erbe des 20. Jahrhunderts ist. Es ist ein Produkt der westlichen politischen Kultur, zumindest in ihrer aggressivsten Ausprägung. Ich wiederhole: Der Westen, zumindest ein bestimmter Teil westlicher Eliten, braucht immer einen Feind. Sie brauchen einen Feind, um die Notwendigkeit militärischer Einsätze und Expansionen zu rechtfertigen. Aber es dient auch dazu, um die interne Kontrolle innerhalb eines bestimmten Systems besagter Hegemonen sowie innerhalb von Blöcken – von NATO oder anderen militärisch-politischen Blöcken – aufrechtzuerhalten. Es muß einen Feind geben, damit sich alle um den Führer scharen können. Es ist nicht unsere Angelegenheit, wie andere Staaten ihr Leben ausrichten. Wir sehen jedoch, wie die herrschende Elite in vielen Ländern die Gesellschaft zwingt, Normen und Regeln zu akzeptieren, die das Volk, oder zumindest eine beträchtliche Anzahl von Bürgern, in einigen Ländern sogar die Mehrheit, nicht zu akzeptieren bereit ist. Dies zwingt sie ständig dazu, Rechtfertigungen für ihr Handeln zu erfinden, um wachsende innere Probleme auf äußere Ursachen zurückführen oder nicht existierende Bedrohungen herbeizureden und über Gebühr aufzublasen. Russland ist ein beliebtes Thema für diese Politiker. Daran haben wir uns im Laufe der Geschichte natürlich gewöhnt. Aber sie versuchen jedem, der nicht bereit ist, diesen westlichen Eliten blind zu folgen, ein Feindbild zu verpassen. Das haben sie in gewissen Situationen und zu gewisser Zeit mit der Volksrepublik China gemacht und auch mit Indien versucht, obwohl sie es zugleich umwerben, wie wir sehr deutlich sehen können. Wir erkennen und sehen die Szenarien in Asien sehr gut – alles ist klar. Die indische Führung, das möchte ich sagen, verhält sich unabhängig und stark national. Meiner Meinung nach sind diese Versuche sinnlos, aber sie werden trotzdem fortgesetzt. Sie versuchen auch, die arabische Welt als Feind darzustellen; sie tun das selektiv und handeln vorsichtig. Doch im Großen und Ganzen läuft es darauf hinaus, sogar aus Muslimen ein feindliches Umfeld zu machen. Für die westlichen Eliten verwandelt sich in der Tat jeder, der unabhängig und im eigenen Interesse handelt, in ein Hindernis, das es zu beseitigen gilt.

Der Welt werden künstliche geopolitische Zusammenhänge aufgezwungen und zugleich geschlossene Blöcke geschaffen. Wir sehen dies in Europa, wo seit Jahrzehnten eine aggressive Politik der NATO-Erweiterung betrieben wird, sowie im asiatisch-pazifischen Raum und in Südasien, wo man versucht, eine offene und integrative Kooperationsarchitektur zu zerstören. Ein Block-Ansatz, wir sollten das Kind beim Namen nennen, schränkt die Rechte und Freiheiten von Staaten beim Versuch, sie in eine Zwangsjacke mit Verpflichtungen zu stecken, in ihrer eigenen Entwicklung ein. Es läuft in gewisser Weise und ganz offensichtlich auf den Verlust eines Teils ihrer Souveränität hinaus, oft nur gefolgt vom Zwang nach Lösungen im Bereich der Sicherheit  - vor allem was  die Wirtschaft betrifft -  wie es derzeit in den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa geschieht. Es ist nicht nötig, dies jetzt zu erklären. Falls erforderlich, können wir in der Diskussion nach meinen einleitenden Bemerkungen ausführlich darüber sprechen. Um diese Ziele zu erreichen, versuchen sie, das internationale Recht durch eine regelbasierte Ordnung zu ersetzen, was immer das auch heißen mag. Es ist nicht klar, welche Regeln das wären und wer sie erfunden hat. Es ist einfach Unsinn, aber sie versuchen, diese Idee in die Köpfe von Millionen der Leute zu verpflanzen: Du hast nach den Regeln leben. Was sind das für Regeln? Und tatsächlich, wenn Sie erlauben, stellen unsere westlichen »Kollegen«, vor allem die aus den Vereinigten Staaten, diese Regeln nicht nur willkürlich auf, sondern belehren uns, wer sie wie zu befolgen hat und wie man sich insgesamt zu verhalten hätte. All dies geschieht in einer unverhohlen ungehobelten Weise. Es entspricht einer weiteren Ausprägung kolonialer Mentalität. Ständig hören wir: »Sie müssen, Sie sind dazu verpflichtet, wir möchten Sie ernsthaft warnen«. Wer sind sie eigentlich, um sich das herauszunehmen? Welches Recht haben sie, andere zu warnen? Das ist einfach unglaublich. Vielleicht sollten diejenigen, die all das sagen, ihre Arroganz ablegen und aufhören, sich gegenüber der Weltgemeinschaft, die ihre Ziele und Interessen genau versteht, so zu verhalten und dieses Gehabe einer kolonialen Ära endlich ablegen. Manchmal möchte ich ihnen sagen: »Reibt Euch die Augen, diese Zeiten sind längst vorüber und werden nie wiederkehren!« Ich will dazu noch eines sagen: Jahrhunderte lang hat solches Verhalten zu einer Wiederholung von einer Sache geführt: Zu großen Kriegen, für die verschiedene ideologische und krypto-moralische Rechtfertigungen erfunden wurden. Heute ist dies besonders gefährlich. Wie Sie wissen, verfügt die Menschheit über die Mittel, den gesamten Planeten mit Leichtigkeit zu zerstören. Die ständige Bewußtseinsmanipulation hat ein unglaubliches Ausmaß angenommen und führt zum Verlust des Realitätssinns. Es ist klar, dass ein Ausweg aus diesem Teufelskreis gefunden werden muß. Soweit ich es verstehe, liebe Freunde und Kollegen, ist das der Grund, warum Sie in den Valdai-Club gekommen sind.  

Russlands außenpolitisches Konzept hat unser Land als originären Zivilisationsstaat klassifiziert. Diese Formulierung spiegelt klar und deutlich wider, wie wir nicht nur unsere eigene Entwicklung, sondern auch die wichtigsten Grundsätze der internationalen Ordnung verstehen, von der wir hoffen, dass sie sich durchsetzen wird. Aus unserer Sicht ist Zivilisation ein vielschichtiger Begriff, der verschiedenen Interpretationen erfuhr. Dazu gibt es auch eine offen ausgesprochene koloniale Interpretation: Es gäbe eine zivilisierte Welt, die dem Rest als Modell diene, mit Standards, woran sich jeder zu halten hätte. Diejenigen, die damit nicht einverstanden wären, würden mit dem Knüppel des aufgeklärten Meisters in die Zivilisation getrieben. Doch, diese Zeiten, wie ich schon sagte, gehören der Vergangenheit an, denn unser Verständnis von Zivilisation hat sich komplett gewandelt.

Es gibt viele Zivilisationen, und keine ist einer anderen über- oder unterlegen. Sie sind gleichwertig, da jede Zivilisation ein einzigartiger Ausdruck der eigenen Kultur, ihrer Traditionen und der Bestrebungen ihres Volkes darstellt. Jeder von uns empfindet sie anders. In meinem Fall verkörpert sie zum Beispiel die hohen Ziele des Volkes, meines Volkes, zu dem ich glücklicherweise gehöre. Herausragende Denker aus der ganzen Welt, die das Konzept eines zivilisationsbasierten Ansatzes befürworten, haben sich eingehend mit der Bedeutung des Konzepts Zivilisationauseinandergesetzt. Es ist ein komplexes Phänomen, das sich aus vielen Komponenten zusammensetzt. Ohne zu tief in die Philosophie einzusteigen, was hier vielleicht nicht angebracht wäre, wollen wir versuchen, es pragmatisch zu beschreiben, so, wie sie auf die aktuellen Entwicklungen zutrifft. Zu den wesentlichen Merkmalen eines Zivilisationsstaates gehören Vielfalt und wirtschaftliche Unabhängigkeit, die meines Erachtens zwei Schlüsselelemente darstellen. Der heutigen Welt ist Uniformität fremd. Jeder Staat und jede Gesellschaft möchte den eigenen Entwicklungsweg beschreiten. Dieser ist in der Kultur und in den Traditionen verwurzelt und von der Geografie und den historischen Erfahrungen, von den alten wie auch den neuzeitlichen, sowie von den Werten der Menschen geprägt. Es handelt sich um eine komplexe Synthese, aus der eine eigenständige Zivilisationsgemeinschaft hervorgeht. Ihre Heterogenität und Vielfalt bilden den Schlüssel zur Nachhaltigkeit und Entwicklung. Russland hat sich im Laufe der Jahrhunderte zu einer Nation mit unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Ethnien entwickelt. Die russische Zivilisation kann nicht auf einen einzigen gemeinsamen Nenner gebracht werden, aber sie kann auch nicht geteilt werden, da sie als eine einzige geistig und kulturell reiche Einheit gedeiht. Die Aufrechterhaltung der soliden Einheit einer solchen Nation ist keine leichte Aufgabe. Im Laufe der Jahrhunderte standen wir vor den größten Herausforderungen: Wir haben sie gemeistert, manchmal unter großen Opfern, aber wir haben jedes Mal unsere Lehren für die Zukunft gezogen und unsere nationale Einheit und die Integrität des russischen Staates stärken können. Diese Erfahrungen, die wir gesammelt haben, sind heute von unschätzbarem Wert. Die Welt wird immer vielfältiger und die Komplexität der Prozesse läßt sich nicht mehr mit Methoden eines einfachen Managements über einen Kamm scheren - wie wir sagen. Dem ist noch etwas Wichtiges hinzuzufügen: Ein wirklich effektives und stabiles Staatssystem kann nicht von außen aufgezwungen werden. Es wächst auf natürliche Weise aus den zivilisatorischen Wurzeln der Länder und Völker, und in dieser Hinsicht liefert Russland ein Beispiel, wie es im wirklichen Leben und in der Praxis abläuft. Zivilisatorischer Rückhalt ist eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg in einer modernen Welt: In einer chaotischen und leider gefährlichen Welt, welche ihre Orientierungspunkte verloren hat. Immer mehr Staaten kommen zu diesem Schluß und werden ihrer eigenen Interessen und Bedürfnisse gewahr sowie ihrer Möglichkeiten und Grenzen, ihrer Identität mit dem Grad der Verflechtung der sie umgebenden Welt.  

Ich bin überzeugt, dass die Menschheit sich nicht auf eine Zersplitterung rivalisierender Segmente zubewegt und nicht auf eine neue Konfrontation zwischen den Blöcken, aus welchen Motiven auch immer, oder auf den seelenlosen Universalismus einer neuen Globalisierung. Im Gegenteil, die Welt ist auf dem Weg zu einer Synergie unter Staatszivilisationen, großen Räumen und Gemeinschaften, die sich als solche begreifen. Zugleich ist die Zivilisation kein universelles Konstrukt, das für alle gilt, so etwas gibt es nicht. Jede Zivilisation ist anders, jede ist kulturell autark und schöpft ihre ideologischen Prinzipien und Werte aus ihrer eigenen Geschichte und Traditionen. Der Respekt vor sich selbst ergibt sich natürlich aus dem Respekt vor den anderen, aber er setzt auch den Respekt der anderen voraus. Deshalb zwingt eine Zivilisation niemandem etwas auf, läßt es aber auch nicht zu, dass ihr etwas aufgezwungen wird. Wenn sich jeder an diese Regel hält, könnten wir eine harmonische Koexistenz und eine kreative Interaktion unter allen Teilnehmern in den internationalen Beziehungen sicherstellen. Seine zivilisatorische Ausrichtung zu schützen, stellt selbstredend eine große Verantwortung dar. Es betrifft auf externe Übergriffe zu reagieren, die Entwicklung enger und konstruktiver Beziehungen zu anderen Zivilisationen herzustellen und, was am wichtigsten ist, Stabilität und Harmonie im Inneren aufrechtzuerhalten. Wir alle können sehen, dass das internationale Umfeld heute, wie ich schon sagte, leider instabil und hinlänglich aggressiv geworden ist. Und noch eine sehr wichtige Sache: Selbstverständlich darf niemand seine Zivilisation verraten. Das wäre auch ein Weg ins universelle Chaos, unnatürlich und widerlich, würde ich sagen. Wir für unseren Teil haben immer versucht, Lösungen anzubieten, welche die Interessen aller Seiten berücksichtigen, und werden dies weiter tun. Aber unsere Kollegen im Westen scheinen Konzepte angemessener Selbstbeschränkung mit Kompromissen und Bereitschaft zu Zugeständnissen zu Gunsten eines für alle akzeptablen Ergebnisses vergessen zu haben. Nein, sie sind buchstäblich nur von dem einem Ziel besessen: Ihre Interessen durchzusetzen, hier und jetzt, und zwar um jeden Preis. Wenn das ihre Wahl scheint, werden wir sehen, was passiert.

Es scheint paradox, aber die Situation kann sich schon morgen ändern - was ein Problem ist. Beispielsweise kann es zu innenpolitischen Verschiebungen nach Wahlen kommen: Heute kann ein Land noch darauf bestehen, etwas um jeden Preis durchsetzen zu wollen, aber morgen schon kann sich die innenpolitische Lage geändert haben und eine andere, manchmal sogar gegenteilige Idee würde mit demselben Druck und derselben Unbekümmertheit durchgedrückt werden. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das iranische Atomprogramm. Eine US-Regierung hat eine Entscheidung durchgesetzt. Dann kam die nachfolgende Administration, hat alles umgedreht und es ging in die genau gegenteilige Richtung. Wie kann man unter solchen Bedingungen arbeiten? Was blieben die Leitlinien? Worauf kann man sich noch verlassen? Wo sind die Garantien? Sind das die Regeln, von denen man uns erzählt? Das ist nur Nonsens. Warum geschieht dies, und warum scheint es niemanden zu stören? Die Antwort ist, weil strategisches Denken durch kurzfristige Eigeninteressen ersetzt worden ist, und zwar nicht einmal von Ländern oder Nationen, sondern von wechselnden Einflußgruppen. Dies erklärt die unglaubliche Verantwortungslosigkeit politischer Eliten, die nach den Maßstäben des Kalten Krieges alle Furcht und Schande abgelegt haben und sich für fehlerfrei halten. Der zivilisatorische Ansatz stellt sich diesen Tendenzen entgegen, weil er sich auf die grundlegenden und langfristigen Interessen der Staaten und Völker stützt, auf Interessen, die nicht von aktuellen ideologischen Umständen diktiert werden, sondern von der gesamten historischen Erfahrung und dem Erbe der Vergangenheit, auf dem die Idee einer harmonischen Zukunft beruht. Wenn sich alle von einer solchen Einstellung leiten ließen, gäbe es meines Erachtens viel weniger Konflikte auf der Welt und die Methoden der Resolutionen wären viel rationaler, weil sich alle Zivilisationen, wie ich sagte, gegenseitig respektieren würden und nicht in Versuchung fielen, jeden aufgrund eigener Vorstellungen zu ändern.

Geschätzte Freunde, ich habe mit Interesse den Bericht gelesen, den der Valdai-Club für das heutige Treffen vorgelegt hat. Er besagt, dass man versuche, die Zukunft zu verstehen und sie sich vorzustellen. Das ist natürlich und verständlich, insbesondere für intellektuelle Kreise. In einer Zeit des radikalen Wandels, in der die Welt, an die wir gewöhnt sind, zerbricht, ist es sehr wichtig zu verstehen, wohin wir uns bewegen und was wir erreichen wollen. Und natürlich wird die Zukunft jetzt geschaffen, nicht nur vor unseren Augen, sondern durch unsere eigenen Hände. Natürlich ist es bei solch gigantischen, unglaublich komplexen Prozessen schwierig oder sogar unmöglich, das Ergebnis vorherzusagen. Ganz gleich, was wir tun, wird das Leben sicher für Anpassungen sorgen. Aber in jedem Fall müssen wir uns darüber im Klaren sein, was wir anstreben und was wir erreichen wollen. In Russland gibt es ein solches Verständnis:

-  Wir wollen in einer offenen vernetzten Welt leben, in der niemand versuchen wird, der Kommunikation der Menschen, ihrer kreativen Entfaltung und ihrem Wohlstand künstliche Hindernisse in den Weg zu legen. Wir müssen uns bemühen, einem Umfeld ohne Hindernisse nachzugehen.

-  Wir wollen, dass die Vielfalt der Welt nicht nur erhalten bleibt, sondern als Grundlage für eine universelle Entwicklung dient. Es sollte verboten sein, irgendeinem Land oder Volk vorzuschreiben, wie es zu leben und zu fühlen hätte. Nur eine echte kulturelle und zivilisatorische Vielfalt kann das Wohlergehen der Völker und einen Ausgleich der Interessen garantieren.

-  Russland steht für einen maximalen Repräsentationsgrad. Niemand hat das Recht, die Welt für andere und im Namen anderer zu regieren. Die Welt der Zukunft ist eine Welt der kollektiven Entscheidungen, die auf denjenigen Ebenen getroffen werden, auf denen sie am wirksamsten sind, von denjenigen, die wirklich in der Lage sind, einen wesentlichen Beitrag zur Lösung eines bestimmten Problems zu leisten. Es ist nicht so, dass eine Person für alle entscheidet, und nicht einmal alle entscheiden alles, sondern diejenigen, die von diesem oder jenem Problem direkt betroffen sind, müssen sich einigen, was zu tun wäre und wie es getan werden soll.

-  Russland steht für universelle Sicherheit und dauerhaften Frieden, der auf der Achtung der Interessen aller beruht: Von den großen bis zu den kleinen Ländern. Es geht vor allem darum, die internationalen Beziehungen vom Blockdenken und dem Erbe der Kolonialzeit und des Kalten Krieges zu befreien. Wir sagen schon seit Jahrzehnten, dass Sicherheit unteilbar ist und dass es unmöglich ist, die Sicherheit der einen auf Kosten der Sicherheit der anderen zu erreichen. In der Tat kann in diesem Bereich Harmonie erreicht werden. Man muß nur Hochmut und Arroganz ablegen und aufhören, andere als Partner zweiter Klasse, Ausgestoßene oder Wilde zu betrachten.

-  Wir setzen uns für Gerechtigkeit für alle ein. Die Ära der Ausbeutung ist, wie ich schon zweimal sagte, vorbei. Die Länder und Völker sind sich ihrer Interessen und Fähigkeiten bewußt und sind bereit, sich auf sich selbst zu verlassen, was ihre Stärke vervielfältigt. Jeder sollte Zugang zu den Vorteilen moderner Entwicklungen haben, und Versuche, dies für ein Land oder ein Volk einzuschränken, sollten als ein Akt der Aggression betrachtet werden – genau so.

-  Wir stehen für Gleichheit, für die vielfältigen Potentiale aller Länder. Dies ist ein völlig objektiver Faktor. Aber nicht weniger objektiv ist die Tatsache, dass niemand mehr bereit ist, sich zu unterwerfen oder seine Interessen und Bedürfnisse von irgendjemandem abhängig zu machen – vor allem nicht von den Reichen und Mächtigen.

Dies ist nicht nur der natürliche Zustand der internationalen Gemeinschaft, sondern die Quintessenz der gesamten historischen Erfahrung der Menschheit. Dies sind die Grundsätze, denen wir folgen möchten und zu denen wir alle unsere Freunde und Kollegen einladen.

Kolleginnen und Kollegen! 

Russland war, ist und wird eines der Fundamente dieses neuen Weltsystems sein, bereit zu einem konstruktiven Umgang mit allen, die nach Frieden und Wohlstand streben, aber auch bereit zu einem harten Widerstand gegen diejenigen, die sich zu den Prinzipien von Diktatur und Gewalt bekennen. Wir glauben, dass sich Pragmatismus und gesunder Menschenverstand durchsetzen werden und eine multipolare Welt entstehen wird. 

Abschließend möchte ich mich bei den Organisatoren des Forums für die wie immer gründliche und qualifizierte Vorbereitung sowie bei allen Teilnehmern dieses Jubiläumstreffens für ihre Aufmerksamkeit bedanken.

Ich danke Ihnen sehr herzlich.

 

Quelle: 
https://unser-mitteleuropa.com/wladimir-putin-am-valdai-club-sechs-grundsaetze-fuer-neues-multipolares-weltsystem/   7. 10. 23