Wolfgang Effenberger und Paul Robert Vogt: Der afrikanische Staat Niger im letzten Kampf gegen den »Wertewesten« und das Sprengen der unsichtbaren letzten kolonialen Ketten

Bis zum 26. Juli 2023 war das 26-Millionen-Einwohnerland Niger ein wichtiger strategischer Verbündeter des Westens

und zugleich der letzte afrikanische Staat im Inneren der Sahelzone mit einer demokratisch gewählten Regierung. An diesem Tag stürzten die Offiziere der Präsidialgarde des Niger unter ihrem Kommandeur Brigadegeneral Abdourahamane Tiani den Präsidenten des Landes Mohamed Bazoum, setzten die Verfassung außer Kraft und lösten alle verfassungsmäßigen Institutionen auf. 

Niger gehörte zu den 15 Mitgliedsstaaten der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS[Economic Community of West African States]. Weitere Mitgliedsstaaten dieses Bündnisses sind: Benin, Burkina Faso, Cabo Verde, Côte d’Ivoire, Gambia, Ghana, Guinea, Guinea-Bissau, Liberia, Mali, Nigeria, Senegal, Sierra Leone und Togo. Der westafrikanische Staatenblock ECOWAS hat angedroht, dass er nach diesem Staatsstreich im Niger zu intervenieren gedenkt  [siehe The Indian Express vom 9. August 2023].  (1)  

Niger, mit zwei fremden Militärmächten (USA und Frankreich) im Land, wurde 1960 formell unabhängig von Frankreich, blieb aber faktisch immer noch durch die Kolonialwährung CFA-Franc sowie andere verdeckte Regelungen an Frankreich gefesselt. Mit der CFA-Franc-Zone sind auch die ECOWAS-Länder (2) Benin, Burkina Faso, Guinea-Bissau, Mali, Côte d’Ivoire, Senegal und Togo verbunden. Neun der 14 CFA-Länder gehören zu den am wenigsten entwickelten Ländern (Least Developed Countries). Auch die anderen haben großteils starke wirtschaftliche Einbrüche erlitten. Dies ist der Fall mit Gabun, Kamerun und Côte d’Ivoire. Nach den Entwicklungsindikatoren der Weltbank stellt Côte d’Ivoire die größte Volkswirtschaft der Franc-Zone dar, mit einem realen Pro-Kopf-BIP von 2.430 $ im Jahr 2022, was 20 % unter dem Höchststand von 1978 lag (3.017 $). (3)  Bei Niger lag das reale Pro-Kopf-BIP 2020 (545 $) ca. 15 % unter dem von 1978 (638 $); im Vergleich dazu Deutschland, das ein reales Pro-Kopf-BIP von 50.795 $ und Frankreich, das eines mit 44.853 $ ausweist.  (4)

Den 14 CFA-Staaten bescherte der feste Wechselkurs an den Euro 1994 nicht nur eine Abwertung von 50 %, sondern ließ sie auch den Zugriff auf 85 % ihrer Währungsreserven verlustig gehen, die sie gezwungenermaßen bei der Agence France Trésor (AFT) zu hinterlegen haben.  (5)  Obwohl das Französische Kolonialreich seit 1980 endgültig Geschichte ist, existiert die Kolonialwährung CFA-Franc noch weiter. Sie bleibt Mittel und Ausdruck einer Politik, die Frankreich den Einfluß auf dem afrikanischen Kontinent im Sinn einer Finanzoberhoheit sichert. Alle CFA-Staaten sind rohstoffreich, doch gleichzeitig hochverschuldet. Burkina Faso, Mali und Niger gehören trotz ihrer immensen Bodenschätze zu den ärmsten Ländern der Welt. »Meine Generation versteht das nicht«  (6), sagt der 35-jährige Staatschef Burkina Fasos, Ibrahim Traoré. Dem entgegnete der US-amerikanische Politikwissenschaftler Michael Parenti: »Ganz einfach! Arme Länder sind nicht unterentwickelt, sondern überausgebeutet!«  (7). 

Am 18. Oktober 2022 verstieg sich EU-Chefdiplomat und Vizepräsident der EU-Kommission Josep Borrell zu einer Metapher, die außerhalb der EU hohe Wellen schlug. An junge Diplomaten in Brügge gerichtet, sagte er: »Wir sind ein Garten, der Rest der Welt ist ein Dschungel«  (8)  und gab den künftigen Kommissionsvertretern mit auf den Weg, »in den Dschungel zu gehen, um den Park zu beschützen«  (9), denn eine Festungsmauer allein reiche nicht.    Europäische Werte müßten in die Welt hinausgetragen werden, sonst dringe das Chaos von außen in die EU herein. Prompt entgegnete die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, auf Twitter, dass dieser Garten (das wohlhabendste Wirtschaftssystem der Welt) nur durch die Plündereien des Kolonialismus errichtet werden konnte. Wer will da widersprechen?   

Aus der ehemals westafrikanischen französischen Kolonie Niger stammen etwa ein Viertel der Uran-Importe Europas und ein Fünftel der Uran-Importe Frankreichs, das mit 56 Kernkraftwerken einen Spitzenplatz unter den Atomstrom-Exporteuren der Welt belegt. Obwohl Niger über die hochwertigsten Uranerze Afrikas verfügt, zählt der global siebtgrößte Uran-Produzent zu den ärmsten Ländern der Welt. Auf dem aktuellen Index Menschlicher Entwicklung der Vereinten Nationen belegt das Land Rang 189 unter 191 gelisteten Staaten. Rund 40 % der Bevölkerung leben unter der nationalen Armutsgrenze. Nur knapp die Hälfte der Bevölkerung hat Zugang zu sauberem Trinkwasser und nur rund 16 % sind an eine angemessene Sanitärversorgung angeschlossen.  (10)  Obwohl im Niger pro Jahr (2001 – 2020) im Schnitt über eine Tonne Gold gefördert werden, hält das Land keine Währungs- und Goldreserven (August 2023).  (11)  Der ehemalige Kolonialherr Frankreich hält mit 2.436 Tonnen dagegen die viertgrößten Goldreserven der Welt, obwohl dieser Rohstoff in Frankreich selbst nicht vorkommt. In der ehemals französischen Kolonie Burkina Faso sieht es nicht anders aus. Von den jährlichen Einnahmen aus der Goldproduktion, die von (schätzungsweise) 600.000 Kindern geschürft werden, gehen nur 10 % an das Land, aber 90 % an multinationale Goldgräberkonzerne.  (12)  Die Frage ist, ob jene afrikanischen Länder selbst die Schuld daran tragen, dass sie trotz ihrer bedeutenden Rohstoffvorkommen verarmten, oder ob es die nie abgeschüttelten koloniale Fesseln sind, welche diese Länder im Griff halten, indem der Westen kleine, korrupte Eliten dieser Länder besticht, sogenannte Compañeros, denen die eigenen Mitbürger egal sind. 

Nun ist aber Niger gegen besagte (neo-)kolonialen Mißstände aufgestanden und hat sich von der Kolonialmacht Frankreich durch einen Militärputsch emanzipiert. Gleiches war in Mali, Burkina Faso, Guinea und im Senegal zu beobachten. So ist es nicht verwunderlich, dass nach der Revolte im Niger nicht nur die Ausfuhr von Uran und Gold verboten, sondern auch die Schließung des französischen Stützpunktes und der Abzug der ca. 1.500 französischen Soldaten angeordnet wurden. Noch war keine Rede vom Abzug der ca. 1.000 US- und ca. 200 deutschen Soldaten. Niger selbst hat eine Armee von 5.300 aktiven Soldaten und etwa 5.400 Paramilitärs. Den 10.700 Militärs stehen ca. 3.000 westliche Berufssoldaten gegenüber, die nach offizieller Angabe der Ausbildung der Armee des Nigers dienten: Seltsam, dass auf drei Niger-Soldaten ein Ausbildner kommt? 

Die besonderen Machtspiele der USA
Gelegentlich sollen die westlichen Militärs auch islamistische Rebellen bekämpfen, Al-Qaida und deren Splittergruppen. Die Notwendigkeit eines US-Drohnenstützpunkts im Niger läßt sich damit aber nicht hinreichend erklären. Mit dieser Waffe agieren die US-Präsidenten seit George W. Bush – Barack Obama, Donald Trump und Joe Biden – als Ankläger, Richter und Henker in einer Person: Anscheinend im Einklang mit der vielfach zitierten regelbasierten Ordnung. Der US-Drohnenstützpunkt im Niger könnte langfristig ein militärisches Eingreifen der US-Streitkräfte nach sich ziehen. Die USA dürften dabei den deutschen Soldaten, die durch ein Flugverbot im Luftraum des Niger festsitzen, kaum Beachtung schenken. Oder spielen die USA hier vielleicht trickreich über die Bande? Das kann nicht ausgeschlossen werden. Dieser Umsturz wäre nicht die erste CIA operation other than War in der Geschichte Nigers. Der Idealfall für die USA und die EU wäre der Einmarsch von Nigerias starker Armee über den Niger hinaus nach Mali und Burkina Faso, nachdem hinter diesen beiden Staaten ebenfalls Wagner Einheiten stünden. Eine Tatsache, welche den Flugzeugabsturz von Prigozhin in einem völlig neuen Licht erscheinen läßt. Zusammen mit Prigozhin wurden mehrere führende Köpfe der PMC Wagner eliminiert und das zu einem Zeitpunkt, in welchem Wagner in Afrika sich für den Westen störendbemerkbar machte. Zudem versuchte man, Putin diesen Anschlag unterzuschieben, vom BRICS-Meeting abzulenken und gleichzeitig das Image des russischen Präsidenten gegenüber den afrikanischen Ländern zu beschädigen. Die Afrikaner werden sich jedoch durch solche plumpe Propaganda nicht mehr irritieren lassen. 

Bei den Coups in Mali, Burkina Faso und Guinea hatten die ECOWAS-Länder, damals unter dem Vorsitz von Ghana und Guinea-Bissau, seit 2020 kein geeintes Vorgehen gezeigt. Nun hält Nigerias Präsident Bola Tinubu den ECOWAS-Vorsitz und ließ erklären, dass Diplomatie zur Lösung der Krise »der beste Weg vorwärts« sei. Allerdings ließ der Präsident des nach regionaler Führung strebenden 220-Millionenvolks sybillinisch erklären, dass »Optionen nicht vom Tisch« wären.  (13)  Im Land selbst regt sich starker Widerstand gegen eine Intervention. Auch Mali, Burkina Faso und Algerien stellen sich gegen ein militärisches Eingreifen. In Berlin begrüßte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes, »dass sich ECOWAS weiter bemüht, alle diplomatischen Optionen auszuschöpfen und versucht, auf diesem Wege jetzt zu einer Lösung zu kommen; wohl wissend, dass die Drohung mit einer Militärintervention natürlich weiter im Raum steht«.  (14)  Ferner: »Unsere Forderung ist und bleibt die Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung«.  (15) 

Nach dem völkerrechtswidrigen Putsch in der Ukraine im Februar 2014 wurden keine derartigen Forderungen erhoben, was einmal mehr die willkürliche regelbasierte Doppelzüngigkeit des Westens beweist, wenn es um dringend benötigte Ressourcen geht, die man, wie bisher weiterhin rauben möchte.

Es geht hier weder um Völkerrecht, noch um Demokratie und schon gar nicht um Menschenrechte. Es geht darum, dass der Westen und vor allem Frankreich billig zu Uran und Gold kommt  [1]; weiterhin Gas durch Niger hindurch nach Europa fließt   [2],  und Niger die Migration durch sein Land hindurch nach Libyen blockiert  [3], obwohl die Migrationsströme von Sub-Sahara, die durch Niger nach Libyen zu einem Handel entlang der Migrationsstraßen führten, mit Läden, Hotels und anderem, was der armen Bevölkerung ein minimales Einkommen brachte. Die EU hat der nigrischen Regierung Milliarden bezahlt, damit sie diese Migrationsstraßen schließt, was zu Protesten in der nigrischen Bevölkerung führte. 

US-Außenminister Antony Blinken hat nach eigenen Angaben mit dem entmachteten und seitdem gefangen gehaltenen Präsidenten Bazoum gesprochen und dabei die Bemühungen unterstrichen, eine friedliche Lösung des Konflikts zu erzielen. Blinken bekräftigte zudem die Forderung, Bazoum und seine Familie unverzüglich freizulassen.  (16)  Rührend, wie sich der Demagoge Blinken um den korrupten früheren Präsidenten Bazoum kümmert, der nichts anderes als einer der vom Westen bestochenen diktatorischen Compañero ist, mit deren Hilfe sich diese Länder ausplündern lassen, während man ohne Skrupel zuläßt, wie die Bevölkerung rechtlos verarmt. Am 7. August 2023 reiste Blinkens Stellvertreterin Victoria Nuland (Fuck the EU) in die nigrische Hauptstadt Niamey. Sie schrieb auf X (vormals Twitter): »…..um ihre große Besorgnis über die undemokratischen Versuche der Machtergreifung zum Ausdruck zu bringen, dränge sie auf eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung«.  (17)  Reportern gegenüber sagte sie, dass sie sich mit dem früheren Oberst Moussa Salaou Barmou, dem selbsternannten nigrischen Verteidigungschef und drei weiteren Obristen getroffen habe. Dabei erwähnte Nuland, dass Barmou zuvor eine militärische Ausbildung von den USA erhalten und über viele, viele Jahre sehr eng mit den US-Spezialkräften zusammengearbeitet habe, und betonte:
»Wir konnten also die Risiken für Aspekte unserer Zusammenarbeit, die ihm in der Vergangenheit sehr am Herzen lagen, im Detail besprechen«. Dieses Nuland-Statement stimmt nachdenklich. Es stellt sich die Frage, ob Frauen wirklich imstande seien, eine bessere, menschlichere Politik als weiße alte Männer zu betreiben: Denkt man an Nuland, Baerbock oder Liz Truss, möchte man diese Frage eher verneinen.  

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan reagierte auf die Entscheidung der Rebellen in Niger, Uran- und Goldexporte nach Frankreich zu verbieten und sagte, das sei eine Reaktion auf die langjährige Unterdrückung des Landes durch Paris  (18), womit er mehr als recht hat, auch wenn sein Politikstil manchmal mehr an einen in einem türkischen Bazar erinnert. Es scheint, dass die ersten Länder Afrikas dem Rohstoffraub und der Übervorteilung durch mafiöse Handelsverträge mit dem Westen ein Ende setzen wollen. Auch der 35jährige Staatschef von Burkina Faso, Ibrahim Traoré, Geologe und Offizier, hat die französischen Truppen vor die Tür gesetzt und den Export von Gold und Uran nach Frankreich und in die USA untersagt. Zugleich schmiedet er eine regionale Allianz mit Niger, Guinea, Mali und Algerien.  (19)  Ibrahim Traoré könnte zum Hoffnungsträger der (west-)afrikanischen »Erhebung gegen Neokolonialismus und westliche Dominanz« werden. Dann könnten die Fassaden des Wertewestens endgültig zusammenbrechen. Dieser Wertewesten hat sich neben Ausbeutung und Übervorteilung schon oft genug von einer noch häßlicheren Seite gezeigt, etwa in Vietnam, Chile, El-Salvador, Nicaragua, Grenada, Jugoslawien, Afghanistan, Irak und Libyen. Das dürfte im globalen Süden nicht in Vergessenheit geraten sein. 

Russland als Vorkämpfer der globalen Freiheitsbewegung
Auch wenn der Westen sich gern als der moralisch Überlegene darstellt und von Diversität und Antirassismus heuchelt, zieht solche Doppelzüngigkeit nicht. Nun scheinen die Russen das zu machen, was die Amerikaner in der Ukraine vorgezeigt haben: Sie unterstützen den Umsturz mit Hilfe der Bevölkerung. Vor diesem Hintergrund treten der Niger, Burkina Faso und Mali selbstbewußt auf, weil sie auf die russisch-chinesische Unterstützung zählen können. So liegt im Niger-Konflikt auch das Potential für einen Krieg der Systeme, der sich zu einem postkolonialen Stellvertreterkrieg auswachsen könnte. Ein wachsender Teil der vor allem jüngeren afrikanischen Bevölkerung sieht in Putin keinesfalls einen Bösewicht, wie ihn der Westen mit Vorliebe darstellt, vielmehr den Vorkämpfer einer globalen Freiheitsbewegung, die gegen die von Akteuren des geopolitischen Westens aufrechterhaltene Ausbeutungs- und Unterwerfungsordnung – unter dem Deckmantel der Demokratie – in ihren Regionen gerichtet ist. Die EU-Staaten, vornehmlich eine Allianz ehemaliger Kolonialstaaten  - im Gegensatz zu den BRICS-Staaten, die zum Teil immer noch kolonisiert sind -  haben es von Anfang an nicht für nötig gehalten, mit den afrikanischen Staaten respektvoll umzugehen. Die verhängnisvolle Afrikapolitik der USA 2007: Aufbau des US-Militärkommandos AFRICOM – und die der EU, die vor dem Abstieg in die geopolitische Unbedeutsamkeit schützen sollte -  haben Afrika mit dem Westen entzweit. 

Zu verweisen ist hierzu auf Artikel 42 Abs. 5 des EU-Vertrags von Lissabon von 2007 (identisch mit dem Ex-Artikel 17 der EU-Verfassung von 2005). Nachdem die EU-Verfassung von den Parlamenten Frankreichs und Irlands nicht ratifiziert wurde, kam zwei Jahre später eine weitgehend identische EU-Vertragsvariante zur Anwendung: Im Artikel 42/5 werden militärische Missionen »zur Wahrung der Werte der Union und im Dienst ihrer Interessen«  (20)  aufgeführt. Das heißt im Klartext: Angriffskriege um Öl, Uran und Werteexport.  Das ist die regelbasierte Ordnung des Westens, die mit Gewalt und ohne jedes UNO-Mandat durchgeführt werden kann. Aus dem Dokument des deutschen Bundestags vom 18. April 2018: Bezüglich der NATO und der Energie-Sicherheit ist zum Rollenverständnis der NATO zu entnehmen, dass dieses Verteidigungsbündnis etwas schützen soll, was ihm zwangsläufig nicht zusteht: Die Allianz stellt auf ihrem Internetportal mit Stand November 2011 fest, dass »die Sicherheitsinteressen durch eine Unterbrechung des Flusses von vitalen Ressourcen beeinträchtigt werden könnte«.  (21)  Je länger der Westen und vor allem die EU sich dem Paradigmenwechsel zu entziehen versuchen oder diesem mit Gewalt begegnen, desto katastrophaler werden die Folgen sein. Der Westen besitzt nicht jene Ressourcen, die er im Übermaß verbraucht. Dass man sich diese Ressourcen egal von wo mit Gewalt, Krieg und Bestechung holen kann, wird immer schwieriger. Eine friedliche multipolare Weltordnung ist die einzige Lösung – und es sind gerade die USA, die NATO und die EU, die sich einer solchen Entwicklung entgegenstellen. 

Parallel dazu muß noch das unvorstellbar grausame Wirken der einstigen Kolonialmächte  – allen voran das der Briten, Franzosen, Belgier und nordamerikanischer Sklavenhändler –  aufgearbeitet werden, um über einen respektvollen Umgang wieder einen fairen Handel herzustellen. Die Zeiten, während denen man unter dem Vorwand der Schlagworte Demokratie, Freiheit und Menschenrechte in Länder einfallen konnte oder diese mit Hilfe von Diktatoren plündern konnte, sind ein für alle Mal vorbei. Selbst einer Zuwanderungspolitik über den sogenannten Brain-Drain (im Amtsdeutsch: Fachkräftezuwanderung) haften neokolonialistische Züge an. Der Westen spielt im Niger vor, dass es ihm um die Wiederherstellung der Demokratie gegen Putschisten ginge. In Wirklichkeit geht es um Uran, Gold und Öl zum Spottpreis und die Aufrechterhaltung der postkolonialen Hegemonie! Die Uran-Versorgung der französischen Kernkraftwerke könnte Risse bekommen: Über die letzten 10 Jahre importierte Frankreich 27 Prozent seines Bedarfs aus Kasachstan, 20 % aus Niger und 19% aus Uzbekistan.  

Was bedeuten die geänderten Verhältnisse für die Schweiz?
 
In der Schweiz sollte man sich überlegen, was das für die Sicherheit der Stromversorgung im Winter und für das Betreiben von Wärmepumpen und Elektroautos bedeuten könnte. Es gilt abzuwarten, wie unsere überforderten Politiker auf diese Situation reagieren: Werden sie die freiheitlichen Bemühungen der Afrikaner unterstützen, oder sich unter Aufgabe der Neutralität, wie im Fall der Ukraine, einmal mehr der NATO/EU anbiedern? Mit der Aufgabe der Neutralität hat sich die Schweiz die Möglichkeit genommen, in Konflikten als glaubhafter Vermittler auftreten zu können. Es stellt sich die Frage: Machten unsere Politiker das gedankenlos, vorsätzlich, oder fühlten sie sich erpreßt? 

Diese Frage hatten wir Jacques Baud persönlich gestellt: »Was ist in die Politiker der EU und auch der Schweiz in Bezug auf die ruinöse Politik im Krieg der NATO gegen Russland gefahren?« Bauds Antwort lautete, dass es eine Mischung aus Vorsatz und Überforderung sei, garniert mit Erpressung, der eine große Rolle zukäme. Dazu paßt auch die Frage, wer die UBS kontrolliert? Sind es atlantische Kreise und hat der Zusammenschluß von CS und UBS die Schweiz gegebenenfalls erpreßbarer gemacht? Es ist das Bestreben der USA, Neutralität als politische Möglichkeit per se abzuschaffen. Nach dem NATO-Beitritt Finnlands, eine überstürzte Handlung, und dem möglichen Beitritt Schwedens, werden Österreich und die Schweiz noch stärker unter Druck gesetzt werden. Wo bleibt eine Schweizer Regierung mit Rückgrat, um sich einer solchen Entwicklung entgegenzustellen? 

Doch zurück zu Niger und dem vielleicht letztlich ausschlaggebenden Grund für ein militärisches Eingreifen gegen das Land durch ECOWAS/Nigeria und EU-Länder: Ist es die Gaspipeline, die von Nigeria über Niger nach Europa führt? Von Afrika aus wird die EU mit etwa 20 % ihres Gasbedarfs versorgt. Damit scheint die NATO herausgefordert, deren erklärte Zielsetzung die Versorgungssicherheit des imperialistischen Blocks mit kolonialen Methoden umfaßt. Noch scheint diese damit okkupiert, für den Einsatz einen Proxy-Staat zu finden.  (22)  Die NATO braucht einen Krieg und sucht sich einen Stellvertreter, diesmal in Afrika und nicht in der Ukraine. Koste es was es wolle: Hundertausende weitere Tote, Millionen von Flüchtlingen? Ein Bild, mit dem wir leider schon vertraut sind! Eine militärische Intervention der Achse USA-Frankreich-Großbritannien-ECOWAS in Niger, so erklärten es Burkina Faso und Mali, würden sie als Kriegserklärung gegen ihre Staaten erachten.   

China und Russland trösten afrikanische Staaten nicht nur mit leeren Worten, sondern sie liefern dank praktischen Handelns den Aufbau einer vielschichtigen Infrastruktur. Im Gegensatz zu Frankreich mit seinem CFA-Franc als Druckelement, bieten die BRICS-Staaten interessante Alternativen zum Franc und Dollar. So haben sicherlich viele Afrikaner das 15. BRICS-Spitzentreffen der Ländergruppe Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika vom 23. bis zum 25. August in Johannesburg sehr aufmerksam verfolgt. Es fand unter dem Motto »BRICS und Afrika: Partnerschaft für gegenseitig beschleunigtes Wachstum, nachhaltige Entwicklung und inklusiven Multilateralismus« statt und bewegte die Welt je nach Lager ganz unterschiedlich. Während westliche Vertreter nicht eingeladen waren, zeigten Lateinamerika und Afrika starke Präsenz. Auf der Agenda standen Multilateralismus und die Aufnahme neuer Mitglieder. Weit geteiltes Interesse fand die Absicht einer Ent-Dollarisierung des internationalen Finanzsystems.  (23)   

Zu den Autoren: Der Schweizer Herzchirurg Prof. Dr. Paul Robert Vogt ist mit seiner Stiftung »EurAsia Heart Foundation« seit über 23 Jahren in Asien und Afrika aktiv und kooperiert eng mit politischen Entscheidungsträgern und Unternehmern vor Ort. Von Wolfgang Effenberger stehen zahlreiche Artikel auf politonline. Effenberger erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete atomare Gefechtsfeld in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Effenberger publiziert zur deutschen Zeitgeschichte und US-Geopolitik; zuletzt erschienen von ihm »Schwarzbuch EU & NATO« (2020) und »Die unterschätzte Macht« (2022)


Quelle:
https://unser-mitteleuropa.com/der-afrikanische-staat-niger-im-letzten-kampf-gegen-den-wertewesten/   1. 9. 23
Der afrikanische Staat Niger im letzten Kampf gegen den »Wertewesten«
Das Sprengen der unsichtbaren letzten kolonialen Ketten - Von Wolfgang Effenberger und Paul Robert Vogt

1) indianexpress.com/article/explained/explained-global/ecowas-west-africa-niger-coup-explained-8882492/
2)www.economist.com/middle-east-and-africa/2018/01/27/francophone-africas-cfa-franc-is-under-fire
3) data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.KD?locations=CI-NE
4)https://www.destatis.de/DE/Themen/Laender-Regionen/Internationales/Thema/Tabellen/Basistabelle_BIPproKopf.html
5)www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/martin-sonneborn-globaler-sueden-will-nicht-mehr-vom-westen-ausgepluendert-werden-li.375484
6)https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/martin-sonneborn-globaler-sueden-will-nicht-mehr-vom-westen-ausgepluendert-werden-li.375484
7)Ebda.
8)taz.de/Rede-des-EU-Aussenbeauftragten/!5885453/
9)taz.de/Rede-des-EU-Aussenbeauftragten/!5885453/
10)https://www.bmz.de/de/laender/niger/soziale-situation-16962
11)IMF / WEO / IFS zitiert nach wko.at/statistik/laenderprofile/lp-niger.pdf
12)https://weltwoche.ch/daily/aufstand-in-niger-warum-die-buerger-in-den-west-und-zentralafrikanischen-staaten-nicht-die-franzoesische-trikolore-oder-das-kobaltblaue-europabanner-sondern-die-flagge-russlands-bei-sich-tragen/
13)https://www.gmx.net/magazine/politik/us-politik/diplomatie-intervention-gipfel-tagt-niger-krise-38512112
14)https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/regierungspressekonferenz/2611448
15)Ebda.
16)https://www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fnews%2F2023-08%2F09%2Fdiplomatie-oder-intervention-gipfel-tagt-zu-niger-krise
17)http://www.defenddemocracy.press/victoria-nuland-meets-with-niger-junta-leaders/
18)https://www.anti-spiegel.ru/2023/was-ueber-die-entwicklungen-in-und-um-niger-bekannt-ist/
19)https://www.kommunisten.de/rubriken/internationales/8884-niger-besser-die-russen
20)dejure.org/gesetze/EU/42.html
21)www.bundestag.de/resource/blob/412712/2ee009402409ca97f060fb855bbce2d0/WD?2–055-12-pdf-data.pdf, original „NATO ?s Rolle im Bereich der Energiesicherheit“, NATO-Internetportal, 17. November 2011, URL: www.nato.int/cps/en/SID-D31B42F0-77245C82/natolive/topics_49208.htm?selectedLocale=en

22)https://weltwoche.ch/daily/aufstand-in-niger-warum-die-buerger-in-den-west-und-zentralafrikanischen-staaten-nicht-die-franzoesische-trikolore-oder-das-kobaltblaue-europabanner-sondern-die-flagge-russlands-bei-sich-tragen/
23)https://amerika21.de/2023/08/265522/brics-gipfel-johannesburg-bewegt-welt