Der Gipfel von Vilnius

Mit neuen Aufrüstungsverpflichtungen und der Einigung auf konkrete Operationspläne für einen möglichen Krieg gegen Russland ist der NATO-Gipfel in Vilnius am 12. Juli zu Ende gegangen.

Beschlossen wurden unter anderem drei Teilpläne, die das militärische Vorgehen im Kriegsfall getrennt nach drei Regionen skizzieren: Einer für den Nordatlantik, ein zweiter für Deutschland und die Ostsee plus Anrainer, ein dritter für Südeuropa und das Schwarze Meer.

Um ausreichend Waffen bereitstellen zu können, hat die NATO für die Militärhaushalte der Mitgliedstaaten eine Schwelle von 2 % der Wirtschaftsleistung als Mindestbetrag beschlossen. Schon im vergangenen Jahr nahmen die Wehretats der europäischen NATO-Staaten und Kanadas um 8,3 % zu. Gewaltige Summen sollen auch weiterhin in die Aufrüstung der Ukraine gesteckt werden: Sicherheitsgarantien, die die G7-Staaten Kiew am 12. 7. zusagten, sehen die fortgesetzte Bewaffnung des Landes im großen Stil vor. Sie enthalten zudem umfassende Hilfe zum Wiederaufbau. Eine feste Beitrittszusage von der NATO, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gefordert hatte, erhielt Kiew jedoch nicht. 
 

»Fast die gesamte Bundeswehr«                
Bekräftigt hat die NATO auf ihrem Gipfel ihr neues Streitkräftemodell [NATO Force Model], das bereits auf dem NATO-Gipfel vom 28. bis zum 30. Juni 2022 in Madrid beschlossen worden war. Demnach sollen 300.000 Soldaten aus NATO-Mitgliedstaaten stets in hoher Bereitschaft gehalten werden; 100.000 von ihnen sollen binnen zehn, 200.000 binnen 30 Tagen eingesetzt werden können. Die Bundesregierung hatte damals zugesagt, die Bundeswehr werde rund 30.000 Soldaten, die über 85 Schiffe und Flugzeuge verfügten, in hoher Bereitschaft halten. Im Ernstfall könnten sogar mehr deutsche Soldaten zur Verfügung gestellt werden. Das Bundesverteidigungsministerium räumte im Juli 2022 ein: »Insgesamt umfaßt das New Force Model nahezu die gesamten deutschen Streitkräfte«. Zentrale Elemente der Planung sind 8 NATO-Battlegroups, die in einem weiten Bogen um Russlands Westen liegen und deren Standorte von Estland, Lettland und Litauen über Polen, die Slowakei und Ungarn bis nach Rumänien und Bulgarien reichen. Sie können je nach strategischer Lage bis auf Brigadestärke aufgestockt werden. Die Bundeswehr wird künftig eine solche Brigade in Litauen stellen; dabei sollen die deutschen Soldaten nicht rotieren, sondern dauerhaft in dem Land stationiert sein.  

»Wie wir kämpfen wollen«
In Vilnius hat die NATO zudem neue Verteidigungspläne beschlossen. Dabei handelt es sich laut einem NATO-Mitarbeiter um »operative [...] Kriegspläne, die beschreiben, wie wir kämpfen wollen«. Berichten zufolge umfassen die streng geheim gehaltenen Pläne gut 4.000 Seiten. Sie sind in zweifacher Hinsicht aufgegliedert. Zum einen beziehen sie die fünf Dimensionen heutiger Kriegführung ein: Land, Luft, See, Welt- und Cyberraum. Zum anderen sind sie geografisch in 3 riesige Regionen geteilt. Die erste von ihnen erstreckt sich demnach von Nordamerika über den Atlantik und Großbritannien bis in den Hohen Norden; ihr zuständiges Hauptquartier liegt in Norfolk [US-Bundesstaat Virginia]. Die zweite Region umfaßt Deutschland, das nördliche Europa und insbesondere die Ostsee und die an sie grenzenden Staaten; das zugehörige Hauptquartier befindet sich in Brunssum in den Niederlanden. Die dritte Region mit Hauptquartier in Neapel umfaßt Südeuropa, vor allem mit dem Mittel- und dem Schwarzen Meer. Wie berichtet wird, begann die Erstellung der Pläne bereits im Jahr 2018, also lange vor Russlands Angriff auf die Ukraine. [1] Nach dem formellen Beschluss in Vilnius, die neuen Verteidigungspläne umzusetzen, wird ab sofort mit den praktischen Vorbereitungen begonnen. 

Immer mehr rüsten
Das neue Streitkräftemodell und die neuen Verteidigungspläne erfordern, wie die NATO konstatiert, eine massive Aufrüstung. Deshalb haben sich die Bündnismitglieder in Vilnius verpflichtet, in Zukunft mindestens 2 % ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) in ihre Streitkräfte zu investieren, davon wiederum mindestens ein Fünftel in »größere Ausrüstung«. Zuweilen werde es erforderlich sein, mehr als 2 % des BIP in den Militäretat zu stecken, heißt es in der Gipfelerklärung; nicht zuletzt deshalb, weil die NATO ihren »technologischen Vorsprung« sichern müsse. [2]  Im laufenden Jahr haben aktuellen Angaben zufolge 11 Bündnisstaaten die Zwei-Prozent-Schwelle bereits überschritten, darunter Griechenland (3,01 %), die Vereinigten Staaten (3,49 %) und Polen (3,9 %). Die Bundesrepublik liegt bei 1,57 % und muß schon jetzt bei der Kindergrundsicherung sparen, bekräftigt aber, den Wehretat um die erforderliche zweistellige Milliardensumme pro Jahr aufstocken zu wollen. Um die gewünschte Aufrüstung sicherzustellen und nach Möglichkeit zu koordinieren, hat die NATO einen Defence Production Action Plan erstellt, auf den die Gipfelerklärung erneut hinweist. Er soll insbesondere die notwendigen verteidigungsindustriellen Kapazitäten zu schaffen helfen. 

Kein NATO-Beitritt  
Dominiert haben den NATO-Gipfel die erbittert geführten Auseinandersetzungen um die NATO-Perspektive der Ukraine. Durchgesetzt haben sich die USA und die Bundesrepublik, die sich gegen eine feste Beitrittszusage, vor wie auch nach Kriegsende, positioniert hatten. In der Gipfelerklärung heißt es nun weitgehend unverbindlich, »die Zukunft« der Ukraine liege »in der NATO». Dazu wird auf die Erklärung des NATO-Gipfels vom April 2008 verwiesen, auf dem der Ukraine und Georgien grundsätzlich die NATO-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, aber nichts konkretisiert worden war; in den 15 Jahren seither ist die Ukraine einem Beitritt nicht wirklich nähergekommen. Um jeden Anschein eines etwaigen Beitrittsautomatismus zu meiden, heißt es in der Gipfelerklärung, dass man der Ukraine »eine Einladung« zukommen lassen werde, »wenn die Verbündeten zustimmen«. [2]  Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, hat öffentlich mit heftigem Unmut reagiert und der NATO Unschlüssigkeit und Schwäche vorgeworfen. Die G7-Staaten haben nun Kiew als Ersatz für die ausgebliebene NATO-Beitrittszusage Sicherheitsgarantien zugesagt, die jeweils noch bilateral verbindlich festgezurrt werden sollen. Die Bundesrepublik ist in vollem Umfang an den Maßnahmen beteiligt.   

Sicherheitsgarantien  
Im Detail sehen die Sicherheitsgarantien dreierlei vor. Zum einen soll die Ukraine mit aller Macht hochgerüstet werden. Dazu zählt die Lieferung von Panzern und Flugabwehr, von Artillerie »und anderen Schlüsselfähigkeiten«.  [3]  Dies ist mit einer massiven Ausweitung der Rüstungsproduktion auch in Deutschland verbunden. Zudem soll die rüstungsindustrielle Basis der Ukraine ausgebaut werden. Damit ist unter anderem der deutsche Rheinmetall-Konzern befasst. Auch Militärausbildung und gemeinsame Manöver sollen intensiviert werden. Zum zweiten soll die Ukraine ökonomisch stabilisiert und widerstandsfähig gemacht werden. Dazu gehört besonders der Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes. Weithin wird dafür eine wohl dreistellige Milliardensumme veranschlagt. Zum dritten stellen die G7 Kiew unmittelbare Unterstützung technischer wie auch finanzieller Art in Aussicht. Letzten Endes soll die Ukraine so in die Lage versetzt werden, sich gegen einen künftigen erneuten Angriff selbst zu verteidigen – als ein ausgeblutetes und verarmtes, aber waffenstarrendes Land.

In einem Interview [4] der russischen Nachrichtenagentur TASS vom 14. 7. in New York zum NATO-Gipfel sagte Helga Zepp-LaRouche, der Versuch, eine globale NATO zu schaffen, verärgere nicht nur China, sondern fast alle Länder Asiens. Die Länder des Globalen Südens könnten den Unwillen der NATO erkennen, eine diplomatische Lösung in der Ukraine zu finden. TASS zitiert die Gründerin des Schiller-Instituts weiter mit den Worten: »Die einfachen Menschen werden die offizielle Darstellung dieses Konflikts mehr und mehr in Frage stellen, da ihre Sozialleistungen und ihr Lebensstandard zugunsten der Militärausgaben beschnitten werden«. »Es besteht eindeutig die Gefahr, dass der gesamte Konflikt zu einem globalen Krieg eskaliert, was die Befürworter der Politik zur Ruinierung Russlands offensichtlich töricht abtun«. Die Ukraine solle als riesige Waffen- und Rüstungsfabrik mit Investitionen aus den USA, Deutschland und anderen Ländern  aufgebaut werden. Sie betonte, dies sei eine »Botschaft an das ukrainische Volk, das nicht nur die Absicht erkennen wird, den Krieg noch lange fortzusetzen, sondern auch damit rechnen muß, dass etwa 300 Millionen Streubomben auf es abgeworfen werden, und verstehen wird, dass sein Leben und seine Sicherheit nicht viel zählen«. 

Dass sich die anderen NATO-Mitglieder nicht gegen die Streubomben gewehrt haben, werde »das moralische Ansehen der NATO in den Augen der Bevölkerung noch mehr untergraben«. In dieser Situation müssen die europäischen Länder mit den Menschen des globalen Südens zusammenarbeiten, um ein »neues, gerechtes Wirtschaftssystem zu schaffen«, so die Expertin. 

Die ehemalige demokratische Präsidentschaftskandidatin und Kongreßabgeordnete Tulsi Gabbard hat in einem Interview mit Fox News am 9. Juli die unmenschliche Mentalität hinter dieser Entscheidung scharf kritisiert: »Das ukrainische Volk ist ihnen egal; diese Munition wird noch jahrzehntelang zu ukrainischen Opfern durch nicht detonierte Streubomben führen. Das ist die gleiche kalte berechnende Gefühllosigkeit, die wir bei Madeleine Albright gesehen haben, als sie sagte, dass der Preis von 500.000 toten irakischen Kindern durch die US-Sanktionen es wert sei«. [5]  

Der republikanische Kongreßabgeordnete Paul Gosar aus Arizona verlangt, dass die USA stattdessen auf Friedensgespräche drängen sollten. »Der Krieg in der Ukraine zieht sich nun schon seit über 500 Tagen hin, und Biden hat gerade angekündigt, dass er tödliche Streubomben in die Ukraine schicken wird, die von fast 120 Ländern verboten sind, weil sie wahllos unschuldige Zivilisten töten können. Das Biden-Regime will keinen Frieden«,  schrieb er in einem Tweet vom 11. Juli. Am Tag zuvor hatte er geschrieben, dass »der Krieg in der Ukraine immer noch schwelt. Niemand in der Biden-Regierung oder in der NATO will Frieden, also geht der Krieg weiter. Ich verurteile den andauernden Krieg und rufe weiterhin zu Friedensgesprächen auf, wie ich es seit März 2022 getan habe, und ich bleibe dabei, dass wir in diesem Krieg nichts zu suchen haben«.  [6]  

  

https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9295
13. 7. 23   Eigener Bericht: Der Gipfel von Vilnius

[1]  María R. Sahuquillo, Andrea Rizzi: The dilemma of Ukraine’s accession and other keys to a NATO summit near Russia;  https://english.elpais.com/   10.07.2023
[2]  Vilnius Summit Communiqué. Issued by NATO Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Vilnius 11 July 2023
[
3]  Joint Declaration of Support for Ukraine. gov.uk 12.07.2023 
[4]  https://www.bueso.de/tass-interview-helga-zepp-larouche-bewertet-nato-gipfel
14. 7. 22
[5] 
https://twitter.com/TulsiGabbard/status/1677997014406283266
[6] 
https://twitter.com/RepGosar/status/1678756167437238273   https://twitter.com/RepGosar/status/1678483399860781058