Der Blick der NATO nach Ostasien

Die Forderung eines Experten des Washingtoner Think Tanks Atlantic Council,

der zufolge die NATO ihre Militärübungen und Operationen systematisch in die Asien-Pazifik-Region ausweiten soll, fügt sich in die von Washington geplante neue Strategie gegen die Seidenstrasse nahtlos ein. Den Hintergrund hierzu bildet die Debatte darüber, wie sich das westliche Kriegsbündnis gegen China in Position bringen soll. So verlangt der Atlantic Council auch den Aufbau eines militärischen NATO-Hauptquartiers in der Asien-Pazifik-Region. 

Die globale Machtbalance

In jüngster Zeit ist die Fokussierung der NATO auf die Rivalität mit China immer öfters gefordert worden. Wie der sich über China besorgt zeigende NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erläutert, »verändert der Aufstieg Chinas die globale Machtbalance auf fundamentale Weise«. Die Volksrepublik China, urteilt er, sei »in der Arktis, in Afrika und im Mittelmeer präsent«, darauf müsse man reagieren.

Die in die kritische Infrastruktur Europas massiv investierende Volksrepublik sei eine feste Grösse im Cyberraum. Zudem stecke Beijing viel Geld und Energie in Nuklearwaffen und Langstreckenraketen, die Europa erreichen können. »Dieser Herausforderung«, so Stoltenberg, »müssen sich die NATO-Verbündeten gemeinsam stellen«.   

Überlegungen, wie sich die NATO konkret gegen China in Stellung bringen könne, werden in ausenpolitischen Think Tanks seit geraumer Zeit angestellt. Generell heisst es dort, man solle chinesische Investitionen in die europäische Infrastruktur schärfer kontrollieren; zivile Strassen, Häfen und Bahnstrecken, an deren Ausbau sich China beteilige, seien schliesslich ein wesentlicher Teil der NATO-Pläne für die militärische Mobilisierung. Auch ein aktuelles, vom German Marshall Fund in Umlauf gebrachtes Papier befasst sich unter anderem mit den chinesischen Investitionen in die europäische Infrastruktur, wobei es u.a. um Investitionen in Häfen wie im griechischen Piräus und in Eisenbahnlinien wie die Zugstrecke von Belgrad nach Budapest geht; deren ungarisches Teilstück betrifft ein NATO-Mitglied direkt. Ferner heisst es in dem Papier, chinesische Investitionen in die genannten Infrastrukturanteile zeitigten unmittelbare Folgen für die Sicherheit der Allianz. Chinesische Unternehmen hätten etwa in 12 Häfen sowie in 7 NATO-Ländern, die eine Schlüsselbedeutung für die militärische Mobilisierungsplanung im Osten, Süden und Südosten der NATO besitzen, Investitionen getätigt.  

Die NATO müsse daher dazu beitragen, für auswärtige Direktinvestitionen in Bereiche mit ziviler wie auch militärischer Anwendung Schlüsselkriterien festzulegen. Konkret sei auch der Schutz und die Unversehrtheit digitaler Informationen für die NATO von Bedeutung. Letztere Aussage zielt erkennbar auf die Debatte um die Nutzung von Huawei-Technologie beim aktuellen Aufbau der 5G-Netze in Europa ab.

Ein NATO-China Rat
 

Weiterreichende Überlegungen hat kürzlich die Transatlantic Security Initiative des Atlantic Councils angestellt. Wie Ian Brzezinski, der Sohn von Zbigniew Brzezinski, darlegt, sei die NATO längst über ihr eigentliches transatlantisches Bündnisgebiet hinausgewachsen. So habe sie Einsätze etwa in Afghanistan, am Horn von Afrika und im Mittleren Osten absolviert; sie habe ausserdem Globale Partnerschaften mit Japan, Südkorea, Australien, Neuseeland und der Mongolei geschlossen. Sie habe daher allen Anlass, sich auch mit China zu befassen. Ein erster Schritt könne die Gründung eines NATO-China-Rats nach dem Vorbild des NATO-Russland-Rats sein. Folgt man Brzezinski, dann zielt das Vorhaben insbesondere darauf ab, die europäischen NATO-Mitglieder fest an die Chinapolitik der USA zu binden: In einem NATO-China-Rat, schreibt Brzezinski, seien die Bündnismitglieder gezwungen, sich gegenüber Beijing auf koordinierte Weisezu positionieren; eine derartige Institution könne deshalb unterstreichen, dass sich im derzeitigen globalen Machtkampf nicht nur China und die USA gegenüberständen, sondern China und die transatlantische Gemeinschaft.

NATO-Operationen im Pazifik

Vor allem aber schlägt Brzezinski, wie eingangs erwähnt, vor, dass die NATO ihre militärischen Aktivitäten in die Asien-Pazifik-Region ausweiten soll. Zunächst gelte es, die gemeinsamen Beratungen mit den dortigen Globalen Partnern durch regelmässigere und robustere Militärübungen zu ergänzen. Dadurch könne man US-Kriegsübungen im Pazifik, die bereits in den vergangenen Jahren mit Beteiligung europäischer Streitkräfte stattgefunden hätten, um eine NATO-Komponente erweitern. Brzezinski schlägt zudem vor, das Kriegsbündnis solle im Indo-Pazifik ein Center of Excellence etablieren, in dem Offiziere aus den Streitkräften der Globalen Partner in die NATO-Kommandostruktur eingebunden würden und sich mit NATO-Praktiken und -Einsätzen vertraut machen könnten. Schliesslich solle das Bündnis ein kleines Hauptquartier im Indo-Pazifik installieren, das NATO-Manöver und -Operationen koordinieren könne. 

Freilich dürfe die NATO ihre Aktivitäten nicht allein auf militärische Maßnahmen reduzieren: Sie müsse die gesamte Bandbreite diplomatischer, ökonomischer, technologischer, gesellschaftlicher sowie militärischer Fähigkeiten und Dynamiken, die die geopolitische Macht definieren, mobilisieren.

Stoltenberg hat schon 2019 damit begonnen, die Beziehungen der NATO insbesondere zu Australien zu intensivieren. Das Land profiliert sich seit geraumer Zeit als schärfster Parteigänger Washingtons im Machtkampf gegen Beijing. So hat an dem Mitte Juni zu Ende gegangenen Treffen der NATO-Verteidigungsminister erstmals deren Amtskollege aus Australien vollumfänglich teilgenommen. Stoltenberg bekräftigte erneut, dass das Bündnis künftig noch enger mit gleichgesinnten Ländern wie Australien, Japan, Neuseeland und Südkorea zusammenarbeiten müsse. Indessen spricht er sich mit Rücksicht auf Mitgliedstaaten, die bislang zögern, noch nicht für NATO-Manöver und -Operationen in der Asien-Pazifik-Region aus: »Das Südchinesische Meer ist kein Einsatzort für die NATO. Es gibt keinen Grund, Truppen der Allianz dort hinzuschicken«. Allerdings dauert die Debatte an.

Dass China laut dem Forschungsinstitut SIPRI in Stockholm mit 320 Stück lediglich einen Bruchteil der Atomwaffen der Vereinigten Staaten (5.800) und Russlands (6.375) besitzt und weniger als die beiden NATO-Atommächte in Europa zusammen (Frankreich: 290; Grossbritannien: 215), wurde von Stoltenberg unerwähnt gelassen. Wenigstens räumte er ein, dass kein Land von Beijing unmittelbar bedroht wird.

  

Quelle: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8310/
18. 6.20  Der Blick der NATO nach Ostasien