»Man muß sich an den Kopf fassen, was Herr Ischinger da von sich gibt.«

So lautet der Kommentar des ehemaligen Vizepräsidenten der

Parlamentarischen Versammlung der OSZE, Willy Wimmer, zu den jetzt erfolgten Aussagen des Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger. In dem mit Tilo Gräser von Sputnik Deutschland geführten Gesprächbehauptet Ischinger, daß der Westen insgesamt ein besseres Verhältnis zu Moskau möchte, was Rußland hingegen nicht wolle; er macht daher Rußland für die seit 2014 anhaltende Krise verantwortlich und unterstellt dem Land auch eine Mitverantwortung für die Flüchtlingskrise.  [1] 

In dem mit der Zeitschrift Internationale Politikam 5. 1. geführten Interview führt der ehemalige deutsche Botschafter in der USA, der der Münchner NATO-Konferenz seit 2008 vorsteht, aus, daß »das Ziel, eine möglichst konfliktfreie Beziehung zu Rußland herzustellen«, »Teil der deutschen Staatsräson« sei. Wie er erklärt, sei die Rußland-Politik in Deutschland »nicht nur rationale Politik.« Es gebe »da ein emotionales Element, das mit der Vergangenheit zu tun habe«; deshalb sei die deutsche Politik gegenüber Rußland in ihrem Denken »häufig etwas romantischer«, was sie auch erschwere. Ischinger meint ferner, daß Deutschland im Vergleich zur »existenziellen Krise der EU« die Krise mit Rußland »emotional deutlich stärker als die Partner« treffe. Diese habe sich bereits 2008 angekündigt.  [2]

Wie Ischinger Gräser gegenüber darlegt, hätten schon die Rede von Präsident Putin, die dieser auf der Münchner Konferenz 2007 hielt, sowie der Krieg in Georgien 2008 gezeigt, »daß eine neue Epoche in den West-Ost-Beziehungen angebrochen war.« Der damals »neu aufbrechende Ost-West-Gegensatz« sei inzwischen zu einem Konflikt geworden. Der Westen habe noch bis Mitte der 1990er Jahre gedacht, »alles im Griff zu haben« und daß dem Ost-West-Konflikt eine »neue Phase« folge.

Weggelassene Tatsachen 
Ischinger, so Gräser, läßt nicht nur aus, daß die russischen Truppen 2008 den georgischen Angriff auf die Republik Südossetien auf der Basis internationaler Abkommen zurückschlugen und dort mit einem international vereinbarten Mandat agierten; sie handelten damit »rechtskonform«, wie der Politologe Reinhard Mutz 2014 in der Zeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik feststellte. Der Westen, so Ischinger, habe das dagegen als eine Art »Betriebsunfall« gesehen; aus seiner Sicht hat Putin 2008 »umgeschaltet« und das westliche Angebot einer »Modernisierungspartnerschaft« ausgeschlagen, »aus einer ganzen Reihe von Gründen.« Zudem wirft Ischinger Rußland vor, »2014 mit der Annexion der Krim« eine neue Ära eingeläutet zu haben und den Glauben, »daß wir mit der Charta von Paris von 1990 dauerhafte, nachhaltig wirksame und verlässliche Strukturen für die euro-atlantische Gemeinschaft geschaffen hätten, an die sich alle halten würden«, plötzlich zerstört zu haben.

Das haben Anfang Dezember 2017 ehemalige hochrangige deutsche Politiker und Diplomaten, darunter sein Vorgänger Horst Teltschik bei einer Veranstaltung in Berlin anders beschrieben: Die westliche Seite habe die Instrumente für eine gemeinsame Sicherheit mit der Sowjetunion bzw. Rußland und den anderen osteuropäischen Staaten, wie sie 1990 in der »Charta von Paris für ein neues Europa« vereinbart wurden, nicht genutzt.

Ischinger sieht das anscheinend anders; er meint: »Die Reparaturarbeiten, die wir seit 2014 zu erledigen haben, sind zwar angelaufen, aber sie sind bislang nicht erfolgreich gewesen.« Mit Blick auf ein mögliches besseres Verhältnis zu Rußland als angeblichem Teil der bundesdeutschen Staatsräson sagt er: »Die andere Seite muß es auch wollen, und im Augenblick will sie es nicht. Sie will jedenfalls nicht dorthin zurück, wo Putin mit seiner Bundestagsrede 2001 war, als er sagte: Ich will nach Westen, ich will zu euch; das ist gescheitert - jedenfalls vorerst.« Ischinger behauptet sogar, daß die Flüchtlingskrise »letztlich eine Folge« der seit 2014 erfolgten »russischen Intervention in der Ukraine und in Syrien« sei; und erklärt, dies betont halbironisch: »Dank Putins Politik bräuchte er sich keine Sorgen um die weitere Existenz der von ihm geführten Münchner Sicherheitskonferenz zu machen.« So würden die Themen für das jeweils zu Jahresbeginn in der bayerischen Hauptstadt stattfindende Treffen nicht ausgehen. Dort hatte der damalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck auf der Konferenz des Jahres 2014 für Aufsehen gesorgt, als er in einer Rede eine stärkere Rolle Deutschlands in der Welt einforderte. Das begründete er bereits damals unter anderem mit den Bestrebungen der USA, ihr globales Engagement zurückzufahren. Ischinger bestätigt nun in seinem Interview, daß das, was Gauck einforderte, jedoch auf zahlreiche Kritik stieß, schon lange angestrebt wird. Der Auftritt des Bundespräsidenten »war«, wie er sagt, »von langer Hand geplant.«

Was mit Blick auf das Verhältnis zu Rußland von Ischingers Aussagen zu halten ist und was dabei hinsichtlich der weiteren Entwicklung zu erwarten sein könnte, deutet ein Arbeitspapier der offiziellen Bundesakademie für Sicherheitspolitik vom November 2017 an: Darin heißt es: »Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben bzw. den Eindruck aufkommen lassen, daß der derzeitige Konflikt mit Rußland von vorübergehender Dauer sei und wir in absehbarer Zeit wieder zur Normalität zurückkehren könnten. Vielmehr sollten wir uns an diesen Konfliktzustand gewöhnen.« Der Autor Marek Menkiszak, Leiter der Rußlandabteilung des Zentrums für Oststudien (OSW) in Warschau, macht hierfür ebenfalls Moskau verantwortlich und empfiehlt, die Konfrontation samt antirussischer Sanktionen und NATO-Truppen an der russischen Grenze aufrechtzuerhalten. Zwar heißt es in dem Papier, dieses gebe nur die »persönliche Meinung des Autors« wieder, aber ein offizieller Widerspruch dazu war bisher nicht zu vernehmen.

Im Gegensatz zu den Ausführungen Ischingers sieht Wimmer  [3]  den Westen seit 1990 auf dem Pfad der Lüge und des Krieges. Im Zusammenhang mit der Münchner Sicherheitskonferenz, so Wimmer, muß man folgendes sagen: Was die Grüne Woche in Berlin für die Landwirtschaft ist, ist diese Veranstaltung offensichtlich für diejenigen geschaffen, die sie als Werbeveranstaltung für Krieg, Mord, Folter und Vertreibung auf dem ganzen Globus empfinden. Man kann nur erstaunt sein, was sich die Bundesregierung diese Veranstaltung kosten läßt, um weltweit für Krieg und Vernichtung zu plädieren. Das Perverse an dieser Veranstaltung ist, daß diejenigen, über die man demnächst im Westen herzufallen versucht, auch noch eingeladen werden. Und man wird mit Interesse beobachten, ob dieses Mal der Iran eine prominente Rolle spielt.

Das ist das Gesamtspektrum dieser Konferenz, die im wahrsten Sinne des Wortes in den letzten Jahren degeneriert ist. Dazu hat Joachim Gauck, der ein deutsches robustes Auftreten in der ganzen Welt als vorrangig empfunden hat, wesentlich beigetragen. In unserer Verfassung steht, daß Deutschland einen Beitrag zum Frieden in der Welt zu leisten hat. Vor diesem Hintergrund muß auch die Erklärung von Herrn Ischinger im Zusammenhang mit Rußland gesehen werden. Es wird gelogen und verbogen, daß sich die Balken nur so biegen. Denn keiner, der die Entwicklung seit 1990 in Europa verfolgt hat, kann für das, was Herr Ischinger da geschrieben hat, Verständnis haben. Wenn man die gesamte Entwicklung seit 1990 sieht, dann ist der Westen seit der Charta von Paris auf dem Pfad der Lüge und des Krieges gewesen. Das haben wir zum ersten Mal im völkerrechtswidrigen, gegen die Charta der Vereinten Nationen und gegen das Versprechen in der Charta von Paris: Kein Krieg mehr in Europa! gerichteten Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien erlebt. Bill Clinton und Madeleine Albright haben diesen Krieg nach Europa gebracht.   

Die Russische Föderation ist 1990 in der gleichen Weise auf den Westen wie auf die NATO hereingefallen und geleimt worden, wie es vor 100 Jahren mit dem deutschen Reich und Österreich-Ungarn geschehen ist, als wir auf die 14 Punkte und die Friedensüberlegungen des amerikanischen Präsidenten Wilson hereingefallen sind. Das heißt, die Lüge wird im Westen zum Herrschaftsprinzip gemacht. Deswegen braucht man keinen in Moskau oder anderswo, um sein verhängnisvolles Tun zu legitimieren.

Bezüglich Ischingers Meinung, selbst die Flüchtlingskrise sei auf Rußland zurückzuführen, erklärt Wimmer: Mit Verlaub: Das erinnert an die Hysterie in Bezug auf Rußland, die wir seit einiger Zeit aus der USA kennen. Man muß in diesem Zusammenhang mit Entsetzen feststellen, daß die Bundesregierung – und das ist etwas anderes als derjenige, der von der Berlin in der Person von Herrn Ischinger subventioniert wird – Hunderttausende von Menschen in Deutschland als Instrument gegen die legitime Regierung in Syrien betrachtet. Die Entwicklung in Syrien hätte schon längst dazu führen müssen, mit der legitimen Regierung – und das ist die Regierung des Präsidenten al-Assad –  in Verhandlungen über die Rückführung einzutreten. Vor diesem Hintergrund ist man über das Verhalten der deutschen Politik eigentlich nur noch erstaunt und beschämt.  

In welchem Land leben wir eigentlich, wenn Herr Ischinger im Zusammenhang mit der Vergangenheit bezüglich Rußland von einem gewissen romantischen Gefühl in Deutschland schreibt? In diesen Wochen jährt sich zum 75. Mal das Ende der 6. Armee in Stalingrad. Damit ist nicht nur das Schicksal einer deutschen Armee verbunden, sondern das ist Ausdruck für ein millionenfaches Leid in der Sowjetunion und damit in weiten Gebieten der heutigen Russischen Föderation. Da muß man jedenfalls die deutsche Staatsräson anders sehen und auf diesen Nachbarn nicht dadurch zugehen, daß man an seinen Grenzen schon wieder aufrüstet und mit aggressiven Aktionen operiert. Das ist so etwas von Geschichtsverkennung, daß es nur noch schrecklich genannt werden kann.

Ischinger spricht auch von einem Slow-Motion-Prozeß, in dem die Bevölkerung langsam an den Gedanken von Auslandseinsätzen des deutschen Militärs herangeführt wurde. Ja, so Wimmer, da muß man nur an George Orwell erinnern und an 1984. Das ist die Situation in der deutschen und europäischen Medienlandschaft. Wir werden nur noch zu Kriegen im NATO-Interesse geführt. Es gibt doch keinen Diskurs mehr in der Bundesrepublik über den besseren Weg. Wenn alle Parteien im deutschen Bundestag  - bis auf die neu hinzugekommene AfD -  ein Interesse daran haben, der Regierung anzugehören, müssen sie den Kriegen zustimmen. Und das äußert sich auch im Zustand der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung in diesem Lande. Wir sind, was diese Situation anbetrifft, wirklich verkommen.    

Anmerkung politonline   
Nun ist es ausgeschlossen, daß Ischinger die zahleichen Drohungen, die die USA in den zurückliegenden Jahren an Rußland gerichtet hat, nicht bekannt sein sollten. Subsumiert wird die US-Einstellung in der Rede, die George Friedman, der Leiter des einflußreichen Think Tanks Stratfor, am 4. 2. 2015 vor dem renommierten Chicago Council on Global Affairs hielt und in der das seit langem verfolgte zentrale geopolitische Ziel der USA unverhüllt formuliert wird: »Das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts, im Ersten und im Zweiten Weltkrieg sowie im Kalten Krieg, waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland. Denn vereint sind sie die einzige Macht, die uns bedrohen kann. In unserem Hauptinteresse galt es, sicherzustellen, daß dieser Fall nicht eintritt. (…) Für die Vereinigten Staaten besteht die Hauptsorge darin, daß sich deutsches Kapital, deutsche Technologie, die russischen Rohstoff-Ressourcen und die russische Arbeitskraft zu einer einzigartigen Kombination verbinden. Dies versucht die USA seit einem Jahrhundert zu verhindern.« Wie Friedman ferner erklärt, »ist die NATO für die USA lediglich ein politisches und kein wirklich militärisches Instrument. Wenn internationale Einsätze durchgeführt werden sollen, sprechen wir uns mit unseren potentiellen Koalitionspartnern einzeln ab. Es gibt keine NATO, die eine Entscheidungsbefugnis darüber hat, Truppen nach Syrien zu entsenden. Wir verhandeln einzeln mit den Briten, den Franzosen oder den Polen.«

Hierzu Wolfgang Effenberger
»
Seit 1871 ist einer Elite der angelsächsischen Länder jedes Mittel recht, um eine starke Mittelmacht in Europa zu verhindern: Wirtschafts- und Handelskriege, Intrigen und gezielte  Destabilisierungsmaßnahmen. Und schon 1919 gab es die Idee, einen Gürtel von Pufferstaaten zwischen Deutschland und Rußland zu schaffen; den Begriff Cordon Sanitaire hatte der damalige französische Außenminister S. Pichon aus der Seuchenthematik in die politische Diskussion eingeführt. Bald erstreckte sich tatsächlich von Finnland über die baltischen Staaten und Polen bis Rumänien ein Staatengürtel, der die Sowjetunion vom übrigen Europa trennen sollte, angeblich zum Schutz vor der bolschewistischen Weltrevolution. Um heute den Alptraum einer deutsch-russischen Kombination zu verhindern, will die USA auf diese Idee zurückgreifen: Einen Gürtel aus antirussischen Staaten aufbauen, um Deutschland und Rußland von einander abzuschneiden bzw. zu schwächen.«  [4]  Im übrigen hat der erste NATO-Generalsekretär, Lord Hastings Lionel Ismay, den Zweck der NATO ganz einfach definiert: »To keep us in, the Russians out and Germany down«

Die Beziehung der BRD zu Rußland 
Was diese angeht, so hatte der damalige Aussenminister Guido Westerwelle auf der
Sicherheitskonferenz 2010 folgendes erklärt: Die Bundesregierung bestehe auf Sonderbeziehungen zu Rußland, die Deutschland eine Möglichkeit zu Positionsgewinnen gegenüber der USA verschaffen sollen; sie favorisiere aus diesem Grund ein neues Bündnissystem, das neben Washington auch Moskau einschließt. Neben dem Aufbau einer EU-Armee hielte Berlin, wie Westerwelle bekräftigte, auch eine strategische Partnerschaft mit Rußland für unverzichtbar. »Wir wollen diese Partnerschaft, und wir wollen sie dort, wo uns gemeinsame Interessen verbinden, auch weiter ausbauen.« Dies beinhalte nicht zuletzt eine »substantielle Diskussion« von Vorschlägen des russischen Präsidenten Medwedjew, einen neuen »Sicherheitsvertrag« abzuschließen, der neben der USA und den NATO-Staaten auch Rußland einbeziehen soll. Eine Diskussion über dieses Vorhaben auf der Konferenz hatte Washington jedoch vor Beginn der Veranstaltung kategorisch zurückgewiesen.  [5]  Hierzu behauptet Friedman, der die Idee einer EU-Armee für ein Phantasiegebilde hält: »Es sind nicht nur die USA, die eine Allianz zwischen Deutschland und Rußland verhindern wollen. Es gibt kein einziges Land in Europa, das eine derartige Allianz befürworten würde. Polen und Frankreich sind beispielsweise vehemente Gegner einer derartigen Allianz. Eine Allianz zwischen Deutschland und Rußland würde in Europa zu Angst und Schrecken führen.«  [6]

Interessant ist in diesem Zusammenhang die von Ischinger Ende Januar 2015 ausgesprochene Einstellung, die mit seiner jetzigen Behauptung, daß Berlin wie der Westen insgesamt ein besseres Verhältnis zu Moskau will, nicht wirklich etwas gemein hat: »Zwar müsse der Westen gegenüber Rußland auch in Zukunft eine Position der Stärke demonstrieren; da es aber gegenwärtig offenbar nicht gelinge, Moskau mit einer Politik reiner Konfrontation niederzuringen, müsse man eine neue Phase der Einbindung Rußlands einleiten. Dazu böten sich Gespräche über eine Kooperation zwischen der EU und der auf russische Initiative hin neu gegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion an. Eine solche Kooperation sollte, wie Experten urteilen, den Kampf »zwischen Rußland und dem Westen vom militärischen Feld zurück auf das ökonomische« bringen.  [7]  Allerdings ließ er unerwähnt, daß es kaum anzunehmen ist, daß Putin mit der EU ohne Stilllegen der Sanktionen verhandeln wird.   

Bundeskanzlerin Merkel ihrerseits rechnete im Februar 2015 mit einem Sieg des Westens im Machtkampf gegen Moskau. Wie sie auf der 51. Konferenz in München erklärte, sei der Konflikt aktuell militärisch »nicht zu gewinnen«. Daher müsse man sich »etwas anderes ausdenken«. Die Kanzlerin verglich den Machtkampf mit den Auseinandersetzungen im Kalten Krieg und bekräftigte: »Ich bin zu hundert Prozent überzeugt, daß wir mit unseren Prinzipien siegen werden; Deutschland übernimmt dabei eine militärische Führungsrolle.« In diesen Worten ist allerdings kein Hauch des von Ischinger vorgebrachten »emotionalen Elements, das mit der Vergangenheit zu tun hat«, zu verspüren.

Gleicht die von Ischinger und von Merkel beschriebene Strategie gegen Rußland im wesentlichen derjenigen aus der Zeit der Systemkonfrontation, schreibt hierzu German Foreign Policy, so besteht ein entscheidender Unterschied zwischen der heutigen und der damaligen Zeit darin, daß die westlichen Streitkräfte nicht mehr auf die frühere Grenze zwischen BRD und DDR zurückgeworfen sind. In den baltischen Staaten operieren sie bereits regulär auf dem Territorium der früheren Sowjetunion. In der Ukraine und in Georgien verfügen sie auf ehemals sowjetischem Hoheitsgebiet über verbündete Staaten und führen dort Kriegsübungen durch. Im ostukrainischen Bürgerkrieg kämpfen Neonazi-Bataillone an der Seite des Westens gegen Rußland. Für Moskau handelt es sich militärisch gesehen um Kämpfe an seiner letzten Verteidigungslinie, die es um jeden Preis sichern muß, will es seine staatliche Souveränität nicht vollends preisgeben. Die Provokationen des Westens an dieser Linie sind ein Spiel nicht mit dem Feuer, sondern mit einem großen Krieg.  [8] 

In der Folge sah Ischinger im November 2016 in der künftigen Präsidentschaft Donald Trumps eine Chance für Europa. Unter der Politik von Barack Obama seien die Beziehungen zu Rußland in den vergangenen Jahren schlechter geworden. Deshalb werte er die Ankündigung Trumps, das Gespräch mit Rußland zu suchen, als positive Nachricht für Europa. Die Bedingung sei jedoch, daß Trump sich zunächst zu den Verpflichtungen gegenüber der NATO bekenne.  [9]  Ischinger übersieht hier, daß die EU, gleich welcher Präsident der USA vorsteht, unter den gegebenen Umständen für Washington immer eine US-Kolonie bleiben wird, was den EU-Staaten den Status von Vasallen verleiht; denn die gegen Rußland gerichteten Sanktionen dienen ausschließlich US-Interessen.  [10]  Die EU-Verträge in der zeitlichen Raffung ergeben die Auflassung fast aller Souveränitätsrechte zugunsten eines supranationalen Pseudostaates unter Oberhoheit der USA. Die mehrfachen zwischenstaatlichen Verträge zwischen der EU und der USA sowie zwischen den Euro-Ländern und den EU-Mitgliedsländern haben ein unsichtbares Netzwerk der totalen Abhängigkeit Europas von Brüssel, der EZB und der USA geschaffen, auch wenn es so aussieht, als ob jeder Staat seine Souveränitätsrechte bei allen Konferenzen noch vordringlich einbringen könnte; mitnichten.  [11]

Ein Jahr nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil publizierte Thomas Mann 1953 einen Aufruf an die Europäer. Im Exil hatte er die Neigung der US-Administration erkannt, »Europa als ökonomische Kolonie, militärische Basis, als Glacis im zukünftigen Atom-Kreuzzug gegen Rußland zu behandeln, als ein zwar antiquarisch interessantes und bereisenswertes Stück Erde, um dessen vollständigen Ruin man sich aber den Teufel scheren wird, wenn es den Kampf um die Weltherrschaft gilt.«  [12]  

Im September 2016 hatte Ischinger Putin vorgeworfen, die letzten Monate der amerikanischen Regierung unter Präsident Obama dazu nutzen zu wollen, mit der Abrißbirne gegen die Pax Americana vorzugehen. »Er möchte eine andere Weltordnung errichten und setzt darauf, daß er 2017 einen strategischen Deal auf Augenhöhe mit dem nächsten amerikanischen Präsidenten machen kann.«  [13]  Was Ischinger wohl unter dieser Pax Americanaverstehen mag; wir erleben diese heute doch mehrheitlich nur in Form von Kriegen und Eingriffen in fremde Staaten.  

Im Januar 2017 beliebte Ischinger dann zu einer von Rußland und der USA vorzunehmenden Abrüstung sowie zu einer verstärkten Militarisierung der EU aufzurufen.  [14]  Letzteres nicht zum ersten Mal. Wie sich eine Abrüstung mit einer gleichzeitig geforderten Militarisierung vereinbart, das bleibt Ischingers Geheimnis. Ischingers vor der Sicherheitskonferenz 2017 abgegebene Stellungnahme legte u.a. folgendes dar: Nach dem Machtwechsel in Washington »taugen« die Vereinigten Staaten »nicht mehr als das politisch-moralische Führungssymbol des Westens«; es sei deshalb nun »Europas Aufgabe, diesen Verlust zu ersetzen. Bei hinlänglicher Geschlossenheit, die beispielsweise Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik erforderlich mache, könnten wir Europäer eine politisch-militärische Macht sein, die tatsächlich Eindruck machen würde.« »Wir brauchen ein Ende der Kleinstaaterei, und zwar nicht in 20 Jahren, sondern jetzt«, wozu ein Übergang zu außenpolitischen Mehrheitsentscheidungen unumgänglich sei. Zur Absicherung solle man trotzdem für extreme Fälle eine Opt-out-Möglichkeit schaffen: »Solche Regelungen sind möglich. Verbunden mit außenpolitischer Entscheidungskraft wären wir Europäer dann eine politisch-militärische Macht, die tatsächlich Eindruck machen würde.«  [15]

Vor dieser Konferenz hatte Trump in seiner Pressekonferenz am 16. 2. 17 deutlich gemacht  - dies im Gegensatz zu den üblichen US-Statements, die Angriffe auf Rußland enthalten -  daß er weiter für eine diplomatische Annäherung an Rußland arbeiten werde, trotz aller Hysterie der etablierten Medien und von Teilen der US-Dienste, denen es gelang, Trumps Nationalen Sicherheitsberater, General Michael Flynn, zum Rücktritt zu zwingen. Trump verurteilte bei der Gelegenheit auch scharf die Medien, die alles täten, um die von ihm angestrebte Normalisierung und Zusammenarbeit mit dem russischen Präsidenten Putin zu sabotieren. Um die Gefahr eines Atomkrieges zu reduzieren, sei es unerläßlich, mit den Russen zu reden und Bereiche gemeinsamer Interessen für eine Kooperation zu finden.  [16]

Was das Thema Flüchtlingskrise angeht, für die Ischinger Rußland mitverantwortlich sieht, so hatte er anläßlich der Konferenz 2016 eine Kehrtwende von Europa gefordert und zu entschlossenen Schritten zur Beendigung des syrischen Bürgerkriegs aufgerufen. Hier irrt er gewaltig. Es dreht sich mitnichten um einen Bürgerkrieg, sondern ausschließlich um einen von der USA lange im voraus konzipierten Krieg, den diese mit ihren europäischen Verbündeten unter Aufbau sämtlicher Dschihad-Gruppierungen gegen al-Assad eingeleitet und geführt hat.  [17]  Insofern ist auch seine Behauptung, daß die Flüchtlingskrise letztlich eine Folge der seit 2014 erfolgten russischen Intervention in der Ukraine und in Syrien sei, geradezu absurd, denn der Aufstand in der Ukraine war erneut ausschließlich ein Werk der USA und der EU, der, wie anzunehmen ist, sonst nie stattgefunden hätte, und dessen direkte Folge, die Abtrennung der Krim, sich vermutlich nie ereignet hätte. Und ganz sicherlich kann Herr Ischinger den Russen nur dankbar dafür sein, daß sie in den furchtbaren Syrienkrieg eingegriffen haben, sonst wäre der US-Plan, das Land in vier Regionen aufzuteilen, womöglich schon umgesetzt worden. Noch im September 2013 hatte Ischinger darauf gedrungen, im Syrienkrieg für den Westen keine Option »von vornherein auszuschließen« - auch nicht eine Kriegsbeteiligung. Er verlangte, der Westen müsse sich auch in Syrien auf das Prinzip der Responsibility to Protect, der sogenannten Schutzverantwortung beziehen und, sofern machbar, bewaffnet intervenieren; verzichte man prinzipiell auf kriegerische Maßnahmen, komme dies »moralisch wie politisch einer Bankrotterklärung« gleich.  [18]  Letzterer Forderung ist die EU mit für alle sichtbaren Folgen nachgekommen; von einer Schutzverantwortung bei diesem US-inszenierten Krieg kann mitnichten die Rede sein, geschweige denn von einer Moral bei diesem erneuten Wahnwitz von Destruktion.    

Während die von der USA und der EU gegen Rußland verhängten Sanktionen den Europäern einen wirtschaftlichen Schaden in Milliardenhöhe bescheren, importiert die USA jetzt infolge der Polarkälte Flüssiggas aus Rußland.  [19]  Man muß noch einmal bedenken, was Prof. Dr. Hamer zu den Sanktionen schreibt, um zu erkennen, in welchem Ausmaß die EU hierdurch geschädigt wird: »Der amerikanische ›CAATS‹-Akt sieht vor, daß alle Sanktionen mit den US-Partnern abgestimmt werden müssen. Offener kann man gar nicht zum Ausdruck bringen, daß diese Sanktionen nur dann und in dem Maße verfolgt werden sollen, wie sie amerikanischen Partnern im Wettbewerb schaden, und daß amerikanische Firmen letztlich Betreiber dieser Sanktionen sein sollen und dürfen. Die USA will so Rußland nicht nur systematisch von Europa isolieren, die russischen Firmen von allen Geschäften mit Europa und der Welt abschneiden, sondern auch die übrige Welt, vor allem Europa, mit Strafe bedrohen - und vollziehen -  wenn sie mit russischen Firmen Geschäfte machen. Dies hat erhebliche Auswirkungen in Europa, wo sich der Handel mit dem hoffnungsvollsten Zukunftsmarkt, Rußland, allein in den letzten zwei Jahren um 30 % reduziert hat. In gleichem Maße wie sich der europäische Handel mit Rußland reduzierte, hat sich der amerikanische Handel mit Rußland vermehrt. Es geht also nicht nur um die Schädigung Rußlands, sondern auch um America first, das heißt den Ausschluß Europas von Geschäften mit Rußland, welche amerikanische Firmen selbst machen wollen und können. Brutaler kann man den Wirtschaftsimperialismus Amerikas zu Lasten Europas gar nicht durchführen.«  [20]

Es ist unvorstellbar, daß weder in Brüssel, noch im Europäischen Parlament, noch in den EU-Regierungen eine erforderliche Reaktion erfolgt.  

Doris Auerbach  
d.auerbach@gmx.ch


[1]  https://de.sputniknews.com/politik/20180110319007437-ischinger-ost-west-konflikt-kritik-verhaeltnisse/  10. 1. 18  Tilo Gräser - Ischinger macht Russland für neuen Ost-West-Konflikt verantwortlich 
[2]  https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/ip-die-zeitschrift/archiv/januar-februar-2018/sie-sehen-nur-die-spitze-des-eisbergs  5. 1. 2018  

»Sie sehen nur die Spitze des Eisbergs«
[3]  https://de.sputniknews.com/politik/20180111319022769-ischinger-westen-verhaeltnisse-krieg-luege/   11. 1. 18 
Willy Wimmer: Man muss sich an den Kopf fassen, was Herr Ischinger da von sich gibt  -  Armin Siebert 
[4] 
http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=2675
6. 7. 17  Ein neues
»Wunder an der Weichsel«?  -  Von Wolfgang Effenberger
[5]  http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57732   8. 2. 2010
Europas Motor 

[6]  http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2016/01/31/us-geopolitiker-friedman-deutschland-ist-sehr-verwundbar-geworden/    31. 1. 16  £ 
[7]  http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59042   28. 1. 15  
Krieg mit anderen Mitteln  (I) 
[8]  http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59050  9. 2. 15 
Krieg mit anderen Mitteln (II)  
[9]  http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-11/wolfgang-ischinger-muenchner-sicherheitskonferenz-donald-trump-chance   18. 11. 16 
[10]  http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2014/09/14/die-sanktionen-gegen-russland-dienen-ausschliesslich-den-us-interessen/   14.
9. 14 
[11]  http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=2456 
11. 10. 15  Europa steht vor dem Ausbruch einer gewaltigen Feuersbrunst 
[12]  http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=2667  
17. 6. 17   Mutti wird es schon richten!  -  Von Wolfgang Effenberger
Thomas Mann: Deutsche Hörer! Europäische Hörer Darmstadt 1986
[13]  http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/ischinger-entwicklung-in-syrien-ist-eine-schande-fuer-europa-14454864.html   27. 9. 16  [14]  http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59520   18. 1. 17
Die Stunde der Europäer    
[15] 
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59539   14. 2. 17  Fackelträger des Westens 
[16]  Strategic Alert Jahrgang 30, Nr. 8 vom 22. Februar 2017   
[17] 
http://www.faz.net/aktuell/politik/sicherheitskonferenz/muenchner-sicherheitskonferenz-chef-ischinger-im-interview-14058796.html
11. 2. 16
[18] 
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58677  2. 9. 13  
Die Allianzen der Rivalen  

[19]  https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2018/01/11/wegen-polarkaelte-usa-importieren-fluessiggas-aus-russland/?ls=fp    11. 1. 18
Wegen Polarkälte: USA importieren Flüssiggas aus Russland 

[20]  http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=2726
3. 12. 17  Die USA treiben weitere Keile zwischen Rußland und Europa - Von Prof. Eberhard Hamer