Im Griff des Internationalen Währungsfonds - Von Hannes Hofbauer

Die politische Elite der Ukraine läßt sich mit Krediten des IWF aushalten, deren Rückzahlung durch eine enorme Verteuerung des öffentlichen Lebens bewältigt wird.

Im ukrainischen Kohlenpott, im Zentrum der Gebietshauptstadt Donezk, empfängt uns der Ökonom an der dortigen Technischen Universität und Mitglied der soeben gegründeten Ukrainischen Union der Wirtschaftswissenschaftler, Oleksandr Kendjuchow. Von ihm möchten wir Auskunft über die aktuelle ökonomische Lage im Land und insbesondere über die Auswirkungen der Krise auf das Donezker Industriegebiet, den Donbass, erhalten. Erstaunt erfahren wir, daß die jungen Wirtschaftswissenschaftler im Land gerade dabei sind, ein Programm für einen ökonomischen Aufholprozeß zu verabschieden. »Zwischen 2015 und 2030 muß es uns gelingen«, meint Kendjuchow ohne jede Andeutung von Ironie, »zu den top ten der Weltökonomien aufzusteigen«.
 
Ungläubiges Nachfragen löst nur einen weiteren Redeschwall aus, in dem zwar zugegeben wird, daß es sich dabei um eine schwere Aufgabe handeln würde, daß es aber Deutschland und Japan auch geschafft hätten. Gelingen soll der Plan, für dessen endgültige Verabschiedung im April 2010 sogar der Termin bereits feststeht, »in erster Linie mit ausländischem, westeuropäischem Kapital«. Russischen Investoren steht Kendjuchow skeptisch bis ablehnend gegenüber, woraus der Professor keinen Hehl macht. Man wähnt sich nach solch einer Lehrstunde in längst vergangen geglaubten Tagen, als um die Wendezeit Ende der 80er Jahre vom Aufbau einer blühenden »sozialistischen Marktwirtschaft« die Rede war. Damals wurde eine Jugoslawisierung (wie vor dem Zerfall des Vielvölkerstaates) bzw. eine Österreichisierung angestrebt, so ganz nach altbekanntem planwirtschaftlichen Motto, wonach eine gute, womöglich wissenschaftlich fundierte Idee genügen würde, um Planzahlen zu verbessern und nach dem Ende des Kommunismus eben den kapitalistischen Aufschwung zu betreiben. Das die Wende bestimmende Ende des politischen Primats über ökonomische Prozesse wurde dabei übersehen. An der Technischen Universität Donezk jedenfalls plant der Ökonomieprofessor unbeeindruckt von der Wirklichkeit die bessere Zukunft seines Landes.
 
Die Gegenwart könnte indes schlimmer kaum sein. So sank die Industrieproduktion im ersten Halbjahr 2009, verglichen mit dem ersten Halbjahr 2008, um 30 %. Der Außenhandel ging im Vorjahreszeitraum um die Hälfte zurück, wobei die Importe wegen des Währungsverfalls noch höhere Ausfälle zu verzeichnen hatten als die Exporte. Für das Bruttoinlandsprodukt 2009 prognostiziert der für die Ukraine zuständige Ökonom des renommierten »Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche« (WIIW), Valeri Astrow, ein Minus zwischen 11 - »eher optimistisch« - und 14 % als pessimistische Variante. Ein Ende der Krise ist nicht abzusehen, zumal die Budgeteinnahmen im ersten Halbjahr 2009 (wiederum in Relation zum Vergleichszeitraum 2008) um ein Fünftel zurückgegangen sind, wie den Zahlen des WIIW zu entnehmen ist. Die politische Klasse des knapp 50 Millionen Einwohner zählenden Landes lebt zur Zeit von den in Tranchen eintrudelnden Teilen eines IWF-Kredits, der 2008 mit 16,5 Milliarden US-$ bewilligt worden ist. Die dafür von Washington eingeforderten Bedingungen bestimmen nicht nur das Überleben von Regierung und Präsident, sondern auch das der einfachen Menschen.
 
Löhne sinken, Währung verfällt
»Vor einem Jahr habe ich monatlich 3500 Hrywna verdient, heute sind es 2000«, bringt ein Arbeiter aus dem Metallurgiekombinat Dsershinsk die ganze soziale Misere des Landes auf den Punkt. WIIW-Ökonom Astrow weiß von einem durchschnittlichen Lohnrückgang um 10 % im vergangenen Halbjahr, der für das relativ moderate Ansteigen der Arbeitslosigkeit, die Mitte 2009 bei 8,5 % lag, mitverantwortlich zeichnet. Gespräche mit Menschen im Osten des Landes legen wie bei jenem Dsershinsk-Arbeiter einen weit höheren Lohnverlust nahe. Manche müssen auf die Hälfte ihres Lohnes verzichten, um weiter beschäftigt bleiben zu können«, erzählt Olga K., die als Übersetzerin in der Industrie arbeitet und die Auswirkungen der sozialen Einschnitte aus ihrem eigenen Überlebenskampf kennt. Ende September 2009 erhielt ein Donezker Stahlarbeiter umgerechnet 200 € pro Monat, was in lokaler Währung zum Stichtag 2400 Hrywna ausmacht. Der Pensionist, mit dem wir am Zentralmarkt über sein hübsches Balalaikaspiel ins Gespräch kommen, gibt an, von staatlicher Seite mit 700 Hrywna (weniger als 60 €) monatlich auskommen zu müssen, weshalb er sich entschlossen hat, sein Saiteninstrument zu schultern, in die für Rentner kostenlose Tramway zu steigen und hier, an einem der belebtesten Orte der Ostukraine, seine Mütze aufzuhalten. Die eine oder andere Hrywna, manches Mal auch nur ein paar Kopeken, wandern so in sein Budget. In Belarus geboren, hat der alte Mann sein Arbeitsleben lang in einer Kolchose im Donbass verbracht, was ihm sein Überleben als Rentner indes heute nicht ausreichend sichern kann.
 
Der Verfall der Hrywna-Währung im vergangenen Jahr hat die soziale Lage zusätzlich dramatisch verschärft. Zwischen September 2008 und September 2009 hat die ukrainische Währung gegenüber dem US-$ 80 % ihres Wertes verloren. Reichten vor einem Jahr noch 5 Hrywna, um 1US-$ kaufen zu können, mußte man Ende September 2009 dafür fast 9 Hrywna hinlegen. Weil in der Ukraine seit Jahren Bankkredite auch für den kleinen Mann in US-$ vergeben werden, hat die Hrywna-Abwertung Hunderttausende in den finanziellen Ruin getrieben. Dollarzinsen können einfach nicht mehr bezahlt werden. Dies ist im ukrainischen Immobiliensektor weitaus dramatischer als in allen anderen europäischen Ländern. Durch Dollar finanzierte Hausbaukredite bleiben massenhaft ungetilgt. Das ist mit der entscheidende Grund, warum die stärkste ausländische Bank, die österreichische Raiffeisen International, nach der Übernahme der Aval-Bank hohe Kreditausfälle zu beklagen hat. Wieviel die österreichischen Banker von den 1,2 Milliarden Euro wiedersehen werden, die an ukrainische Hausbauer in US-Dollar kreditiert worden sind, ist ungewiß. An der Wiener Börse jedenfalls sank vor Jahresende der Aktienkurs der Raiffeisenbank nach Bekanntwerden dieses Desasters um sagenhafte 90 %.
 
Im Fall dieser speziell tiefgreifenden ukrainischen Variante der Subprime-Krise hat die Regierung versucht zu reagieren, scheitert aber mittelfristig am Präsidenten Wiktor Juschtschenko. Regierungschefin Julia Timoschenko hat in der Werchowna Rada, dem Parlament, ein Veräußerungsverbot für Immobilienpfandrechte beschließen lassen, das es den Banken untersagt, säumigen Kreditzahlern ihre Häuser einfach wegzunehmen. Juschtschenko versucht, dieses Gesetz per Dekret zu verhindern. Zur Zeit läuft in Absprache mit den großen Banken eine Art Moratorium. Pfandrechte sind, zeitlich befristet, nicht übertragbar. Die Banken konnten deshalb mit in dieses zugegeben schwankende Boot geholt werden, weil auch sie kein Interesse an einem Immobilienmarkt haben, auf dem Hunderttausende Häuser insolventer Eigentümer die Preise drücken. Die Menschen dürfen in ihren Häusern bleiben, vorläufig.
 
Land der Stahlbarone
Der Osten des Landes lebt von Kohle und Stahl. Seit der walisische Unternehmer John Hughes 1869 mit seiner New Russia Coal, Iron and Railmaking Company für den Zaren eine Industrie aus dem Boden stampfen ließ, gehört der Osten der Ukraine zu den größten Industriegebieten der Welt. Mit dem Eisenerz aus Kriwoj Rog, das mit einer eigens dafür gebauten Bahn über den Dnjepr in die Kohlengebiete transportiert wurde und wird, war die Region Donbass geboren, wie der Rußlandspezialist und Historiker Hans-Heinrich Nolte in einem Beitrag in der Fachzeitschrift Technikgeschichte (Bd. 51, 1984) schreibt. »Hughes-Stadt« bzw. auf russisch »Jusovka« hieß der später in Donezk umbenannte Ort. Der im Herbst 2008 auf dem Weltmarkt rasant sinkende Preis für Stahl war die Initialzündung für die wirtschaftliche Talfahrt der Ukraine. Die Stahlbarone sind ihrer Macht dennoch nicht verlustig gegangen. Nach der »orangen Revolution« war es die »Gasprinzessin« und spätere Ministerpräsidentin Timoschenko persönlich, die sich für eine Neuordnung der Eigentumsverhältnisse in der ukrainischen Leitindustrie eingesetzt hatte. Per Gesetz wurde die zuvor durchgeführte Privatisierung des größten Stahlwerks Kriworoschstal in Kriwoj Rog annulliert, die Hochöfen erneut in Staatshand gelegt, um sie dem Einflußbereich des politischen Gegners zu entziehen. So konnte das Unternehmen dem indisch-US-amerikanischen Stahlriesen »Mittal« verkauft werden. Erst damit war westlichem Auslandskapital in größerem Umfang das Tor geöffnet worden.
 
Im Osten des Landes konnte sich hingegen der Oligarch tatarischer Abstammung. Rinat Achmetow, behaupten. Seine Familie hatte bereits zu Sowjetzeiten mit Glücksspiel Kapital angehäuft und war nach der politischen Wende in der Lage, dieses auch zu investieren. Heute gilt Achmetow als »Vater von Donezk«, wobei er sich der Liebe seiner Landsleute nicht sicher sein kann. Da helfen auch der pompöse Bau einer neuen Donbass-Arena und die Investitionen in den Fußballklub Schachtjor Donezk nicht. Allzu protzig zeigen er und seine Entourage die Fratze des Neureichen, für den die Gesetze des Staates nur dann Gültigkeit haben, wenn sie im eigenen Interesse sind. Wir reiben uns die Augen: Vereinzelt brausen schnelle Sportwagen oder abgedunkelte Luxuslimousinen mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit über den Artjom-Boulevard, die Hauptverkehrsachse der Stadt - nicht so sehr, weil die Fahrer sich an keine Verkehrsregeln halten, sondern weil sie ihre Autos ohne Nummernschild fahren. »An einem Auto ohne Nummernschild erkennt man die wirklich wichtigen Leute in der Stadt«, meint dazu unsere Begleiterin, für die das Spektakel selbstverständlich ist.
 
Kohlengruben bleiben staatlich
Keine 3 km vom Donezker Stadtzentrum entfernt fahren die Kumpel in die Kohlengrube. Der Marschrutka-Bus Nr. 10 führt uns direkt zum Revier. »Sasjatko« heißt die Mine, aus der seit Jahrzehnten das schwarze Gold geholt wird. Im Jahr 2007 hat dieser Schacht traurige Berühmtheit erlangt, als während eines Grubenunglücks 105 Kumpel bei einer Explosion den Tod fanden. Wie sehr Donezk auf einem Minenfeld steht, wird einem bei der Fahrt zum Bergwerkskomplex bewußt. Vor dem Werkstor treffen wir einen Ingenieur. Er hat 35 Jahre hier auf Sasjatko gearbeitet, als Grubenmann begonnen, bis er sich mit staatlicher Hilfe weitergebildet und zuletzt Planungsarbeiten durchgeführt hat, bevor er Anfang dieses Jahres in Rente gegangen ist. »Früher haben hier 6000 Leute gearbeitet, heute sind es noch etwa 3000«, klagt er über den zunehmenden Mangel an Arbeitsplätzen. Mehr als 3000 Hrywna sind es nicht, die ein Kumpel im Monat verdient, wenn er in die bis zu 500 Meter tiefen Schächte einfährt, um die Kohlenflöze abzubauen. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle ukrainischen Kohlengruben in Staatsbesitz. Von den 100 noch in Betrieb befindlichen Bergwerken gehören lediglich zwei privaten Eignern. Der Staat kann damit in dieser nicht unwichtigen Branche Preispolitik machen, indem er die Kohle billig hält und damit günstige Vorleistungen für die privatisierte Stahlproduktion garantiert.
 
Daß auf ganz anderer Ebene Kohle privat abgebaut wird, erfahren wir von einer Begleiterin, die sich allerdings hütet, ihren Namen zu nennen. Mehrmals schon war sie mit ausländischer Kundschaft unterwegs, um billige und qualitativ beste Kohle einzukaufen. »Überall im Revier«, meint sie, »wird danach gegraben«. Es sind illegale Trupps, meist aus zwölf bis 15 Mann bestehend, die sich stillgelegte Flöze aussuchen, um mit primitiven pneumatischen Hämmern ohne jede bergmännische oder gesundheitliche Vorsorge unter die Erde zu gehen. Die von Hand gebrochene Kohle ist qualitativ gut und zur Zeit für etwa 55 US-$ je Tonne zu haben. Die Arbeitsbedingungen sind indes unvorstellbar. Denn die Mannschaften werken ohne jeden Schutz; es gibt keine Be- und Entlüftungen, kein Ventilationssystem. Über Unfälle wird in der Regel nichts bekannt, sind doch die Diebe nicht daran interessiert, Ärger zu bekommen. Hunderte solcher Löcher soll es allein in der Umgebung von Donezk geben: Privatisierung auf archaische Art.
 
Auf höherer Ebene kriminell geht es bei der wichtigsten energetischen Einrichtung des Landes zu, der Gasversorgung. Jedes noch so kleine Dorf im Osten der Ukraine wird mit russischem Gas beliefert. Überall im Lande laufen dünne gelbe oder blaue Leitungen, meist oberirdisch geführt, zu kleinen Verteilerstellen, die dann jedes Haus versorgen. Ohne sibirisches Erdgas würde nicht nur die Industrie stillstehen, auch die Menschen in den Städten und Dörfern könnten nicht kochen und würden im Winter frieren. Seit Januar 2009 gilt ein neuer Liefervertrag mit Rußland, der den Gaspreis an den Ölpreis auf den Weltmärkten koppelt. Zahlen kann Kiew die Lieferungen indes auch seither nicht, weshalb die EU spezielle Hilfskredite an das Land vergibt, um offene Rechnungen begleichen zu können. Ob dieser Vertrag den kommenden Winter überlebt, ist fraglich, zumal sich die innenpolitische Lage in der Ukraine wegen der für Januar 2010 angesetzten Präsidentenwahlen noch zuspitzen dürfte.
 
Wie rauh das innenpolitische Klima schon jetzt ist, zeigt eine Episode um den staatlichen Gaskonzern Naftogas. Am 3. März 2009 stürmte eine Sondereinheit des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU die Büroräume der Naftogas-Zentrale, beschlagnahmte so viel Material, wie sie zusammenpacken konnte, und nahm den für Verzollungen zuständigen Chefbeamten Taras Schepitko mit. Dieser hatte auf Anordnung der Ministerpräsidentin Brennstoffverzollungen durchgeführt und die dafür üblichen Überweisungsvorbereitungen getätigt. Gleichzeitig drohte Moskau wieder einmal wegen säumigen Zahlens mit Lieferstopp. Die Sondergruppe des Geheimdienstes SBU, die direkt Präsident Juschtschenko unterstellt ist, hatte es mutmaßlich auf den Originalliefervertrag zwischen Rußland und der Ukraine abgesehen, ohne den die Überweisung nicht erfolgen können hätte. Ein möglicher weiterer Lieferstopp Anfang März - im Januar 2009 war der Gasstreit soweit eskaliert, daß auch die Transitleitungen in Richtung Westeuropa erstmals seit über 40 Jahren leer blieben - hätte der Regierung Timoschenko schwer geschadet, was ihrem Erzfeind Juschtschenko nur recht sein konnte. Vor dem Hintergrund dieser politischen Blockaden und gegenseitiger auch physischer Angriffe spielt sich Politik in der heutigen Ukraine ab. Naftogas-Mann Schepitko war nur ein kleines Bauernopfer im Spiel der Könige.
 
Autoritäre Lösung?
Absolute Zahlungsunfähigkeit; Staatsbankrott. So standen die Zeichen an der Wand, als sich im Herbst 2008 herausgestellt hatte, daß der ukrainische Wirtschaftsboom des ersten Jahrfünfts des 21.Jahrhunderts auf Sand gebaut war. Bereits seit der »orangenen Revolution« vom Dezember 2004 zeigen die makroökonomischen Daten nach unten. Damals durften sich neben der alten Politgarde nun auch die sogenannten Reformer an den besten Stücken der Volkswirtschaft bedienen. Die Folge: Die Privatisierung: oder, weniger lateinisch: der Raub von öffentlichen Gütern nahm kein Ende. Die westliche Immobilien- und Finanzkrise, die im Kern Ausdruck einer Krise der materiellen Produktion unter kapitalistischen Verwertungsbedingungen ist, schlug 2008 auch auf die Ukraine voll durch. Der sinkende Stahlpreis minimierte die wichtigsten Exporteinnahmen beträchtlich.
 
Um die neue politische Klasse zu retten, die aus der »orangenen Revolution« hervorgegangen war, zimmerte der Internationale Währungsfonds aus Washington - wie üblich mit Unterstützung der USA - ein sogenanntes Hilfspaket für die Ukraine. 16,5 Milliarden US-$  wurden versprochen, die in 5 Tranchen kreditiert werden sollten. Bis September 2009 waren davon 10 Milliarden US-$ ausbezahlt. Als Bedingung dafür nennt der IWF nicht weniger als das vollständige Umkrempeln der ukrainischen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Da diese im Angesicht der Pleite ohnedies machtlos, sprich: geldlos, ist, könnte das Unterfangen gelingen.
 
Im Visier des IWF befinden sich die Reste der früheren Sozialpolitik. Nach der längst erfolgten Privatisierung von Wohnraum, fordert Washington nun die Erhöhung von Massensteuern sowie die Streichung sämtlicher Subventionen im Sozialbereich. Tabak- und Alkoholsteuer wurden von der Regierung bereits in vorauseilendem Gehorsam angehoben. Jetzt geht es darum, den billigen, staatlich unterstützten öffentlichen Transport zu verteuern und, vor allem, um die Anhebung des Erdgaspreises für die Haushalte. Nicht weniger als die Verdreifachung des Gaspreises fordern die Ökonomen des Weltwährungsfonds. Sie haben in Präsident Juschtschenko einen willigen Mitstreiter. Im Interview mit der österreichischen Tageszeitung Die Presse vom 5. Juli 2009 erklärt der ehemalige Nationalbankchef und bekennende Neoliberale: »Ja, wir müssen unsere Gasbinnenpreise reformieren, modernisieren und die Preise liberalisieren.« Und weiter, sich direkt als IWF-Mann outend: »Ich rate, bei der Debatte über IWF-Kredite von einem Kriterium auszugehen: einer tiefgehenden Reform des Gasbinnenpreises.« Die innenpolitischen Differenzen in Sachen Wirtschafts- und Sozialpolitik bringt er im selben Interview folgendermaßen auf den Punkt: »Zwei Konzeptionen kollidieren: einerseits die Marktwirtschaft, andererseits Timoschenkos Politik des Populismus, der ausbleibenden Reformen und der administrativen Steuerung.« Juschtschenko steht selbstredend auf der Seite der Marktwirtschaft »ohne Attribute«, wie es einst der tschechische Ökonom und spätere Präsident Václav Klaus ausgedrückt hatte.
 
Ab September 2009 sollen die Gaspreise für die ukrainischen Haushalte jedes Quartal um 20 % angehoben werden, ansonsten stoppt der IWF die weitere Auszahlung des Kredits. Der sich gleichzeitig fortsetzende Währungsverfall, Exporteinbrüche und Importstopps im Gefolge steigender Arbeitslosigkeit bieten einen idealen Nährboden für eine autoritäre Lösung, um der gesellschaftlichen Unruhe Herr werden zu können. Juschtschenko eignet sich für einen solchen Gewaltakt indes nicht mehr, zu sehr hat er sich mit Pro-NATO-Getöse und Antisubventionspolitik bei der Bevölkerungsmehrheit diskreditiert. Als kommender Mann westlicher Interessen gilt sein Nachfolger, der Multimillionär Arseni Jazenjuk. Überall in der Ukraine hat er im Herbst 2009 kleine Militärzelte aufstellen lassen, von denen aus mutmaßlich bezahlte Zettelverteiler eine ganz im military look gehaltene Zeitschrift verteilen. »Nasch Lider - Unser Führer« steht darauf zu lesen. Im deutschsprachigen Raum klingt das nach einer antidemokratischen Drohung.
 
Quelle: http://www.jungewelt.de/2009/10-22/001.php
Von Hannes Hofbauer ist in zweiter Auflage im Wiener Promedia Verlag die »EU-Osterweiterung. Historische Basis - ökonomische Triebkräfte, soziale Folgen« erschienen.