51 Millionen auf der Flucht

d.a. Davon 30 Millionen Binnenflüchtlinge; dennoch: nirgendwo ein Einsehen. Man fährt fort, sich zu bekriegen und sich gegenseitig zu vernichten.

Der jüngste Brandherd hat sich jetzt im Irak aufgetan, ein Land, dem der Westen das Schicksal zudachte, in die Steinzeit zurückgebombt zu werden. In diesem zerstörten Land rückt nun die sunnitische Miliz, die in Syrien auch gegen die Regierungstruppen von Präsident Assad und gegen andere Islamisten kämpft, gegen Bagdad vor. Die Extremistengruppe trägt die Bezeichnung »Islamischer Staat im Irak und in Syrien« [ISIS]. Das »s« am Schluss steht laut »bbc online« für das arabische Wort »al-Sham«, das Levante, Syrien oder sogar Damaskus bedeuten kann, das sich jedoch im Zusammenhang mit dem globalen Djihad auf die Levante bezieht. Daher findet sich auch die Schreibweise »ISIL«,  »Islamischer Staat im Irak und in der Levante«.

Der ISIS
ist eine Kombination aus sunnitischen jihadistischen Gruppen und wiederauflebenden Einheiten von Saddams alter Baathisten-Armee unter der Führung von Izzat Ibrahim al-Douri, dem letzten überlebenden Angehörigen von Saddam Husseins innerem Kreis, sowie einer Handvoll von Anhängern von al-Qaida im Irak; der al-Qaida-Ableger kontrolliert inzwischen grosse Teile Syriens und des Iraks, darunter die Städte Raqqa, Deir al Zawr und Mossul  - die zweitgrösste irakische Stadt, die für die Erdöl- und Erdgasindustrie erhebliche Bedeutung besitzt; ferner Takrit, die Industriestadt Baiji, Ramadi und Falluja. Ziel ist der Sturz des von der USA installierten schiitischen Regimes von Nuri al-Maliki, einem Verbündeten des Irans. Inzwischen hat der ISIS auch damit begonnen, in einigen Gebieten Ostsyriens und des Iraks, vor allem entlang des Euphrats, einen eigenen Staat aufzubauen, so in Raqqa, das die Kämpfer bereits im Mai 2013 unter ihre Kontrolle gebracht und dies sofort durch den öffentlichen Mord an drei Alawiten manifestiert hatten. Es gab Bibelverbrennungen, Entführungen von Priestern und drakonische Repressalien gegen alle, die von den salafistischen Idealen abweichen. Die meisten Alawiten und Christen sind mittlerweile geflohen.

Das zweite Ziel besteht darin, einen islamischen Staat in einem mit Syrien fusionierten Irak zu bilden. Ausgangspunkt ist das Ergebnis des Sykes-Picot-Abkommens von 1916, der geheimen   Vereinbarung zwischen der britischen und der französischen Regierung, um die Gebiete des moribunden Ottomanenreichs im Mittleren Osten aufzuteilen. Hierzu waren der britische und französische Unterhändler, Sir Mark Sykes und Georges Picot, 1916 während des Ersten Weltkriegs unter Ausschluss der Öffentlichkeit zusammengetroffen. Die Bedingungen für die Aufteilung des Osmanischen Reiches unter den alliierten Mächten wurden dann am 16. Mai 1916 festgelegt.  Russland hatte ebenfalls Anteil an den Überlegungen und hatte sich mit den Entscheidungen einverstanden erklärt. Auch Italien gab später seine Einwilligung zu dem Abkommen. Gemäss den Bedingungen sollte Frankreich die direkte Kontrolle über einen Grossteil Galiläas ausüben, während Grossbritannien die Kontrolle über das kleine Gebiet rund um die Bucht von Haifa und Akko erhalten sollte. Der Rest Palästinas, ausgenommen Be'er Sheva und die Negev, sollte unter internationale Verwaltung gestellt werden: Die Verhinderung dieser geplanten Internationalisierung Zentralpalästinas war dann eines der Motive, die zur Abgabe der Balfour-Erklärung führten.  [1] Die heutigen künstlichen Grenzen im Mittleren Osten wurden somit von den anglo-französischen Imperialisten gezogen, um ihre Herrschaft über die Region zu errichten. Syrien und der Irak sind hiervon die ungeheuerlichsten Beispiele. Die ISIS-Kämpfer scheinen daher bestrebt, diese Grenzziehung rückgängig zu machen, um eine vereinigte Ottomanische Provinz (in Türkisch: vilyat) zu schaffen, die Syrien, den Libanon und den Irak einschliesst. Inzwischen bezeichnet der Westen den ISIS als terroristische Gruppierung, während diese von vielen im Mittleren Osten als antikolonialistische Miliz gesehen wird, die bemüht ist, die von den westlichen Mächten getrennte und aufgesplitterte arabische Welt wieder zu vereinigen.

»Die riesigen Erdölreserven«, hält Eric S. Margolis hierzu fest, »bilden eine ständige Verlockung für die energiemäßig benachteiligte Türkei. Die jetzige Lage kann direkt auf neokonservative Strategen in Washington im Umfeld von Vizepräsident Dick Cheney zurückverfolgt werden. Laut Cheney war 2002 das vorrangige Ziel die Zerstörung des Iraks, des höchstindustrialisierten und fortschrittlichsten arabischen Staates, um damit einen größeren Feind Israels loszuwerden; ebenso, um sich danach das Erdöl des Iraks unter den Nagel zu reißen. Tatsächlich ging Israel als einziger strategischer Sieger aus dem Bush/Cheney-Krieg gegen den Irak hervor. Dieser Krieg hat die USA bisher 4.500 getötete, 35.700 verwundete und 45.000 kranke Soldaten sowie mehr als 1 Billion $ gekostet. Der Irak liegt in Trümmern und ist wahrscheinlich über alle Versuche hinaus, ihn wieder zusammenzustellen, zerstört. Kein höherer amerikanischer oder britischer Regierungsvertreter wurde wegen dieses verheerenden, auf Lügen basierenden Kriegs je vor Gericht gestellt.«  [2] 

Einem Bericht von German Foreign Policy vom Mai 2013 zufolge »hatte auch der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu kurz zuvor erklärt, es sei heute an der Zeit, die 1916 im Nahen Osten durch das Sykes-Picot-Abkommen geschaffenen künstlichen Grenzen, auf dem auch der territoriale Bestand des heutigen Syriens basiert, zu überdenken. Ankara wolle diese fremdbestimmte Periode der Geschichte des Landes und des Nahen Ostens beenden, wird Davutoglu von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik [SWP] zitiert. Zwar behaupte der Außenminister, er stelle die bestehenden Grenzen nicht in Frage, ihm nahestehende Kenner   seiner Politiksprächen allerdings ausdrücklich von der Möglichkeit, daß die kurdischen Gebiete des Iraks und Syriens in 5 bis 10 Jahren Teil einer politisch vollkommen neu strukturierten föderalen Türkei sein könnten. Die SWP verweist auf Äußerungen des PKK-Anführers Öcalan, die offensichtlich damit konform gehen: Ihm zufolge seien Türken und Kurden die zentralen strategischen Kräfte im Nahen Osten. Sie müßten bei der Demokratisierung der Region eine Vorreiterrolle spielen und die autoritären Nationalstaaten, die die Imperialisten im Nahen Osten errichtet hätten, jetzt überwinden.  ……. Unter Bezug auf türkische Quellen spricht die SWP mit Blick auf die kurdischsprachigen Gebiete der Türkei, Syriens und des Iraks von einer Dysfunktionalität bestehender Nationalstaaten und ihrer aktuellen Grenzziehungen.           « [3]  »Mit dem Vormarsch des Islamischen Staats im Irak und der Levante«, schreibt GFP des weiteren, »erschüttert einmal mehr ein Produkt des auch von Berlin energisch befeuerten Syrien-Kriegs den Mittleren Osten. Der ISIS verdankt seine aktuelle Stärke einer Radikalisierung im Aufstand gegen Assad, vor der Beobachter schon frühzeitig gewarnt hatten, ohne bei der Bundesregierung, die die Aufständischen weiter bestärkte, auf Gehör zu stoßen. Der ISIS hat zudem von Waffenlieferungen und weiterer Unterstützung aus Saudi-Arabien profitiert.« Auch anderen Vermutungen zufolge werden die Kämpfer insgeheim von den sunnitischen Saudis  finanziert.   

Die folgenden Fakten gilt es, bewusst zu lesen, um sich einmal mehr davon zu überzeugen, wie in der EU vordergründig von Demokratie und Freiheit die Rede ist, während im Hintergrund ein unendlich verachtenswerter Filz besteht, auf dem die Zusammenarbeit mit einer repressiven Diktatur wie Saudi-Arabien  - aber auch Qatar gehört dazu -  ohne die geringsten Gewissensbisse gedeiht: »Die Golfdiktatur«, so GFP, »ist einer der wichtigsten Kooperationspartner Berlins im Syrien-Krieg. Zu den Saudis, zu denen Berlin auch jenseits offizieller Regierungsbeziehungen Kontakt hält, gehört der einstige langjährige Geheimdienstchef Prinz Turki al-Faisal, der während seiner Amtszeit in den 1980er Jahren die Unterstützung des Westens und Saudi-Arabiens für die Mujahedin in Afghanistan koordinierte. Prinz Turki, der bis heute in Riad beachtlichen Einfluß besitzt, ist Mitglied im Advisory Councilder Münchner Sicherheitskonferenz. Deutsche Medien haben ihm in Interviews mehrfach die Chance geboten, seiner Forderung nach einer Aufrüstung der Aufständischen in Syrien ein breites Publikum zu verschaffen. Auf der Beendigung der saudischen Hilfen für den ISIS hat Berlin nie bestanden.« Wie hinlänglich bekannt ist, unterstützen sowohl Riad als auch Doha islamistische Kräfte in Syrien. Die Unterstützung umfaßt spätestens seit Anfang 2012 auch Waffenlieferungen und Hilfsmaßnahmen für salafistische Milizen. Diese Waffen finden immer wieder ihren Weg zu al-Qaida-Ablegern. »Die enge deutsch-saudische Kooperation im Syrien-Krieg ist dadurch zu keiner Zeit gestört worden.«  [4] 

Die Kurden  
Markus Bickel bezeichnet »die Kurden als die großen Gewinner des ISIS-Vormarschs im Irak.   Innerhalb weniger Tage konnten sie ihr Gebiet um Hunderte von Quadratkilometern erweitern und sich riesige Rohstoffvorkommen sichern. Die Peschmerga-Kämpfer der Autonomieregierung in Arbil waren vor knapp zwei Wochen in Stellungen einmarschiert, die die irakische Armee kampflos hinterlassen hatte. Kirkuk gehört uns, das hier ist Kurdistan!, sagt Abdul Rahman, der aussenpolitischer Sprecher der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), der in Salzburg Philosophie studierte und 2003 kurz nach dem Sturz Saddam Husseins in den Irak zurückkehrte. Die Kurden sind so zu den neuen Herren der riesigen Ölfelder rund um die Provinzhauptstadt, die anders als Arbil, Dohuk und Suleimanije nicht zur Autonomieregion gehören, geworden. Die bei Kirkuk gelegenen Felder von Baba und Khurmala, legt Bickel dar, könnten zum Dreh- und Angelpunkt eines souveränen Staates Kurdistan werden; diese Vision beflügelt die Kurden seit Jahrzehnten. Sollte sich der schiitische Herrscher überhaupt halten können, müßte er auf die Kurden zugehen. Inzwischen kämpfen wenige Kilometer nördlich der Hauptstadt Peschmerga-Einheiten gemeinsam mit Regierungssoldaten gegen sunnitische Milizen. In Kirkuk sorgte ein vom Gouverneur der Provinz eilends ausgehandeltes Abkommen zwischen den flüchtenden Offizieren der Bundesarmee und dem Peschmerga-Oberkommando dafür, daß die staatliche Ordnung erhalten blieb. Nur so ließ sich der Durchmarsch von ISIS-Kämpfern verhindern. Vom Teilgebiet Avana aus führt die kurdische Pipeline zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan, es ist die Lebensader eines unabhängigen Kurdistans. Fast alle Großkonzerne der Ölbranche sind seit 2011 im Nordirak eingestiegen, trotz aller Sanktionsdrohungen der Zentralregierung. Chevron, Exxon Mobil, Hess und Total SA dealen lieber mit Arbil als mit Bagdad, auch deswegen, weil der Ausbau der Infrastruktur im korrupten Süden des Landes nur schleppend vorankommt. Würde die Autonomieregion eines Tages unabhängig werden, stiege Irakisch-Kurdistan zum zehntgrößten Erdölproduzenten der Welt auf.«  [5] 

Auf dem Vormarsch auf Bagdad  
Anfang Januar hatte der ISIS einen ersten Anschlag im libanesischen Beirut verübt und Falluja erobert; im März hatte Riad die Organisation auf westlichen Druck hin offiziell zur Terrororganisation erklärt und sich bemüht, andere salafistische Milizen in Syrien gegen sie in Stellung zu bringen, was sich als zu spät erwies. Wie auch der Mittelost-Experte der SWP, Guido Steinberg, erklärt hat, »ist der Irak nur der erste Schritt: Nach Bagdad soll das Regime in Damaskus fallen, wobei der ISIS unter Syrien das historische Syrien im Osmanischen Reich versteht, wozu der Libanon, Jordanien, aber auch Israel und Palästina gehören.«  [4] 

»Der langzeiterprobten römischen Formel divide et impera - teile und herrsche - folgend«, führt Eric S. Margolis aus, »spielte Washington die lang unterdrückten Schiiten des Iraks gegen die sunnitische Minderheit aus und löste damit einen weitreichenden Sunniten-Schiiten-Konflikt in der arabischen Welt aus, besonders in Syrien.« Der pakistanische Autor und Islamismus-Experte Ahmed Rashid hat vor großflächigen Religionskämpfen in den islamischen Ländern gewarnt. Dem Magazin Focussagte Rashid, die muslimische Welt stehe am Rand einer beispiellosen Katastrophe. So wolle die sunnitische ISIS-Miliz den Islam von allen Spaltungen säubern. Dies könnte der Anfang eines weltweiten Genozids von Sunniten an Schiiten sein, so Rashid. Im Umkehrschluß würden sich schiitische Militante dann an Sunniten rächen.  [2]  »Historisch gesehen«, heisst es in der Welt vom 20. 6., »hatten bis zum zweiten Golfkrieg stets Sunniten das Land regiert und die Schiiten (und Kurden) unterdrückt, obwohl die sunnitische Bevölkerung demografisch eine Minderheit darstellt.«     

Offenbar beobachten die CIA und andere US-Geheimdienste die im Chaos des syrischen Bürgerkriegs erstarkten sunnitisch-fundamentalistischen ISIS-Kämpfer schon seit geraumer Zeit. »Und doch«, vermerkt das Handelsblatt am 21. 6., »wurden die Geheimdienste vom Überfall auf Mossul und andere Städte im Nordirak überrascht. Angesichts der unklaren Informationen der Geheimdienste will offenbar auch US-Präsident Obama vorerst keine Luftangriffe auf die ISIS-Miliz anordnen. Aus Regierungskreisen heißt es, für solche Angriffe kämen im Moment nur wenige Ziele infrage. Für die USA ist die Informationsbeschaffung im Nahen Osten schwieriger geworden: Der Abzug der amerikanischen Truppen 2011 aus dem Irak und der Bürgerkrieg in Syrien haben weite Teile beider Länder für US-Agenten unzugänglich gemacht.« Bekanntlich waren die letzten Jahre unter dem schiitische Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki, der bereits seit 8 Jahren im Amt ist und vor zwei Monaten erneut wiedergewählt wurde, von dem Versuch geprägt, die demografisch eine Minderheit darstellenden Sunniten weitgehend zu marginalisieren. Insofern, legt Tyler Durden [6] dar, war von Washington die Forderung ergangen, sunnitische Politiker stärker in die Regierung zu integrieren, eine Forderung, auf die nicht eingegangen wurde; Maliki schlug genau die entgegengesetzte Richtung ein. Darüber hinaus kritisierte er die benachbarten sunnitischen Länder scharf für ihre Unterstützung militanter Strömungen. Der jüngste Zornesausbruch der Regierung Maliki richtete sich gegen Saudi-Arabien, die stärkste sunnitische Macht in der Golfregion; diese streitet jedoch eine Unterstützung oder gar eine Kontrolle des ISIS ab. Wie Reuters hervorhebt, hatte Maliki Saudi-Arabien bereits schon zuvor für die Unterstützung militanter Kräfte verantwortlich gemacht, aber bisher noch nie in der jetzigen scharfen Wortwahl. In einer an Riad gerichteten Erklärung heisst es: »Wir werfen ihnen vor, diese Gruppen finanziell und moralisch zu unterstützen. Damit sind sie auch für die Folgen [ihres Tuns] verantwortlich; dies schließt Verbrechen mit ein, die man als ›Völkermord‹ bezeichnen könnte: das Vergießen irakischen Blutes und die Zerstörung staatlicher irakischer Institutionen sowie historischer und religiöser Stätten und Hinterlassenschaften.« Wie Thierry Meyssan von Réseau Voltaire schon im Juli 2012 festhielt, bildeten die härtesten Islamisten ihre eigenen Organisationen oder sind der al-Qaida beigetreten. Sie stehen unter der Kontrolle von Katar oder der Zweigniederlassung Sudeiri der saudischen Königsfamilie. De facto sind sie jedoch der CIA angefügt.  

Der Irak versinkt langsam in einer Spirale religiös-sektiererischer Gewalt, die die anhaltenden Auswirkungen jahrhundertealter Gräben offenlegt. So schreibt auch Durden, dass die ISIS-Kämpfer auf der Grundlage mittelalterlicher sunnitischer Vorschriften und Regeln ein Kalifat beiderseits der irakisch-syrischen Grenze errichten wollen. Ihnen haben sich verschiedene andere sunnitische Fraktionen angeschlossen, darunter frühere Mitglieder der Baath-Partei von Saddam Hussein und einige Stammesführer, die die weitverbreitete Verärgerung über die von ihnen als Unterdrücker empfundene Regierung Malikis teilen. »Es besteht die reale Gefahr weiterer sektiererischer Gewalt in einem ungeheuren Ausmaß, sowohl innerhalb des Iraks als auch über seine Grenzen hinaus«, erklärte UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon am 17. Juni. »Ich habe führende Vertreter der irakischen Regierung, darunter auch Ministerpräsident al-Maliki, gedrängt, einen auf Annäherung und Einbeziehung zielenden Dialog anzubieten und auf eine Lösung dieses Problems hinzuarbeiten.« Indessen erklärte jetzt Hassan Suneid, ein enger Verbündeter Malikis, »die regierende schiitische Irakische Nationalallianz solle jegliche Zusammenarbeit mit dem größten sunnitischen politischen Zusammenschluß, der Mutahidun, einstellen.« Zehntausende Schiiten haben sich in den letzten Tagen als Freiwillige bei den Rekrutierungsstellen gemeldet. Damit reagierten sie auf einen Aufruf führender schiitischer Geistlicher zur Verteidigung der Nation.  Angesichts der Tatsache, dass die regulären Streitkräfte, die etwa 1 Million Soldaten stark sind, Stellungen aufgegeben haben, obwohl sie von der USA mit einem Aufwand in der Grössenordnung von 25 Milliarden $ bewaffnet und ausgebildet worden sind, stützt sich die Regierung zunehmend auf schiitische Milizen, die ausserhalb des Gesetzes stehen, und reaktiviert paramilitärische Einheiten, die schon an den blutigen Kämpfen im Irak zwischen 2006 und 2007 beteiligt waren. Wie ein in der Regierung tätiger schiitischer Islamist erklärte, sollen nun gut ausgebildete und erfahrene Kämpfer der schiitischen Asaib Ahl al-Haq, der Kataib Hisbollah und der Badr-Organisation als zentrale Kampfgruppen eingesetzt werden, während die neuen zivilen Freiwilligen dann nach einer Rückeroberung die eroberten Stellungen halten sollen. Am 18. 6. hatte sich dann Bagdads Aussenminister an Washington gewendet und um militärische Unterstützung gegen die ISIS-Kämpfer erbeten.  

Die ISIS-Offensive, so Strategic Alert, signalisiert den kommenden Zerfall des Iraks. Auf sich allein gestellt, wären die ISIS-Milizen keinesfalls in der Lage gewesen, Mossul und derart viel Territorium einzunehmen resp. anschliessend zu verwalten, hätten sie keine Unterstützung von Regionalmächten, von örtlichen Stämmen sowie von politischen bzw. bewaffneten Gruppen, die Gegner der Zentralregierung in Bagdad sind, erhalten. Die Militär-, Sicherheits- und Polizeikommandeure von Mossul, von denen viele unter Saddam Hussein irakische Soldaten gewesen waren, hatten angeordnet, dass ihre Leute die Stadt kampflos aufzugeben hatten; sie selbst flohen in die militärisch starke Kurdenregion. Berichten zufolge wurde die Offensive vom Zeitpunkt der Wiederwahl des politischen Bündnisses von Ministerpräsident Nouri al-Maliki, also von Mitte Mai an, vorbereitet; die Wahl hatte weder Saudi-Arabien noch dessen Verbündeten, d.h. Kuwait, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Katar, gefallen. Nach Mossul war der ISIS auf Tikrit vorgerückt, eine Hochburg von Stämmen des Saddam-Regimes, die nach der amerikanisch-britischen Invasion 2003 völlig gedemütigt worden waren und alle wirtschaftlichen, sozialen und politischen Privilegien verloren hatten. Die von der USA gestützte Regierung Maliki überliess die Stämme, die zudem mit Stämmen in Syrien, Jordanien und Saudi-Arabien verwandt sind, ihrem Schicksal. Infolgedessen wurden sie zur leichten Beute der saudisch-wahhabitischen oder extremistisch-sunnitischen Propaganda und Geldmittel.  [7] 

Wie die Berliner Umschau am 22. 6. berichtete, versuchen die sunnitischen Extremisten des ISIS, die inzwischen auch den in Syrien gelegenen Ort Ruta in ihre Gewalt gebracht haben, durch die Kontrolle grenznaher Orte Waffen und Millizionäre zwischen dem Irak und Syrien hin- und herzubewegen. Auch der Posten Al-Kaim, einer von drei offiziellen Grenzübergängen zwischen Irak und Syrien, ist dem ISIS in die Hände gefallen. Die Autorität der Zentralregierung in Bagdad scheint völlig zusammengebrochen zu sein. Wie der Mitarbeiter des US-Pressekonzerns McClatchy, Mitchell Prothero, berichtet, geht die einzige Verteidigung gegen den ISIS von örtlichen Milizen aus. »Die anglo-amerikanische Politik im Irak«, führt die Bürgerrechtsbewegung Solidariät u.a. aus, »ist kein Fehlschlag, wie viele jetzt behaupten; sie sollte im Gegenteil die Folgen bewirken, die wir heute sehen. Die Absicht war von Anfang an, eine Welt zu schaffen, in der die völkerrechtlichen Prinzipien des Westfälischen Friedens außer Kraft gesetzt werden, wie dies der frühere britische Premier Tony Blair 1999 gefordert und dann zusammen mit der Bush-Cheney-Administration auch praktiziert hat. Diese Absicht der Empire-Fraktion ist in Libyen und Syrien ebenso wie in der jahrzehntelangen Kampagne gegen den Iran erkennbar. Seit Jahren haben die USA und Europa Gruppen bewaffnet und ausgebildet  - oder Saudi-Arabien, Katar, die Türkei und andere das für sich machen lassen  -  Gruppen, die sie nun als ihren Feind Nummer eins im Irak bezeichnen. Tony Blair, der Hauptverantwortliche des Irakkriegs 2003, dessen Begründung sich als unverschämte Lüge erwiesen hat, wird jetzt massiv angegriffen. Als Reaktion darauf veröffentlichte er am 13. Juni auf seiner website eine lange gewundene Schrift gegen den Vorwurf, daß er bzw. sein Krieg heute am Zerfall des Landes schuld seien. Den Gipfel der Absurdität erreicht er mit der Behauptung, die Ursache der Gewalt sei der Mangel des Westen an energischer Entschlossenheit, Assad in Syrien zu stürzen. Der Diener Ihrer Majestät beschuldigt auch die Regierung Maliki und verschweigt geflissentlich, daß die irakische Politik seit 2003 weitestgehend von den Anglo-Amerikanern diktiert wird. Dabei war das Ziel niemals politische und wirtschaftliche Stabilität. Heute erklärt der geistige Vater des Irakkriegs, man müsse einen Krieg gegen islamistischen Extremismus führen, aber weder Saddam Hussein noch Baschar Assad waren jemals islamistische Extremisten. Der einzige Ausweg ist ein Ende der anglo-amerikanischen Regimewechsel-Politik und ein politischer Dialog mit den lokalen Gruppen und ihren Unterstützern in der Region, die Großmächte, vorrangig die USA und Rußland, mit einbezogen.« Gleichzeitig müßte dies das Einstellen jeglicher saudischer, britischer und amerikanischer Hilfe in Form von Geld, Waffen und Propaganda für die Terrorgruppen in Syrien und Irak bedeuten.  [8]  

»Saddam Hussein hatte sicher recht«, hält Margolis fest, »als er voraussagte, daß Amerikas Einmarsch in den Irak die Mutter aller Schlachten werden würde. 11 Jahre danach geht sie weiter. Vor dem unerbittlichen Vormarsch der Kämpfer des ISIS scheiterten jetzt 2 Divisionen der irakischen Regierungsarmee, 30.000 Mann, die Marionettenarmee, die 10 Jahre lang von der USA ausgebildet und ausgestattet worden war, was annähernd 14 Milliarden $ verschlungen hat. Sobald die Vereinigten Staaten einen Herausforderer niederschlagen, der ihre Beherrschung des Mittleren Ostens infrage stellt, erhebt sich ein neuer.«  

Wenigstens haben sich Steinmeier und Davutoglu am 20. Juni vorerst gemeinsam gegen eine westliche Intervention im Irak ausgesprochen. Bei seinem Besuch in Istanbul erklärte Steinmeier, die einzige Lösung im Irak sei eine neue Regierung unter Beteiligung von Schiiten, Sunniten und Kurden, wobei die Kurden de facto jedoch kaum etwas mit dem Zentralstaat zu tun haben wollen.


[1]  Vortrag von Prof. Dr. Robert Hickson auf dem Kongress Mut zur Ethik vom 30. 8. bis 1. 9.2002 in Feldkirch/Vorarlberg; Täuschungsstrategien - Zum Krieg, in dem wir uns bereits befinden, und zu dem, der uns wahrscheinlich bevorsteht: Strategische und moralische Überlegungen eines US?Militärs auf längere Sicht

[2]  http://antikrieg.com/aktuell/2014_06_14_sauhaufen.htm   14. 6. 14

Der allmächtige Sauhaufen im Irak  -  Von Eric S. Margolis

[3]  http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58604   22. 5. 13
Das Ende künstlicher Grenzen

[4]  http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58891   16. 6. 14   Vormarsch auf Bagdad

[5]  http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/irak-kurden-sichern-sich-oelgebiete-13002424.html   21. 6. 14   Markus Bickel

[6]  http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/geostrategie/tyler-durden/saudi-arabischer-voelkermord-im-irak-.html   18. 6. 14  Saudi-arabischer »Völkermord« im Irak?  Tyler Durden

[7]  Strategic Alert Jahrgang 27, Nr. 23/24 vom 11. Juni  2014

[8]  http://www.bueso.de/node/7428    17. 6. 14 Spirale religiöser Gewalt im Nahen Osten: Tony Blair muß endlich hinter Gitter!