51 Millionen auf der Flucht 22.06.2014 23:59
d.a. Davon 30 Millionen Binnenflüchtlinge; dennoch: nirgendwo ein Einsehen. Man fährt fort, sich zu bekriegen und sich gegenseitig zu vernichten.
Der jüngste Brandherd hat sich jetzt im Irak aufgetan, ein Land, dem der Westen das Schicksal zudachte, in die Steinzeit zurückgebombt zu werden. In diesem zerstörten Land rückt nun die sunnitische Miliz, die in Syrien auch gegen die Regierungstruppen von Präsident Assad und gegen andere Islamisten kämpft, gegen Bagdad vor. Die Extremistengruppe trägt die Bezeichnung »Islamischer Staat im Irak und in Syrien« [ISIS]. Das »s« am Schluss steht laut »bbc online« für das arabische Wort »al-Sham«, das Levante, Syrien oder sogar Damaskus bedeuten kann, das sich jedoch im Zusammenhang mit dem globalen Djihad auf die Levante bezieht. Daher findet sich auch die Schreibweise »ISIL«, »Islamischer Staat im Irak und in der Levante«.
Der ISIS ist
eine Kombination aus sunnitischen jihadistischen Gruppen und wiederauflebenden
Einheiten von Saddams alter Baathisten-Armee unter der Führung von Izzat
Ibrahim al-Douri, dem letzten überlebenden Angehörigen von Saddam Husseins
innerem Kreis, sowie einer Handvoll von Anhängern von al-Qaida im Irak; der
al-Qaida-Ableger kontrolliert inzwischen grosse Teile Syriens und des Iraks,
darunter die Städte Raqqa, Deir al Zawr und Mossul - die zweitgrösste irakische Stadt, die für die Erdöl- und
Erdgasindustrie erhebliche Bedeutung besitzt; ferner Takrit, die Industriestadt
Baiji, Ramadi und Falluja. Ziel ist der Sturz des von der USA installierten schiitischen Regimes
von Nuri al-Maliki, einem Verbündeten des Irans. Inzwischen hat der ISIS auch damit begonnen, in einigen
Gebieten Ostsyriens und des Iraks, vor allem entlang des Euphrats, einen
eigenen Staat aufzubauen, so in Raqqa, das die Kämpfer bereits im Mai 2013
unter ihre Kontrolle gebracht und dies sofort durch den öffentlichen Mord an
drei Alawiten manifestiert hatten. Es gab Bibelverbrennungen, Entführungen von
Priestern und drakonische Repressalien gegen alle, die von den salafistischen
Idealen abweichen. Die meisten Alawiten und Christen sind mittlerweile
geflohen.
Das zweite Ziel besteht darin, einen islamischen Staat in einem mit Syrien fusionierten Irak
zu bilden. Ausgangspunkt ist das Ergebnis des ›Sykes-Picot‹-Abkommens
von 1916, der geheimen Vereinbarung
zwischen der britischen und der französischen Regierung, um die Gebiete des
moribunden Ottomanenreichs im Mittleren Osten aufzuteilen. Hierzu waren der britische
und französische Unterhändler, Sir Mark Sykes und Georges Picot, 1916 während
des Ersten Weltkriegs unter Ausschluss der Öffentlichkeit zusammengetroffen. Die
Bedingungen für die Aufteilung des Osmanischen Reiches unter den alliierten
Mächten wurden dann am 16. Mai 1916 festgelegt. Russland hatte ebenfalls Anteil an den
Überlegungen und hatte sich mit den Entscheidungen einverstanden erklärt. Auch
Italien gab später seine Einwilligung zu dem Abkommen. Gemäss den Bedingungen
sollte Frankreich die direkte Kontrolle über einen Grossteil Galiläas ausüben,
während Grossbritannien die Kontrolle über das kleine Gebiet rund um die Bucht
von Haifa und Akko erhalten sollte. Der Rest Palästinas, ausgenommen Be'er
Sheva und die Negev, sollte unter internationale Verwaltung gestellt werden:
Die Verhinderung dieser geplanten Internationalisierung Zentralpalästinas war
dann eines der Motive, die zur Abgabe der Balfour-Erklärung führten. [1] Die heutigen künstlichen Grenzen im
Mittleren Osten wurden somit von den anglo-französischen Imperialisten gezogen,
um ihre Herrschaft über die Region zu errichten. Syrien und der Irak sind
hiervon die ungeheuerlichsten Beispiele. Die ISIS-Kämpfer scheinen daher
bestrebt, diese Grenzziehung rückgängig zu machen, um eine vereinigte
Ottomanische Provinz (in Türkisch: vilyat) zu schaffen, die Syrien, den Libanon
und den Irak einschliesst. Inzwischen bezeichnet der Westen den ISIS als
terroristische Gruppierung, während diese von vielen im Mittleren Osten als antikolonialistische
Miliz gesehen wird, die bemüht ist, die von den westlichen Mächten getrennte
und aufgesplitterte arabische Welt wieder zu vereinigen.
»Die
riesigen Erdölreserven«, hält Eric S. Margolis hierzu fest, »bilden
eine ständige Verlockung für die energiemäßig benachteiligte Türkei. Die jetzige
Lage kann direkt auf neokonservative Strategen in Washington im Umfeld von
Vizepräsident Dick Cheney zurückverfolgt werden. Laut Cheney war 2002 das vorrangige
Ziel die Zerstörung des Iraks, des höchstindustrialisierten und
fortschrittlichsten arabischen Staates, um damit einen größeren Feind
Israels loszuwerden; ebenso, um sich danach das Erdöl des Iraks unter den Nagel
zu reißen. Tatsächlich ging Israel als einziger strategischer Sieger aus dem
Bush/Cheney-Krieg gegen den Irak hervor. Dieser Krieg hat die USA bisher 4.500
getötete, 35.700 verwundete und 45.000 kranke Soldaten sowie mehr als 1 Billion
$ gekostet. Der Irak liegt in Trümmern und ist wahrscheinlich über alle
Versuche hinaus, ihn wieder zusammenzustellen, zerstört. Kein höherer
amerikanischer oder britischer Regierungsvertreter wurde wegen dieses
verheerenden, auf Lügen basierenden Kriegs je vor Gericht gestellt.« [2]
Einem
Bericht von ›German Foreign Policy‹ vom Mai 2013 zufolge »hatte auch
der türkische
Außenminister Ahmet Davutoglu kurz zuvor erklärt, es sei heute an der Zeit, die
1916 im Nahen Osten durch das Sykes-Picot-Abkommen geschaffenen ›künstlichen Grenzen, auf dem auch der territoriale Bestand des heutigen
Syriens basiert, zu überdenken‹. Ankara wolle ›diese fremdbestimmte Periode der Geschichte des Landes und des Nahen
Ostens beenden‹, wird Davutoglu von der Berliner ›Stiftung
Wissenschaft und Politik‹ [SWP] zitiert. Zwar behaupte der
Außenminister, er stelle die bestehenden Grenzen nicht in Frage, ›ihm
nahestehende Kenner seiner Politik‹ sprächen allerdings ausdrücklich ›von der Möglichkeit, daß die kurdischen Gebiete des Iraks und
Syriens in 5 bis 10 Jahren Teil einer politisch vollkommen neu strukturierten
föderalen Türkei sein könnten‹. Die SWP verweist auf Äußerungen des PKK-Anführers
Öcalan, die offensichtlich damit konform gehen: Ihm zufolge seien ›Türken
und Kurden die zentralen strategischen Kräfte im Nahen Osten‹.
Sie müßten bei der
Demokratisierung der Region eine ›Vorreiterrolle‹ spielen und die ›autoritären
Nationalstaaten‹, die die Imperialisten im Nahen Osten
errichtet hätten, jetzt überwinden. ……. Unter
Bezug auf türkische Quellen spricht die SWP mit Blick auf die
kurdischsprachigen Gebiete der Türkei, Syriens und des Iraks von einer ›Dysfunktionalität
bestehender Nationalstaaten und ihrer aktuellen Grenzziehungen‹. « [3] »Mit dem Vormarsch des ›Islamischen
Staats im Irak und der Levante‹«,
schreibt GFP des weiteren, »erschüttert einmal mehr ein Produkt des auch von
Berlin energisch befeuerten Syrien-Kriegs den Mittleren Osten. Der ISIS
verdankt seine aktuelle Stärke einer Radikalisierung im Aufstand gegen Assad,
vor der Beobachter schon frühzeitig gewarnt hatten, ohne bei der
Bundesregierung, die die Aufständischen weiter bestärkte, auf Gehör zu stoßen. Der
ISIS hat zudem von Waffenlieferungen und weiterer Unterstützung aus
Saudi-Arabien profitiert.« Auch anderen Vermutungen zufolge werden die Kämpfer insgeheim von den
sunnitischen Saudis finanziert.
Die
folgenden Fakten gilt es, bewusst zu lesen, um sich einmal mehr davon zu
überzeugen, wie in der EU vordergründig von Demokratie und Freiheit die Rede ist,
während im Hintergrund ein unendlich verachtenswerter Filz besteht, auf dem die
Zusammenarbeit mit einer repressiven Diktatur wie Saudi-Arabien - aber auch Qatar gehört dazu - ohne die geringsten Gewissensbisse gedeiht: »Die
Golfdiktatur«, so
GFP, »ist
einer der wichtigsten Kooperationspartner Berlins im Syrien-Krieg. Zu den
Saudis, zu denen Berlin auch jenseits offizieller Regierungsbeziehungen Kontakt hält, gehört der einstige langjährige Geheimdienstchef
Prinz Turki al-Faisal, der während seiner Amtszeit in den 1980er Jahren die
Unterstützung des Westens und Saudi-Arabiens für die Mujahedin in Afghanistan
koordinierte. Prinz Turki, der bis heute in Riad beachtlichen Einfluß besitzt, ist Mitglied im ›Advisory Council‹ der Münchner Sicherheitskonferenz. Deutsche
Medien haben ihm in Interviews mehrfach die Chance geboten, seiner Forderung
nach einer Aufrüstung der Aufständischen in Syrien ein breites Publikum zu verschaffen.
Auf
der Beendigung der saudischen Hilfen für den ISIS hat Berlin nie bestanden.« Wie
hinlänglich bekannt ist, unterstützen sowohl Riad als auch Doha islamistische
Kräfte in Syrien. Die Unterstützung umfaßt
spätestens seit Anfang 2012 auch Waffenlieferungen und Hilfsmaßnahmen für salafistische Milizen. Diese Waffen finden
immer wieder ihren Weg zu al-Qaida-Ablegern. »Die enge deutsch-saudische
Kooperation im Syrien-Krieg ist dadurch zu keiner Zeit gestört worden.«
[4]
Die Kurden Markus
Bickel bezeichnet »die Kurden als die großen Gewinner des ISIS-Vormarschs im
Irak. Innerhalb weniger Tage konnten sie
ihr Gebiet um Hunderte von Quadratkilometern erweitern und sich riesige
Rohstoffvorkommen sichern. Die Peschmerga-Kämpfer der Autonomieregierung in
Arbil waren vor knapp zwei Wochen in Stellungen einmarschiert, die die
irakische Armee kampflos hinterlassen hatte. ›Kirkuk gehört uns, das hier ist Kurdistan!‹, sagt Abdul Rahman, der aussenpolitischer Sprecher der ›Patriotischen Union Kurdistans‹ (PUK), der in Salzburg Philosophie
studierte und 2003 kurz nach dem Sturz Saddam Husseins in den Irak
zurückkehrte. Die Kurden sind so zu den neuen Herren der riesigen Ölfelder rund
um die Provinzhauptstadt, die anders als Arbil, Dohuk und Suleimanije nicht zur
Autonomieregion gehören, geworden. Die bei Kirkuk gelegenen Felder von Baba und
Khurmala, legt Bickel dar, könnten zum Dreh- und Angelpunkt eines souveränen
Staates Kurdistan werden; diese Vision beflügelt die Kurden seit Jahrzehnten. Sollte
sich der schiitische Herrscher überhaupt halten können, müßte er auf die Kurden
zugehen. Inzwischen kämpfen wenige Kilometer nördlich der Hauptstadt
Peschmerga-Einheiten gemeinsam mit Regierungssoldaten gegen sunnitische
Milizen. In Kirkuk sorgte ein vom Gouverneur der Provinz eilends ausgehandeltes
Abkommen zwischen den flüchtenden Offizieren der Bundesarmee und dem
Peschmerga-Oberkommando dafür, daß die staatliche Ordnung erhalten blieb. Nur
so ließ sich der Durchmarsch von ISIS-Kämpfern verhindern. Vom Teilgebiet Avana
aus führt die kurdische Pipeline zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan, es ist
die Lebensader eines unabhängigen Kurdistans. Fast alle Großkonzerne der
Ölbranche sind seit 2011 im Nordirak eingestiegen, trotz aller
Sanktionsdrohungen der Zentralregierung. Chevron, Exxon Mobil, Hess und Total
SA dealen lieber mit Arbil als mit Bagdad, auch deswegen, weil der Ausbau der
Infrastruktur im korrupten Süden des Landes nur schleppend vorankommt. Würde
die Autonomieregion eines Tages unabhängig werden, stiege Irakisch-Kurdistan
zum zehntgrößten Erdölproduzenten der Welt auf.« [5]
Auf dem Vormarsch auf Bagdad Anfang
Januar hatte der ISIS einen ersten Anschlag im libanesischen Beirut verübt und Falluja
erobert; im März hatte Riad die Organisation auf westlichen Druck hin offiziell
zur Terrororganisation erklärt und sich bemüht, andere salafistische Milizen in
Syrien gegen sie in Stellung zu bringen, was sich als zu spät erwies. Wie auch der
Mittelost-Experte der SWP, Guido Steinberg, erklärt hat, »ist der
Irak ›nur der erste Schritt‹: Nach Bagdad soll das Regime in
Damaskus fallen, wobei der ISIS unter Syrien das historische Syrien im
Osmanischen Reich versteht, wozu der Libanon, Jordanien, aber auch Israel und
Palästina gehören.« [4]
»Der
langzeiterprobten römischen Formel ›divide
et impera‹ - teile und herrsche -
folgend«, führt
Eric S. Margolis aus, »spielte Washington die lang unterdrückten Schiiten des
Iraks gegen die sunnitische Minderheit aus und löste damit einen weitreichenden
Sunniten-Schiiten-Konflikt in der arabischen Welt aus, besonders in Syrien.« Der
pakistanische Autor und Islamismus-Experte Ahmed Rashid hat vor großflächigen Religionskämpfen in den islamischen
Ländern gewarnt. Dem Magazin ›Focus‹ sagte Rashid, die muslimische Welt
stehe am Rand einer beispiellosen Katastrophe. So wolle die sunnitische ISIS-Miliz
den Islam von allen Spaltungen säubern. Dies könnte der Anfang eines weltweiten
Genozids von Sunniten an Schiiten sein, so Rashid. Im Umkehrschluß würden sich schiitische Militante dann an Sunniten
rächen. [2] »Historisch gesehen«, heisst
es in der ›Welt‹ vom 20. 6., »hatten bis zum zweiten Golfkrieg stets Sunniten das Land
regiert und die Schiiten (und Kurden) unterdrückt, obwohl die sunnitische
Bevölkerung demografisch eine Minderheit darstellt.«
Offenbar
beobachten die CIA und andere US-Geheimdienste die im Chaos des syrischen
Bürgerkriegs erstarkten sunnitisch-fundamentalistischen ISIS-Kämpfer schon seit
geraumer Zeit. »Und doch«, vermerkt das ›Handelsblatt‹ am 21. 6., »wurden die Geheimdienste vom
Überfall auf Mossul und andere Städte im Nordirak überrascht. Angesichts der
unklaren Informationen der Geheimdienste will offenbar auch US-Präsident Obama
vorerst keine Luftangriffe auf die ISIS-Miliz anordnen. Aus Regierungskreisen heißt
es, für solche Angriffe kämen im Moment nur wenige Ziele infrage. Für die USA
ist die Informationsbeschaffung im Nahen Osten schwieriger geworden: Der Abzug
der amerikanischen Truppen 2011 aus dem Irak und der Bürgerkrieg in Syrien
haben weite Teile beider Länder für US-Agenten unzugänglich gemacht.« Bekanntlich waren die letzten Jahre unter dem schiitische
Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki, der bereits seit 8 Jahren im Amt ist und
vor zwei Monaten erneut wiedergewählt wurde, von dem Versuch geprägt, die demografisch
eine Minderheit darstellenden Sunniten weitgehend zu marginalisieren. Insofern,
legt Tyler Durden [6] dar, war von Washington die Forderung ergangen, sunnitische
Politiker stärker in die Regierung zu integrieren, eine Forderung, auf die nicht
eingegangen wurde; Maliki schlug genau die entgegengesetzte Richtung ein. Darüber
hinaus kritisierte er die benachbarten sunnitischen Länder scharf für ihre
Unterstützung militanter Strömungen. Der jüngste Zornesausbruch der Regierung
Maliki richtete sich gegen Saudi-Arabien, die stärkste sunnitische Macht in der
Golfregion; diese streitet jedoch eine Unterstützung oder gar eine Kontrolle des
ISIS ab. Wie Reuters hervorhebt, hatte Maliki Saudi-Arabien bereits schon zuvor
für die Unterstützung militanter Kräfte verantwortlich gemacht, aber bisher
noch nie in der jetzigen scharfen Wortwahl. In einer an Riad gerichteten
Erklärung heisst es: »Wir werfen ihnen vor, diese Gruppen finanziell und
moralisch zu unterstützen. Damit sind sie auch für die Folgen [ihres Tuns]
verantwortlich; dies schließt Verbrechen mit ein, die man als ›Völkermord‹
bezeichnen könnte: das Vergießen irakischen Blutes und die Zerstörung
staatlicher irakischer Institutionen sowie historischer und religiöser Stätten
und Hinterlassenschaften.« Wie Thierry Meyssan von ›Réseau Voltaire‹ schon im Juli 2012 festhielt, bildeten die härtesten Islamisten
ihre eigenen Organisationen oder sind der al-Qaida beigetreten. Sie
stehen unter der Kontrolle von Katar oder der Zweigniederlassung Sudeiri der saudischen
Königsfamilie. De facto sind sie jedoch der CIA angefügt.
Der Irak versinkt
langsam in einer Spirale religiös-sektiererischer Gewalt, die die anhaltenden
Auswirkungen jahrhundertealter Gräben offenlegt. So schreibt auch Durden, dass
die ISIS-Kämpfer auf der Grundlage mittelalterlicher sunnitischer Vorschriften
und Regeln ein Kalifat beiderseits der irakisch-syrischen Grenze errichten
wollen. Ihnen haben sich verschiedene andere sunnitische Fraktionen
angeschlossen, darunter frühere Mitglieder der Baath-Partei von Saddam Hussein
und einige Stammesführer, die die weitverbreitete Verärgerung über die von
ihnen als Unterdrücker empfundene Regierung Malikis teilen. »Es
besteht die reale Gefahr weiterer sektiererischer Gewalt in einem ungeheuren
Ausmaß, sowohl innerhalb des Iraks als auch über seine Grenzen hinaus«,
erklärte UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon am 17. Juni. »Ich habe
führende Vertreter der irakischen Regierung, darunter auch Ministerpräsident
al-Maliki, gedrängt, einen auf Annäherung und Einbeziehung zielenden Dialog
anzubieten und auf eine Lösung dieses Problems hinzuarbeiten.«
Indessen erklärte jetzt Hassan Suneid, ein enger Verbündeter Malikis, »die
regierende schiitische ›Irakische
Nationalallianz‹ solle jegliche
Zusammenarbeit mit dem größten sunnitischen politischen Zusammenschluß, der ›Mutahidun‹, einstellen.« Zehntausende Schiiten haben sich in den letzten
Tagen als Freiwillige bei den Rekrutierungsstellen gemeldet. Damit reagierten
sie auf einen Aufruf führender schiitischer Geistlicher zur Verteidigung der
Nation. Angesichts der Tatsache, dass die regulären Streitkräfte, die etwa 1 Million
Soldaten stark sind, Stellungen aufgegeben haben, obwohl sie von der USA mit
einem Aufwand in der Grössenordnung von 25 Milliarden $ bewaffnet und
ausgebildet worden sind, stützt sich die Regierung zunehmend auf schiitische
Milizen, die ausserhalb des Gesetzes stehen, und reaktiviert paramilitärische
Einheiten, die schon an den blutigen Kämpfen im Irak zwischen 2006 und 2007
beteiligt waren. Wie ein in der Regierung tätiger schiitischer Islamist
erklärte, sollen nun gut ausgebildete und erfahrene Kämpfer der schiitischen
Asaib Ahl al-Haq, der Kataib Hisbollah und der Badr-Organisation als zentrale
Kampfgruppen eingesetzt werden, während die neuen zivilen Freiwilligen dann
nach einer Rückeroberung die eroberten Stellungen halten sollen. Am 18. 6.
hatte sich dann Bagdads Aussenminister an Washington gewendet und um
militärische Unterstützung gegen die ISIS-Kämpfer erbeten.
Die
ISIS-Offensive, so ›Strategic Alert‹, signalisiert den kommenden Zerfall
des Iraks. Auf sich allein gestellt, wären die ISIS-Milizen keinesfalls in der
Lage gewesen, Mossul und derart viel Territorium einzunehmen resp. anschliessend
zu verwalten, hätten sie keine Unterstützung von Regionalmächten, von örtlichen
Stämmen sowie von politischen bzw. bewaffneten Gruppen, die Gegner der
Zentralregierung in Bagdad sind, erhalten. Die Militär-, Sicherheits- und
Polizeikommandeure von Mossul, von denen viele unter Saddam Hussein irakische
Soldaten gewesen waren, hatten angeordnet, dass ihre Leute die Stadt kampflos
aufzugeben hatten; sie selbst flohen in die militärisch starke Kurdenregion. Berichten
zufolge wurde die Offensive vom Zeitpunkt der Wiederwahl des politischen
Bündnisses von Ministerpräsident Nouri al-Maliki, also von Mitte Mai an, vorbereitet;
die Wahl hatte weder Saudi-Arabien noch dessen Verbündeten, d.h. Kuwait, den Vereinigten
Arabischen Emiraten und Katar, gefallen. Nach Mossul war der ISIS auf Tikrit
vorgerückt, eine Hochburg von Stämmen des Saddam-Regimes, die nach der
amerikanisch-britischen Invasion 2003 völlig gedemütigt worden waren und alle
wirtschaftlichen, sozialen und politischen Privilegien verloren hatten. Die von
der USA gestützte Regierung Maliki überliess die Stämme, die zudem mit Stämmen
in Syrien, Jordanien und Saudi-Arabien verwandt sind, ihrem Schicksal. Infolgedessen
wurden sie zur leichten Beute der saudisch-wahhabitischen oder extremistisch-sunnitischen
Propaganda und Geldmittel. [7]
Wie die ›Berliner Umschau‹ am 22. 6. berichtete, versuchen die sunnitischen Extremisten des ISIS,
die inzwischen auch den in Syrien gelegenen Ort Ruta in ihre Gewalt gebracht
haben, durch die Kontrolle grenznaher Orte Waffen und Millizionäre zwischen dem
Irak und Syrien hin- und herzubewegen. Auch der Posten Al-Kaim, einer von drei
offiziellen Grenzübergängen zwischen Irak und Syrien, ist dem ISIS in die Hände
gefallen. Die Autorität der Zentralregierung in Bagdad scheint völlig zusammengebrochen
zu sein. Wie der Mitarbeiter des US-Pressekonzerns McClatchy, Mitchell Prothero,
berichtet, geht die einzige Verteidigung gegen den ISIS von örtlichen Milizen
aus. »Die
anglo-amerikanische Politik im Irak«, führt die ›Bürgerrechtsbewegung Solidariät‹ u.a. aus, »ist kein Fehlschlag, wie viele jetzt behaupten; sie sollte
im Gegenteil die Folgen bewirken, die wir heute sehen. Die Absicht war von
Anfang an, eine Welt zu schaffen, in der die völkerrechtlichen Prinzipien des
Westfälischen Friedens außer Kraft gesetzt werden, wie dies der frühere
britische Premier Tony Blair 1999 gefordert und dann zusammen mit der
Bush-Cheney-Administration auch praktiziert hat. Diese Absicht der
Empire-Fraktion ist in Libyen und Syrien ebenso wie in der jahrzehntelangen
Kampagne gegen den Iran erkennbar. Seit Jahren haben die USA und Europa Gruppen
bewaffnet und ausgebildet - oder
Saudi-Arabien, Katar, die Türkei und andere das für sich machen lassen -
Gruppen, die sie nun als ihren Feind Nummer eins im Irak bezeichnen.
Tony Blair, der Hauptverantwortliche des Irakkriegs 2003, dessen Begründung
sich als unverschämte Lüge erwiesen hat, wird jetzt massiv angegriffen. Als
Reaktion darauf veröffentlichte er am 13. Juni auf seiner website eine lange gewundene
Schrift gegen den Vorwurf, daß er bzw. sein Krieg heute am Zerfall des Landes
schuld seien. Den Gipfel der Absurdität erreicht er mit der Behauptung, die
Ursache der Gewalt sei der Mangel des Westen an energischer Entschlossenheit, Assad in
Syrien zu stürzen. Der Diener Ihrer Majestät beschuldigt auch die
Regierung Maliki und verschweigt geflissentlich, daß die irakische Politik seit
2003 weitestgehend von den Anglo-Amerikanern diktiert wird. Dabei
war das Ziel niemals politische und wirtschaftliche Stabilität. Heute
erklärt der geistige Vater des Irakkriegs, man müsse einen Krieg gegen ›islamistischen Extremismus‹ führen, aber weder Saddam Hussein noch
Baschar Assad waren jemals ›islamistische
Extremisten‹. Der einzige Ausweg ist
ein Ende der anglo-amerikanischen ›Regimewechsel‹-Politik und ein politischer Dialog
mit den lokalen Gruppen und ihren Unterstützern in der Region, die Großmächte,
vorrangig die USA und Rußland, mit einbezogen.« Gleichzeitig
müßte dies das Einstellen jeglicher saudischer,
britischer und amerikanischer Hilfe in Form von Geld, Waffen und Propaganda für
die Terrorgruppen in Syrien und Irak bedeuten.
[8]
»Saddam
Hussein hatte sicher recht«, hält Margolis fest, »als er voraussagte, daß Amerikas Einmarsch in den Irak die ›Mutter aller Schlachten‹ werden würde. 11 Jahre danach geht
sie weiter. Vor dem unerbittlichen Vormarsch der Kämpfer des ISIS scheiterten
jetzt 2 Divisionen der irakischen Regierungsarmee, 30.000 Mann, die Marionettenarmee,
die 10 Jahre lang von der USA ausgebildet und ausgestattet worden war, was
annähernd 14 Milliarden $ verschlungen hat. Sobald die Vereinigten Staaten einen
Herausforderer niederschlagen, der ihre Beherrschung des Mittleren Ostens
infrage stellt, erhebt sich ein neuer.«
Wenigstens
haben sich Steinmeier und Davutoglu am 20. Juni vorerst gemeinsam gegen eine
westliche Intervention im Irak ausgesprochen. Bei seinem Besuch in Istanbul
erklärte Steinmeier, die einzige Lösung im Irak sei eine neue Regierung unter
Beteiligung von Schiiten, Sunniten und Kurden, wobei die Kurden de facto jedoch
kaum etwas mit dem Zentralstaat zu tun haben wollen.
[1] Vortrag von Prof. Dr. Robert Hickson auf dem
Kongress ›Mut zur Ethik‹ vom 30. 8. bis 1. 9.2002 in
Feldkirch/Vorarlberg; ›Täuschungsstrategien
- Zum Krieg, in dem wir uns bereits befinden, und zu dem, der uns
wahrscheinlich bevorsteht: Strategische und moralische Überlegungen eines US?Militärs auf längere Sicht‹
[2] http://antikrieg.com/aktuell/2014_06_14_sauhaufen.htm 14. 6. 14
Der
allmächtige Sauhaufen im Irak - Von Eric S. Margolis
[3] http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58604 22. 5. 13
Das Ende künstlicher Grenzen
[4] http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58891 16. 6. 14
Vormarsch auf Bagdad
[5] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/irak-kurden-sichern-sich-oelgebiete-13002424.html 21. 6. 14
Markus Bickel
[6] http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/geostrategie/tyler-durden/saudi-arabischer-voelkermord-im-irak-.html 18. 6. 14
Saudi-arabischer »Völkermord« im Irak?
Tyler Durden
[7] Strategic Alert Jahrgang 27, Nr. 23/24 vom
11. Juni 2014
[8] http://www.bueso.de/node/7428 17.
6. 14 Spirale religiöser Gewalt im Nahen Osten: Tony Blair muß endlich hinter
Gitter!
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