EU-Reformvertrag: Was zahlreiche Regierende und EU-Befürworter nicht wahrhaben wollen

Georg Escher - »Dann ist Deutschland doch keine Demokratie mehr« Eine Verfassungsklage des Nürnberger Staatsrechtlers Karl Albrecht Schachtschneider blockiert die Ratifizierung des EU-Reformvertrags - Wenn die 19 Staaten aufgeführt werden, die diesen inzwischen ratifiziert haben, wird Deutschland regelmässig dazugezählt [1]. Ganz richtig ist das nicht: Bundestag und Bundesrat haben zwar zugestimmt. Doch noch fehlt die Unterschrift von Bundespräsident Horst Köhler. Das wiederum hat mit einer Verfassungsklage zu tun, die Schachtschneider eingereicht hat. Um grosse Worte ist dieser nicht verlegen. Wenn der Vertrag von Lissabon in Kraft trete, »dann ist Deutschland keine Demokratie mehr«, sagt der emeritierte Professor. Sogar den Begriff »Ermächtigungsgesetz« scheut er nicht. Noch aber gibt er sich optimistisch, denn er sei sich sicher, dass die EU-Reform »in Karlsruhe scheitern wird«.

Der 67-Jährige hat Erfahrung mit Klagen resp. Verfassungsbeschwerden vor dem höchsten deutschen Gericht. Am bekanntesten war seine mit anderen eingereichte Klage gegen die Einführung des Euro. Die neue Gemeinschaftswährung sei »schlicht nicht lebensfähig«, hiess es damals. Diese Einschätzung erwies sich zwar nicht als richtig. Doch die 328 Seiten dicke Klageschrift gegen den Lissabon-Vertrag, die Schachtschneider im Auftrag des Bundestagsabgeordneten der CSU, Peter Gauweiler, eingereicht hat, nimmt niemand auf die leichte Schulter. Auch Mitglieder der Linken sowie der kleinen Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) haben geklagt.
 
Schweres Geschütz
Der Ordinarius fährt schweres Geschütz auf. Er kritisiert erhebliche Demokratiemängel am EU-Vertrag. Dass das Europa-Parlament dadurch künftig wesentlich gestärkt werden soll, kann diese Defizite aus seiner Sicht nicht wettmachen. Das fange schon damit an, dass es kein wirkliches Parlament sei, »weil es kein europäisches Volk gibt«. Inakzeptabel findet der Professor zudem die extrem ungleiche Stimmengewichtung. So soll das kleine Malta mit seinen 40’0000 Einwohnern künftig sechs Abgeordnete nach Brüssel entsenden. Damit hätten die Malteser ein um 1200 % höheres Stimmengewicht als die 82 Millionen Deutschen, die künftig 96 Abgeordnete stellen. Schachtschneiders Haupteinwand ist jedoch das sogenannte »vereinfachte Änderungsverfahren«. Dieses gebe dem Europäischen Rat - also den Staats- und Regierungschefs - die Möglichkeit, Änderungen am EU-Vertrag vorzunehmen, ohne dass ein nationales Parlament dies verhindern könne. Deswegen der Vorwurf, Deutschland wäre dann keine Demokratie mehr. Die Bundesregierung gibt sich bisher unerschrocken. Der EU-Vertrag sei gründlichst auf verfassungsrechtliche Verträglichkeit geprüft worden, beharrt der Nürnberger Europa-Staatsminister Günter Gloser (SPD). Auch Schachtschneiders Hauptargument widerspricht er vehement. Schon bevor die Staats- und Regierungschefs das vereinfachte Änderungsverfahren anwenden wollten, sagt er, müssten die nationalen Parlamente (in Deutschland Bundestag und Bundesrat) davon unterrichtet werden. Wenn auch nur ein Land Nein sage, »tritt die Änderung nicht in Kraft«. Schachtschneider, der sich als »kritischer Europäer«, aber keineswegs als Europa-Gegner versteht, bestreitet auch dies. Die Parlamente würden nur angehört, könnten aber nichts verhindern. Nicht zuletzt um diesen Punkt wird es in Karlsruhe gehen.
 
Der Zeitplan wackelt
Gauweiler und Schachtschneider hatten bereits Klage gegen die EU-Verfassung, den Vorgänger des EU-Vertrags, eingereicht. Wegen der gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005 hatten die Karlsruher Richter die Klage jedoch für erledigt gehalten. Nun haben sie signalisiert, dass sie mit Hochdruck an einer Entscheidung arbeiten. Es bleibt nicht viel Zeit. Eigentlich sollte der EU-Reformvertrag bis Ende 2008 ratifiziert sein. Für die Wahl des neuen EU-Parlaments 2009 müssen nämlich überall neue Wahlgesetze geschrieben werden. Dieser Zeitplan wackelt nun bedenklich.
 
Anmerkung politonline d.a. Die als totales Demokratiedefizit zu betrachtenden Mängel des neuen Vertrags sind bereits in zahlreichen auf politonline veröffentlichten Beiträgen aufgezeigt worden. An dem Passus, dass Änderungen am EU-Vertragstext nicht in Kraft träten, wenn auch nur ein Land Nein sage, sind erhebliche Zweifel anzumelden, heisst es doch in Brüssel allein schon zum Vertrag selbst, dass dieser auch dann in Kraft träte, wenn er von einigen Parlamenten nicht ratifiziert würde. Diese Einstellung deutet darauf hin, dass bei Änderungen durchaus Mittel und Wege gefunden werden könnten, um die mit Beginn der Vertragseintretung weitgehend ausgehebelten nationalen Parlamente jeweils ganz auszuschalten. Für ein in unseren Augen nicht vorhandenes Verantwortungsgefühl der BRD-Abgeordneten spricht der Fakt, dass diese den Vertrag bis auf ganz wenige Ausnahmen zuvor gar nicht gelesen hatten. Was das von Prof. Schachtschneider genannte Ermächtigungsgesetz betrifft, so hat der aus der CDU ausgetretene Henry Nitzsche, der zu den nur 58 Bundestagsabgeordneten zählt, die die Unterzeichnung ablehnten, dieses mit dem am 24. 3. 1933 von Hitler verkündeten Ermächtigungsgesetz verglichen. Hierzu führt Professor Schachtschneider folgendes aus 2: »Der Abgeordnete Nitzsche hat recht: Der Vertrag von Lissabon beraubt Deutschland der Grundlagen seiner existentiellen Staatlichkeit. Bundestag,  Bundesregierung und Bundesrat sind nicht befugt, einen solchen Schritt zu tun. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus - dieses demokratische Fundamentalprinzip schafft der Vertrag von Lissabon weitestgehend ab. Was also ist das anderes als ein Umsturz unserer verfassungsmässigen Ordnung? Zudem: Wenn Deutschland seine existentielle Staatlichkeit aufgibt und politisch für sein Schicksal nur noch sehr begrenzt - im Rahmen der Union - verantwortlich ist, dann ist die politische Freiheit des Bürgers, die das Grundgesetz verfasst hat, ebenso verletzt wie das Recht des deutschen Bürgers auf substantielle Vertretung durch den Deutschen Bundestag. Wenn der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt, ist Deutschland keine Demokratie mehr, kein Rechtsstaat mehr, kein Sozialstaat mehr, sondern Teil einer Region der globalen Rechtlosigkeit. Daraus ergibt sich, dass wir in eine Widerstandslage geraten. Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen - so heisst es im Artikel 20 Absatz 4 unseres Grundgesetzes - haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Diese andere Abhilfe suchen wir in Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht.« Mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags bestünde auch für Europa die Struktur, massivste Sparprogramme, aber gleichzeitig  Militäreinsätze in der ganzen Welt durchzusetzen, wogegen die einzelnen Mitgliedstaaten kein Vetorecht mehr hätten. Laut einer Meldung der englischen Tageszeitung The Independent vom 14. 06. 08 gaben einige Irinnen als Grund für die Ablehnung an, sie befürchteten, dass ihre Kinder in weltweite Kriege geschickt würden.
 
Wie Prof. Schachtschneider in einem Interview mit der Jungen Freiheit Ende Mai erklärte, setzen viele, sehr viele Deutsche und auch viele andere Europäer auf unsere Verfassungsklage gegen den Vertrag von Lissabon. »Ich bin kein Traumtänzer und erwarte nicht, dass das Zustimmungsgesetz für nichtig erklärt wird,« so Schachtschneider ferner,  »aber wir werden bedeutsame Änderungen des Vertragswerkes erreichen. Als ich vor gut fünfzehn Jahren namens Manfred Brunners gegen den Vertrag von Maastricht geklagt habe, ist es gelungen, in Karlsruhe ein neues Grundrecht durchzusetzen: nämlich das Recht des Bürgers aus Artikel 38, Absatz 1 des Grundgesetzes auf substantielle Vertretung durch den Deutschen Bundestag. Das war keineswegs alles. Wir haben den Vertrag damals ganz wesentlich entschärfen können. Insbesondere wurde einer Ermächtigung des Europäischen Rates, die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu ändern und auch europäische Steuern einzuführen, die Wirkung genommen. Beide Ermächtigungen stehen erneut im Vertrag von Lissabon.« »Ich bin kein Gegner Europas und kämpfe für die Werte, für die es steht, insbesondere für die Demokratie. Deshalb bin ich gegen den Vertrag von Lissabon«, sagt Schachtschneider. »Die EU dieses Vertrages schadet einem europäischen Europa. Sie schafft einen rechtlosen Grossstaat. Darüber sollte auch in unserem Land gesprochen werden. In Österreich etwa unterzieht die Presse, vor allem die Kronenzeitung, das Boulevardblatt mit der grossen Auflage, den Lissabon-Vertrag deutlicher Kritik.« Auch das, was Schachtschneider hinsichtlich der Rolle der Medien erklärt, kann nicht oft genug wiederholt werden: »Fast alle anderen Medien [die Junge Freiheit ist hier ausgenommen] in Deutschland unterstützen ohne nähere Erörterung die Lissabon-Politik. In Deutschland gibt es keine hinreichende Medienpluralität. Unsere Medien konzentrieren sich in der Hand weniger Verleger, die wiederum wirtschaftlich in hohem Masse von der grossen Wirtschaft, die zu den Profiteuren dieser Politik gehört, abhängig sind
 
»Lissabon«, schreibt Michael Paulwitz 3 »treibt auf die Spitze, was schon in Maastricht entscheidend beschleunigt wurde: die Abgabe eines Grossteils der nationalstaatlichen Entscheidungsfreiheit an die EU. In diesem undemokratisch verfassten Überstaat haben die Völker nichts mehr zu sagen, weil sie dessen Exekutive nicht abwählen können. Das Grundgesetz wird zur Regionalfolklore herabgestuft, nationale Wahlen werden zur Farce. Egal, wen die Deutschen wählen, einen Politikwechsel können sie in Kernbereichen nicht mehr erzwingen, weil die Richtlinien der Politik von einer Instanz vorgegeben werden, die sie nicht mehr kontrollieren können, und weil die Masse der Gesetze nicht mehr in den Parlamenten gemacht wird, sondern als umzusetzende Richtlinie von der europäischen Exekutive kommt. »Die Gründe für die nahezu einmütige Kollaboration der politischen Klasse bei diesem Prozess« so Paulwitz ferner, »mag man zum einen in der Ignoranz und Inkompetenz eines Grossteils der Abgeordneten und Verantwortungsträger suchen, die in betriebsblindem Parteienegoismus die Tragweite ihrer Entscheidungen nicht übersehen können oder wollen. Zum zweiten in der Vorliebe für das von Herzog kritisierte Spiel über Bande: Statt unbequeme Vorhaben im regulären Gesetzgebungsverfahren zur Diskussion zu stellen, kungelt man als Minister oder Regierungschef lieber in Brüssel, von wo das Gewünschte als bindende Weisung wieder zurückkommt.«
 
Es bleibt folglich zu hoffen, dass der Vertrag nicht wie vorgesehen am 1. Januar 2009 in Kraft treten kann, um der Umwandlung Europas in eine oligarchische und imperiale Diktatur zu entgehen. Die Vielfalt der Nationen und ihre unterschiedlichen Kulturen und Interessen, schreibt Strategic Alert am 19. Juni, bedeuten eine Vielfalt, die wir nicht mittels eines Vertragswerks glattbügeln, sondern über die wir uns freuen sollten. Eine Einheit soll nicht durch supranationale Strukturen geschaffen werden, sondern indem gleichberechtigte, souveräne Republiken sich für die gemeinsamen Ziele der Menschheit einsetzen: in einem Europa der souveränen Vaterländer.
 
1 Quelle: Nürnberger Nachrichten vom 24. 6. 08; der deutsche Staatsrechtlehrer Prof. Dr. iur. Karl Albrecht Schachtschneider ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg
http://www.nn-online.de/artikel.asp?art=837915&kat=3&man=3
2 Junge Freiheit 22/08 23 Das ist ein Umsturz! Der Lissabon-Vertrag beseitigt de facto das Grundgesetz. Laut Artikel 20 gilt nun das Recht auf Widerstand Von Moritz Schwarz
3 Junge Freiheit 22/08 23. Mai 08 Der kalte Putsch - Brüsseler Rätesystem: Der Vertrag von Lissabon könnte der letzte Sargnagel für das Grundgesetz sein - Von Michael Paulwitz
Alle Hervorhebungen durch politonline
Siehe auch Abschaffung der Nationalstaaten auf http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=881