Reformvertrag EU: Achtung Hochverrat! Von Anne-Marie Le Pourhiet

Der Entwurf des europäischen «Reformvertrags» wurde am 5. Oktober 2007 veröffentlicht. Bei der Lektüre dieses Textes wird bald verständlich, weshalb seine Verfasser auf die Ausdrücke «Minivertrag» oder «vereinfachter Vertrag» verzichtet haben, da er mit seinen 12 Protokollen und seinen 25 unterschiedlichen Erklärungen nicht weniger als 256 Seiten umfasst und man in Sachen redaktioneller Komplexität kaum Schlimmeres anrichten können hätte

In dem Ausmass, in dem sich der Text in Wirklichkeit nur darauf beschränkt, Dreiviertel der Bestimmungen des Vertrags über eine Verfassung für Europa (VVE) in einer anderen Form abzuschreiben, wäre es bestimmt einfacher gewesen, den ursprünglichen Text zu übernehmen und daraus einzig die nun weggelassenen staatstypischen Symbole zu streichen. Man versteht jedoch, dass diese Möglichkeit ausgeschlossen wurde, denn sie hätte auf allzu schreiende Art und Weise zum Ausdruck gebracht, dass man sich offen über den Willen des französischen und niederländischen Volkes hinwegsetzt. Die Verfasser haben es somit vorgezogen, einen komplizierten Text zusammenzumixen, der einerseits den Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag, Vertrag von Maastricht, 1992) und andererseits den Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag, Vertrag von Rom, 1957) abändert, Dieser wird in Zukunft «Vertrag über das Funktionieren der Union» heissen.

Erdrückende Mehrheit der Europäer will ein Referendum
«In Spanien, in Deutschland, in Grossbritannien, in Italien und in Frankreich scheint man sich dieses Referendum über den neuen Vertrag herbeizusehnen. Tatsächlich offenbart eine Umfrage von Harris Interactive, die von der ‹Financial Times› veröffentlicht wurde und die von den französischen Medien äusserst zurückhaltend behandelt wurde, dass 76 % der Deutschen, 75 % der Briten, 72 % der Italiener, 65 % der Spanier und 63 % der Franzosen über den Vertrag, der die europäische Verfassung ersetzen soll, ein Referendum wünschen.» Der Betrug wird durch die Grundrechtscharta, die nicht mehr in den Verträgen eingeschlossen ist, deutlich. Diese erscheint in Artikel 6 des Textes wie folgt: «Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze aus der Charta der Grundrechte vom 7. Dezember 2000 an, die denselben juristischen Wert wie die Verträge hat». Ein Vertrag behauptet also, dass eine Charta, die nicht Teil von ihm ist, denselben juristischen Wert hat wie die Verträge, die er verändert. Man ist noch nie einem so verdrehten juristischen Vorgehen begegnet, nicht einmal in den kürzlich erfolgten Überarbeitungen der französischen Verfassung, die auf höchster normativer Ebene das Eindringen des «schlechten Rechts» (le «maldroit») in unser Land offenbaren. Das Protokoll Nr. 7, das jedoch vorsieht, dass die Charta weder dem Europäischen Gerichtshof noch der britischen und polnischen Rechtsprechung erlaubt, diejenige Anwendung von nationalem Recht dieser beiden Länder, die als unvereinbar mit jener Charta beurteilt wurde, auszuschliessen, ruft ein Herzstechen hervor. Alles verläuft so, wie wenn das «Nein» der Franzosen zwar anderen dienen würde, aber nicht ihnen. Welche Demütigung!

EU-Verfassung durch die Hintertür
Hier finden Sie eine Auswahl von Äusserungen von hohen politischen Verantwortlichen aus verschiedenen Ländern Europas, die meist freudig bestätigen, dass die von den Franzosen und Niederländern abgelehnte europäische Verfassung mit dem «Reformvertrag», der Mitte Oktober in Lissabon verabschiedet wurde, «gerettet» wurde. Deutschland: «Die Substanz der Verfassung wurde erhalten. Das ist eine Tatsache», so Angela Merkel, Bundeskanzlerin der BRD [The Daily Telegraph vom 29. Juni 2007]. Irland: «90 % [der Verfassung] sind noch da. […] Diese Änderungen haben nichts Spektakuläres am Vertrag von 2004 verändert», so Bertie Ahern, Premierminister der Republik Irland [Irish Independent vom 24. Juni 2007]. Frankreich: «Ein letzter Trick besteht darin, einen Teil der Innovationen des Verfassungsvertrages beibehalten zu wollen und diese zu tarnen, indem man sie in mehrere Texte aufsplittert. Die innovativsten Bestimmungen würden so zu einfachen Ergänzungen zu den Verträgen von Maastricht und Nizza. Die technischen Verbesserungen würden in einem farblos und schmerzlos gewordenen Vertrag neu zusammengestellt. Die Gesamtheit dieser Texte würde den Parlamenten überwiesen, die sich in getrennten Abstimmungen dazu äussern könnten. Auf diese Weise würde die öffentliche Meinung, ohne es zu wissen, dazu gebracht, die neuen Bestimmungen anzunehmen, die man nicht wagt, ihr ‹direkt› vorzulegen», so

Valéry Giscard d’Estaing [Le Monde vom 14. Juni 2007 und Sunday Telegraph vom 1. Juli 2007] Italien: «Sie haben beschlossen, dass das Dokument unlesbar sein soll. Wenn es unlesbar ist, ist es nicht verfassungsgemäss, das war die Idee dahinter… Wenn es Ihnen gelingt, den Text von Anfang an zu verstehen, dann gibt er auch etwas für ein Referendum her, da dies bedeuten würde, dass es etwas Neues darin gibt», so Giuliano Amato, ehemaliger Präsident des Italienischen Parlaments; Versammlung des Center for European Reform am 12. Juli 2007

Der «Reformvertrag» modifiziert zwar den Verfassungsvertrag, der 2005 abgelehnt wurde, da er eine Reihe expliziter Bestimmungen daraus entfernt und Polen und Grossbritannien die Einhaltung gewisser Verpflichtungen erlässt. Es ist aber eine Veränderung durch einfache Reduktion, so dass nun geplant ist, dem französischen Parlament einen Teilvertrag anstelle des ursprünglichen vollständigen Vertrages zur Ratifizierung vorzulegen. Damit stellt sich eine grundsätzliche Frage: Wie kann der französische Präsident für sich alleine beschliessen, den grösseren Teil der Bestimmungen des ursprünglichen Vertrags auf parlamentarischem Weg ratifizieren zu lassen, mit der Begründung, dass diese Bestimmungen «nicht auf Widerspruch gestossen seien», obwohl das französische Volk - juristisch gesehen - den Vertrag als Ganzes abgelehnt hat? Während der Abstimmungskampagne konnte jedermann feststellen, dass alle Bestimmungen der Kritik unterlagen: Die einen konzentrierten sich mehr auf die Grundrechtscharta und die Politik der Gemeinschaft, die anderen auf die Kompetenzübertragungen, den Übergang von der Einstimmigkeit zum Mehrheitsvotum sowie das Demokratiedefizit, wieder andere störten sich an den staatstypischen Prinzipien und Symbolen. Man konnte vielleicht auch feststellen, dass das «Nein» von links eher eine Gefährdung des Wohlfahrtsstaates befürchtete und das «Nein» von rechts den Verlust des mit königlichen Rechten ausgestatteten Staates.  Sicher ist es unmöglich und unvorstellbar, das Gehirn jedes einzelnen Franzosen zu durchleuchten und zu behaupten, man könne dort Bestimmungen finden, die er abgelehnt, und andere, denen er zustimmt habe. Das Vorgehen des Präsidenten jedoch, der behauptet, er alleine könne den Willen des französischen Volkes erkennen, ist völlig willkürlich und grenzt an Diktatur. Wenn man weiss, dass die Verfassung Kaliforniens vorsieht, dass eine durch Referendum angenommene Norm nur durch eine neue Volksabstimmung abgeschafft oder verändert werden kann und dass der italienische Verfassungsgerichtshof dasselbe Prinzip anwendet, so kann man über den Staatsstreich, der in Frankreich stattfindet, nur tief erschüttert sein. Wenn der Präsident der Überzeugung ist, dass die im Reformvertrag verbleibenden Bestimmungen Gegenstand einer impliziten Zustimmung der Franzosen waren, so muss er sich dessen versichern, indem er eine neue Volksabstimmung organisiert, um deren explizite Zustimmung zu erreichen.

Überstürzte Ratifizierung vor Weihnachten
«Fest entschlossen, jegliche Diskussion über grundsätzliche Fragen und im speziellen über die Frage des Referendums zu vermeiden, überstürzt Nicolas Sarkozy andauernd den Kalender für die Wiederbelebung des institutionellen europäischen Prozesses und hat angekündigt, dass Frankreich das ‹erste Land› sein werde, das schon vor Weihnachten, unmittelbar nach der definitiven Unterzeichnung am 13. Dezember den Vertrag ratifizieren werde. Man wird zuvor das französische Parlament als Kongress einberufen müssen, um die französische Verfassung, die zurzeit mit dem Lissabonner Vertrag unvereinbar ist, zu revidieren. Zehn Tage also nur, um die gesamte Prozedur durchzuführen, bei der auch das Parlament weder die Zeit (noch scheinbar die Lust) hat, darüber zu debattieren.» Wie soll man einen solchen Staatsstreich bezeichnen und sanktionieren? Der Text der sehr populären Verfassung von 1793 ging nicht zimperlich vor, als diese im Artikel 27 verfügte: «Jedes Individuum, das sich die Souveränität anmassen will, soll sogleich durch die freien Männer zum Tode verurteilt werden.» Da die Todesstrafe durch die französische Verfassung nun geächtet ist, muss man sich daran halten und eher den Artikel 35 des Textes von 1793 heranziehen, welcher feierlich festhält: «Wenn die Regierung die Rechte des Volkes verletzt, ist für das Volk und jeden Teil des Volkes der Aufstand das heiligste seiner Rechte und die unerlässlichste seiner Pflichten.» Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, die in die Präambel der heutigen Verfassung einging, ordnet auch den Widerstand gegen Unterdrückung unter die natürlichen und unverjährbaren Rechte des Menschen ein.

71 % der Franzosen wollen ein Referendum
Eine repräsentative Umfrage, die das IFOP für ‹Paris Match› durchgeführt hat, kommt zu dem Schluss, dass 71 % der befragten Personen eine Volksabstimmung über den Lissabonner Vertrag, der die 2005 abgelehnte europäische Verfassung erneuert, befürworten; 28 % wünschen dies nicht. Von dieser erdrückenden Mehrheit, die ein Referendum will, sind 76 % Anhänger der Linken und 66 % Anhänger der Rechten. Unser Verfassungstext hält ausserdem fest, dass das Prinzip der Republik die «Regierung durch das Volk und für das Volk» ist. Deshalb wird der Präsident durch eine allgemeine, direkte Volkswahl bestimmt und hat den Auftrag, über die Achtung der Verfassung zu wachen, das ordnungsgemässe Funktionieren der Staatsorgane und des Staates zu sichern und die nationale Unabhängigkeit zu garantieren. Der Begriff, der einem als erstes in den Sinn kommt, um die Missachtung des Volkswillens durch den Präsidenten zu charakterisieren, ist «Hochverrat». Leider hat im Februar 2007 eine Revision der Bestimmungen über die strafrechtliche Verantwortung des Staatsoberhauptes den antiken und aussagekräftigen Begriff «Hochverrat» durch den faden Ausdruck «Versäumnisse gegenüber seinen Pflichten, die mit der Ausübung seines Mandats offensichtlich unvereinbar sind» ersetzt. Da fehlen offensichtlich Schwung und Kraft, aber man wird sich damit abfinden müssen. Den Parlamentariern jedoch schlagen wir vor, sie sollten - anstatt eine Pflichtverletzung zu begehen, indem sie den Vertrag ratifizieren, den ihre Wählerinnen und Wähler abgelehnt haben - sich als Hoher Gerichtshof zusammenfinden, um den Schuldigen zu bestrafen.

Anne-Marie Le Pourhiet ist Professorin für öffentliches Recht  an der Universität Rennes in Frankreich. Quelle: www.observatoiredeleurope.com vom 19. Oktober 2007, auszugsweise wiedergegeben; in Zeit-Fragen Nr. 45 vom 12. 11. 2007 veröffentlicht.
Siehe auch auch EU Verfassung  vom 10.02.2007 und darin ‚Ein Plädoyer für ein bürgernahes Europa’ von Roman Herzog und Lüder Gerken auf politonline