Institut Felsenegg - Gefahren der absoluten Volkssouveränität?

1. Vorstellung des Instituts Felsenegg. Das Institut Felsenegg wurde 1998 durch den Unterzeichneten als Institut für Gedankenfreiheit gegründet. Seine Aktivität bestand zunächst in Stellungnahmen zu aktuellen politischen Fragen ausserhalb des Parteienspektrums. Interessierte Personen erhielten zu diesem Zweck die sogenannten Felseneggbriefe. Ein- oder zweimal pro Jahr findet nach wie vor eine Zusammenkunft mit Vortrag und Mittagessen statt (Felseneggessen). Da die politischen Aufgaben des Instituts von der 2003 gegründeten Bewegung für Unabhängigkeit übernommen wurden, hat sich das Institut Felsenegg mit Beratung und Hilfeleistungen der Pflege des Verfassungs- und des Verfahrensrechts im praktischen Bereich zugewendet. Das Institut Felsenegg arbeitet insofern unentgeltlich und ohne Aufträge. Für Kurse werden die anfallenden Kosten auf die Teilnehmenden verteilt.

2. Stellungnahme zu einem Zeitungsartikel
Die These, die  von  Professor Thomas Cottier in der Neuen Zürcher Zeitung unter dem Titel »Gefahren der absoluten Volkssouveränität« vertritt, ist zumindest für Schweizer Bürgerinnen und Bürger nicht haltbar. Schon die Einleitung des Artikels geht von einer verfehlten  Hypothese aus, nämlich davon, dass wir am Bundesfeiertag in Erinnerung riefen, dass das Volk souverän sei und dass alle Staatsgewalt von ihm ausgehe. Der diesjährige Bundesfeiertag sah anders aus. Auf dem Rütli versammelten sich Personen, die bezüglich ihrer politischen Absichten einen Test bestanden hatten, der von  Privaten durchgeführt wurde, denen dazu jede Legitimation fehlte. Die eine Festrednerin benutzte einen Weg, der gewöhnlichen Leuten von einer nicht bekannten Instanz verboten worden war und der Schreibende wurde mit zwei Freunden am Betreten der im Eigentum der Schweizerischen Eidgenossenschaft befindlichen Rütliwiese gewaltsam gehindert, weil von einer ebensolchen unbekannten Instanz in Missbrauch ihrer amtlichen Stellung der Besatzung des  Passagierschiffs, auf dem sie sich mit gültigen Fahrausweisen befanden, das fahrplanmässige Anlegen am Rütli verboten worden war. Ist das, um mit Thomas Cottier zu sprechen, Gewaltentarierung?
 
Wenn Thomas Cottier sodann von einer »überwundenen Auffassung absoluter Souveränität« spricht, so ist er danach zu fragen, ob im Vorfeld der sogenannten Verfassungsreform von 1999 irgend jemand sich dahin geäussert habe, die Vorstellung von der absoluten Souveränität des Volkes sei aufzugeben. Im Gegenteil: die Instrumente des obligatorischen oder fakultativen Referendums und der Volksinitiative wurden beibehalten und sie sind durch Volksabstimmung vom 8. Februar 2003 noch erweitert worden. Der Bundesrat sagte in seinen Erläuterungen dazu (S. 5 und  7), die Volksrechte würden gezielt verstärkt.  Nach Abs. 4 und  5 des neuen Art. 139a BV hat das Volk im Zusammenhang mit der neuen Volksinitiative das letzte Wort. Was soll da überwunden worden sein?
 
Was der Autor des Artikels verfassungshistorisch ausführt, ist zwar interessant, für die Schweiz jedoch belanglos, weil es für uns nicht um den Schutz des abstrakten Gebildes Verfassungsstaat geht, sondern um die Einhaltung der Verfassungsnormen, die Volk und Stände mit jahrzehntelanger Erfahrung als verbindlich bezeichnet haben. Die zitierten Beispiele für die Problematik von Volksentscheiden sind nicht Argumente gegen die Volkssouveränität, sondern solche für differenzierte Anwendung derselben, etwa im Zusammenhang mit der Begründungspflicht. Die Begründung eines Urnenentscheides über Einbürgerung ist nicht möglich, eines Gemeindeversammlungs- oder Parlamentsentscheides dagegen schon. Mangelnde Aktenkenntnis kommt auch in Behörden vor, in denen man sie nicht vermuten würde. Wenn Thomas Cottier das Volk in Gemeinden, Kantonen und Bund als »Organ neben Parlament, Regierung, Verwaltung und Gerichten« bezeichnet, dem die Verfassung gewisse Aufgaben und Entscheidungsbefugnisse zuweise, so übersieht er, dass »die Verfassung« nicht vom Himmel gefallen ist, sondern  von niemand anderem erlassen wurde als von den Stimmberechtigten in Bund und Kantonen. So heisst es in der Präambel der Verfassung des Kantons Zürich vom 27. Februar 2005: Wir, das Volk des Kantons Zürich, ..... geben uns die folgende Verfassung. Die Worte »wir geben uns« sind Ausdruck gerade des vollen Souveränitätsbewusstseins, das sich mittels der Verfassung auch Schranken aufzuerlegen weiss, indem es Kompetenzen delegiert, das jedoch die »Aufgaben und Entscheidungsbefugnisse« in voller Verantwortung für den demokratischen Rechtsstaat selber zuteilt. Da gibt es nichts, das zu überwinden gewesen wäre. Hier noch ein praktischer Hinweis: Die im Artikel angeführten staatlichen Organe haben in der direktdemokratischen Schweiz alle eine Amtsdauer. Das Schweizervolk hat keine Amtsdauer. Noch ein Wort zum Völkerrecht. Art. 5 Abs. 4 BV schreibt vor, dass Bund und Kantine das Völkerrecht beachten, Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber die Erinnerung daran konnte nicht schaden. Noch nie habe ich jedoch gelesen, Völkerrecht diene dazu, die nationale Souveränität zu tangieren. Dass die EMRK Menschen vor Übergriffen der Staatsgewalt schützt, bedeutet nicht, dass sich das Völkerrecht um die Abläufe der direkten Demokratie oder um eine Staatsstruktur generell zu kümmern bräuchte. Nach Art. 191 BV sind Bundesgesetze und Völkerrecht für das Bundsgericht und für die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend. Wenn das eine dem andern widerspricht, dann können nicht beide massgebend sein. Das ist jedoch nicht eine Frage der Volkssouveränität.
 
Zurück zum Bundesfeiertag auf dem Rütli: Nicht von der Volkssouveränität droht uns Gefahr, sondern von der Gleichgültigkeit, manchmal sogar von der Bösartigkeit selbst hoher Funktionärinnen und Funktionäre. Gewisse Artikel unserer  Bundesverfassung  (auch hier sagt die Präambel: Das Schweizervolk und die Kantone ... geben sich folgende Verfassung) werden nur noch dann zitiert, wenn es den Machthabern (und solche gibt es trotz Volkssouveränität) ins Konzept passt.
 
Hans Ulrich Walder, August 2007
 
Institut Felsenegg
Beratungen sowie Kurse zu Verfassungs- und Verfahrensfragen
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