Rückblick auf die Junisession des Parlaments - Öffnet alle Schleusen- von Nationalrat Ulrich Schlüer, Flaach ZH

Das Sessionsmotto formulierte - wohl unvorsichtig ungewollt - Bundesrat Hans-Rudolf Merz. Als «Frohbotschaft» kündete er von konjunkturbedingt sprudelnden Steuereinnahmen. Das entlaste den noch immer mit 130 Milliarden verschuldeten Bund von der Verpflichtung, weitere Sparprogramme zu planen. Niemand müsse also in naher und mittlerer Zukunft mit sparbedingten Einbussen rechnen.

Steuersenkungen als Antwort

Die Wirkung der Frohbotschaft von Hans-Rudolf Merz war verheerend: Vor allem die Linke, dabei nachhaltig von notorisch nach links schielenden «Mitte-Politikern» unterstützt, interpretierte Merzens Botschaft sofort als Signal zur «Öffnung aller Schleusen», zu massloser neuer Verschwendung. Keine Spur von «antizyklischer Disziplin», die in Überschusszeiten konsequentes Abtragen der 130 Milliarden-Schuld des Bundes verlangen würde. Zu lange habe man sich einschränken müssen, jetzt wolle man endlich wieder Geld ausgeben. Möglichst viel, möglichst rasch. Après nous le déluge. Gegensteuer gab einzig die SVP: Wenn angeblich «zuviel Geld» da ist, dann sind, statt eine erneute Verschwendung zuzulassen, Steuersenkungen vorzunehmen. Das soll rasch durchgesetzt werden, nämlich bereits in einer Spezialsession im kommenden September. Ziel: Die Steuerzahler sollen vom Einnahmensegen profitieren, nicht die Verschwender. Mit ihren mehr als fünfzig Fraktionsmitgliedern konnte die SVP dieses Vorhaben «Spezialsession» durchsetzen. Diese findet im kommenden September statt.

Neat im Sumpf

Die glanzvolle Eröffnung des Lötschbergs vertuscht die Wahrheit: Die Neat steckt im Sumpf. Im Grunde unbezahlbar, blockiert sie als Folge milliardenschwerer Kostenüberschreitungen andere, eher wichtigere Bahnprojekte. Und jetzt kommen noch die Italiener, die den erhofften Mehr-Güterverkehr in Chiasso nicht abnehmen wollen, weil es für diesen in der Agglomeration Mailand kein Durchkommen gebe. Trotzdem werden die Vorarbeiten an der Linie Bellinzona-Chiasso (mit dem zweiröhrigen Ceneri-Tunnel als nahrhaftestem Kostenverursacher) munter vorangetrieben. Allein dieser Abschnitt dürfte schliesslich rund zehn Milliarden verschlingen - doch möglicherweise wird er «für die Katz» gebaut. Dabei böte sich eine Alternative, die zehnmal weniger (!) kosten würde: Doppelspurausbau Bellinzona-Luino für die schweren Güterzüge ins oberitalienische Novara, den Güterzug-Knotenpunkt für ganz Norditalien. Der schweizerische Teil dieser Strecke wäre - was selbst Bundesrat Leuenberger zugibt - mit rund einer Milliarde zu erstellen. Aber Leuenberger gefällt diese Variante nicht. Er träumt vom prestigeträchtigen Doppeltunnel am Ceneri. Und führt das ganze Neat-Projekt damit in den finanziellen Morast. Klar ist: Soll die Neat nicht zum völligen Finanzdesaster verkommen, muss Leuenberger weg, zumindest müsste er das Verkehrsdepartement abgeben. Im Interesse des Steuerzahlers lieber schon heute als erst morgen.

Bundesrat Schmids Triumph

Er habe - triumphierte Bundesrat Samuel Schmid - schon in Flims vorausgesagt: Der Opposition gegen den Armee-Entwicklungsschritt 08/11 werde bald «die Luft ausgehen». Und jetzt, genau am 11. Juni, sei diese Voraussage mit dem Ja zu diesem Entwicklungsschritt Tatsache geworden. In der Stunde seines Triumphes blendete Bundesrat Schmid allerdings einen ganz bestimmten Sachverhalt - der nicht ganz nebensächlich ist - aus: Der angebliche Sieg mit dem Entwicklungsschritt kostete nämlich einen Preis. Schmid musste sich, um durchzudringen, mit jener Partei ins Bett legen, die nicht den geringsten Zweifel daran lässt, dass sie alles dafür tut, dass der Armee insgesamt möglichst bald «alle Luft ausgeht». Es war ja die SP, die - nachdem sie den Armee-Entwicklungsschritt im Herbst 2006 noch weitgehend geschlossen bekämpft hatte - durch ihr Umschwenken ins Ja-Lager die Rolle der Mehrheitsbeschafferin für Schmids Vorhaben eingenommen hat. Für ihren Schwenker forderte sie allerdings einen Tribut - einen sehr hohen Preis, den FDP, CVP und Schmid mit deutlicher Spitze gegen die SVP der SP und den Armeeabschaffern zu bezahlen bereit waren. Der Preis hiess: Verdoppelung der Durchdiener-Zahl, Verdoppelung der Auslandeinsätze und Verzicht auf Abgabe der Taschenmunition an eingeteilte Wehrmänner. Drei schwere Schläge gegen die Miliz-Armee. Wer nur mag darob triumphieren?

Samuel Schmid will in die Luft

Nach seinem Sieg mit dem Armee-Entwicklungsschritt fühlte sich Bundesrat Samuel Schmid bemüssigt, es seiner eigenen Partei, der SVP heimzuzahlen, dass sie bis zuletzt erbitterten Widerstand gegen diese Armeeabbau-Vorlage geleistet hatte. Kaum war das Fuder unter Dach, liess er Medienvertretern gegenüber verlauten, jetzt kämen rasch die Transportflugzeuge für Auslandeinsätze wieder aufs Tapet bzw. ins Rüstungsprogramm. Man könnte diesen etwas allzu durchsichtigen Vorstoss auch als etwas eigenartige, ja originelle Form der Rücktrittsankündigung auffassen. Schliesslich hat Schmid erst vor wenigen Monaten noch im Brustton der Überzeugung erklärt, während seiner Amtszeit werde ein erneuter Beschaffungsantrag für Transportflugzeuge nicht mehr erfolgen. Wenn er jetzt trotzdem kommt, dann wird zuvor also wohl die Ära Schmid zu Ende gehen. Oder will jemand dem Verteidigungsminister unterstellen, er habe es mit seinem Antragsverzicht gar nicht ehrlich gemeint?

Swissair: Schwamm drüber!

Unterdessen weiss die Öffentlichkeit: Die Fehlleistungen der Swissair-Verantwortlichen können mittels Strafrecht kaum geahndet werden. Das ist höchst unbefriedigend. Andererseits ist Tatsache, dass Bundesräte an wichtigsten Entscheiden rund um den Zusammenbruch der Swissair beteiligt waren. Entscheide, welche die Steuerzahler mehrere Milliarden Franken gekostet haben, ohne dass wirkliche Klarheit besteht, ob eine Rechtsgrundlage für die eingegangenen Finanzengagements überhaupt vorhanden war. Weil die strafrechtliche Verfolgung der Swissair-Verantwortlichen im Misserfolg endete, erneuerte die SVP-Fraktion im Bundeshaus ihre Forderung nach Einsetzung einer PUK, die alle Vorgänge auf politischer Ebene in Zusammenhang mit dem Swissair-Kollaps zu untersuchen hätte. Die PUK kommt nicht zustande. Der SVP-Antrag scheiterte am geschlossenen Widerstand von SP und FDP. Die SP will Bundesrat Leuenberger schützen. Die FDP den ihr nahestehenden, in den Swissair-Zusammenbruch verwickelten Zürcher Filz. So muss der um Milliarden geprellte Steuerzahler zur Kenntnis nehmen: Die Politvorgänge rund um das Swissair-Debakel sollen auf ewig im Dunkeln bleiben. Das «konstruktive Miteinander» von FDP und SP verhindert jede Aufklärung.

Eskapaden eines Parteipräsidenten

Weil die Menschen generell älter werden, gerät der sogenannte «Umwandlungssatz» der Zweiten Säule unter Druck. Mit diesem Umwandlungssatz wird die Jahresrente aus jenem Kapital bestimmt, das jeder im Rahmen der Zweiten Säule bis zum 65. Altersjahr angespart hat. Weil das Lebensalter höher wird, muss dieser Prozentsatz um einige Zehntelprozente gesenkt werden, damit das angesparte Kapital angesichts der höher gewordenen Lebenserwartung ausreicht. Andernfalls gerieten alle, vor allem alle öffentlichen Pensionskassen in Finanznot. Im Ständerat war eine solche Absenkung um 0,4 Prozentpunkte zu beschliessen. Weil zuvor kaum Opposition angemeldet war, kam es zur Panne: Bei ungenügender Präsenz wurde der Entscheid blockiert - dank linkem und von Teilen der CVP unterstütztem Husarenstreich. Der Rat reagierte mit dem Mittel, das ihm noch zur Verfügung stand: Er liess - wieder bei guter Besetzung - die Vorlage in der Gesamtabstimmung durchfallen. Damit ist diese nicht gestorben. Der Nationalrat kann in der Septembersession einfach neu damit beginnen - eine Eigenheit unseres Zweikammersystems. Das zu begreifen bekundete einer offensichtlich Mühe: FDP-Parteipräsident Fulvio Pelli. Er fuhr die FDP-Ständeräte mit harschen Worten an: Ihr Mitmachen bei der vorübergehenden Versenkung der verunglückten Vorlage widerspreche der «FDP-Art», die nach Lösungen, nicht nach Blockaden verlange . . .  Eine durch und durch unverständliche Stilübung im Rahmen eines nicht nachzuvollziehenden «neuen Kurses» der FDP. Würde die Vorlage so umgesetzt, wie sie dank dem merkwürdigen CVP-SP-Ad hoc-Bündnis im Ständerat eine (vorübergehende) Mehrheit fand, dann würde dies die Steuerzahler mehrere Milliarden kosten - in Form von Löchern, die in den Pensionskassen des Bundes, der SBB usw. aufgerissen würden. Ob «Augen zu und durch» als Politrezept wirklich so praktikabel ist, wie das dem FDP-Präsidenten Fulvio Pelli vorzuschweben scheint?

Quelle: Schweizerzeit vom 22. Juni 2006; Hervorhebungen durch politonline