Aufruf an alle Semiten - Von Debora Reich

Aus großer Liebe zu all meinen Schwestern, Brüdern, Cousins und Cousinen, Söhnen und Töchtern der großen semitischen Familie schreibe ich in dieser Stunde des Blutvergießens und der Verzweiflung: ich rufe euch auf, öffnet jetzt und heute eure Augen und Herzen und seht an, was direkt vor euren Augen verborgen worden ist.

In Palästina und Israel sind die uns zugeteilten Möglichkeiten nicht so kompliziert, wie uns Analytiker und Kommentatoren weismachen wollen. Unsere Optionen sind sehr einfach: entweder ohne Ende am Wettbewerb gegenseitiger Zerstörung teilnehmen, bis wir diese  vollkommen erreicht haben (und dabei einen großen Teil der restlichen Welt mit uns in den Abgrund reißen) oder von jetzt an an einem miteinander abgestimmten Zusammenleben, Zusammenaufbauen und gemeinsamen Fortschritt zu arbeiten (und dabei ein kostbares neues und soziales Paradigma für uns und die Menschheit zu schaffen). Freunde schlagen mit mir einen Weg aus unserem Dilemma vor. Ich will ihn hier so einfach wie möglich in meiner Art und Weise beschreiben.
 
Zunächst  möchte ich denen sagen, die sich der Gewalt, dem Kriegszustand, den Waffen verschrieben haben: Öffnet doch eure Augen! Euren Nachbar mit Gewalt zu unterdrücken, bedeutet, euren eigenen Enkelkindern ins Herz zu schießen - weil sich kein Volk auf ewig unterdrücken lässt. Wenn es sich wieder erhebt, werden die Kinder eurer Kinder den Preis dafür zahlen müssen. Genau so wahr, aber noch schwerer zu begreifen ist - wie legitim euer  Aufstand von unparteiischen Richtern auch betrachtet werden mag - dass die Unterdrückung eures Nachbarn, um ihn mit Gewalt loszuwerden, bedeutet, so zu werden wie er; und so wird sich die Gewaltspirale immer weiter drehen…..
 
Ein anderer Aspekt dieser schwierigen Sache ist kürzlich deutlich geworden: die ungewollten Folgen von Erfolg. Israel gelang es, eine Weltklasse-Militärmacht zu werden - doch was hat es damit erreicht? Dem bewaffneten Kampf  ist es gelungen, der palästinensischen Unabhängigkeitsbewegung eine Präsenz auf der Weltbühne zu verschaffen, gleichzeitig aber die Welt gegenüber den großartigen Dimensionen palästinensischer ziviler Ausdauer und  heroischer Bemühung um eine  konstruktive Staatenbildung blind zu machen - was wurde also erreicht?
 
Die exklusive Herrschaft
Lasst uns ruhig einmal unseren lang anhaltenden Versuch in Israel-Palästina näher betrachten, dieses Stückchen Land auf Kosten unserer Cousins zu unserem Land zu machen. Man könnte zu Recht behaupten, dies gehe bis in die  biblischen Zeiten von Abraham, Sarah und Hagar zurück. Man gewinnt also nicht viel, wenn man über 1967, 1948, 1929 oder 1882 oder das Mittelalter oder die Geburt Jesu als endgültige Bezugszeitpunkte redet. An anderer Stelle habe ich diesen Prozess ‚das Schälen einer Zwiebel’ genannt, denn das Analysieren  von aufeinander folgenden historischen Schichten, und zwar zeitlich rückwärts gewandt, ist immer nur mit Weinen verbunden. Zuletzt bleibt ein Haufen  Zwiebelschalen übrig und ein Ozean von Tränen, kaum etwas anderes. Nehmen wir endlich einen anderen Weg!
 
Gewähren wir manchen Leuten, dass sie eine leidenschaftliche Verbindung zu einem Stück Land haben; das ist natürlich und vielleicht universal. Aber nirgendwo ist geschrieben, dass diese Verbindung unbedingt mit Besitzrechten verbunden sein muss oder dass diese Verbindung exklusiv sein müsste oder sein könnte. Tatsächlich leben viele Kulturen eng mit dem Land verbunden, empfinden aber die Idee des Besitzes als lächerlich. Sie wissen, dass es unsere besondere Rolle ist, dem Land zu dienen, sein Verwalter zu sein. In der biblischen Geschichte von König Salomo und den beiden Frauen, die beide behaupteten, die Mutter desselben Kindes zu sein, bewies die wirkliche Mutter ihre größere Liebe nicht dadurch, dass sie an ihm festhielt, sondern dass sie es gehen ließ. Wenn man Olivenbäume einen nach dem anderen ausreißt, so ist dies, als würde man einem Baby die Fingernägel einzeln ausreißen. Wie können wir dann behaupten, dieses Land zu lieben. Wenn wir ein Restaurant oder eine Wohnung aus der Luft  bombardieren und nur ein einziges Kind dabei töten, was würde König Salomo über unsere Liebe zu den Kindern dieses Landes sagen? Wie kann jemand behaupten, dieses Land wirklich zu lieben, wenn man seine Liebe damit demonstriert, indem man es mit Kontrollpunkten stranguliert, es mit Gewalt  füllt und in Blut ertränkt?
 
Um aus dieser Falle herauszukommen, muss man erkennen, dass die enge Verbindung zu diesem Land nicht unbedingt exklusiv sein muss. Die menschliche Kultur ist in den letzten 50 Jahren zufällig auf einen neuen und sinnvollen Weg geraten, um diese Frage neu zu sehen. Vor einem halben Jahrhundert begannen Mathematiker ein mathematisches Modell für vielfache parallele Universen auszuarbeiten, nicht als Fiktion, sondern als Wissen. Indem sie das Window-System für den persönlichen Computer schufen, übersetzten Cyberpioniere diese Vorstellung in etwas für uns alle Sinnvolles: vielfache Programme sind zugänglich, alle sind gleich präsent, aber wir beschäftigen uns jeweils nur mit einem. Psychologen und Anthropologen haben uns schon seit Jahren gesagt, dass unser Leben das ist, womit wir uns ernsthaft beschäftigen, dass es viele Realitäten gibt, die man erfahren kann, dass aber die eine Realität die ist, in der wir leben, die unsere Kultur uns zu beachten lehrt. Mystiker haben dies seit Jahrhunderten schon gesagt, aber zu wenige von uns haben diese Botschaft wahrgenommen. Auf metaphorischer Ebene sind im semitischen Nahen Osten vielfache Realitäten seit langem eine Tatsache gewesen. Geh nach Tel Aviv und zeige irgendeinem Juden die Landkarte des Landes zwischen Jordan und Mittelmeer und frage ihn, was das für eine Gegend sei. Er wird Dir antworten: Israel. Geh nach Nablus und zeige dieselbe Karte einem Palästinenser und stelle dieselbe Frage. Er wird antworten: Palästina. Was ist das anderes als parallele Realitäten?
 
Parallele Herrschaft - das neue Paradigma
Diese Denkmethode suggeriert, dass wir unseren Kuchen tatsächlich haben und ihn auch gleichzeitig essen können. Statt das Land in einer Weise aufzuteilen, die keiner akzeptieren kann, nehmt es ganz und gebt es jedem. Groß-Israel und Groß-Palästina gehen in diesem Model gleichzeitig in ein und demselben Land auf, mit denselben Grenzen - in parallelen Universen: jedes mit seiner Flagge, seiner Nationalhymne, Mitgliedschaft in der UN. Jedes mit seiner eigenen Regierung, seinem Auslandsdienst und seinen Steuern. Nenne es eine neue Form von Konföderation oder die Aktualisierung von parallelen Realitäten - die Terminologie ist nicht so wichtig. Andere Nationen haben ihre eigenen Wege der Teilung gefunden  wie Belgien und die Schweiz. Wir können es auch. Viele praktische Herausforderungen würden bleiben, um den Kuchen hier und jetzt zu teilen. Es sind Herausforderungen, mit denen sich professionelle Teams zusammen lang und breit auseinandersetzen sollten, aber es gäbe auch enorme unmittelbare Vorteile. Vielleicht ist der beachtenswerteste Vorteil der, dass wetteifernden Ansprüchen religiöser Orthodoxien eher geholfen würde, als dass diese ignoriert oder  beeinträchtigt würden. Der Islam muss kein Gebiet aufgeben, das einmal zu seinem Herrschaftsgebiet gehörte; Juden müssen nicht die Gräber ihrer Urväter im Stich lassen. Wer wagt zu sagen, ob die alten Propheten, würden sie heute leben, ein neu erdachtes Paradigma, das einen Weg zu mehr Liebe und Verständnis und zu besserem Zusammenleben weist, nicht freudig begrüssen würden? Was ist Prophetie denn anderes gewesen als eine freudige Aufnahme neu erdachter Paradigmen?
 
Wenn euch dies zu vage scheint, so möchte ich  ein einfaches Beispiel für dieses Prinzip geben: Stellt euch einen modernen Supermarkt in einem großen Einkaufszentrum vor. Ihr fahrt mit eurem PKW hin und parkt auf einem Parkplatz, der sonst noch von andern Leuten benützt wird. Es ist nicht euer Parkplatz; er gehört euch nicht und es ist auch nicht nötig, dass er euch gehört. Dann nehmt ihr einen Einkaufswagen, der euch nicht gehört und der sonst von anderen Leuten benützt wird, geht durch die Gänge des Supermarktes, die nicht exklusiv euch gehören, nehmt die Päckchen mit Lebensmitteln aus den Regalen und legt sie in den Wagen. Nachdem ihr alles bezahlt und den Wagen zurückgestellt habt, fahrt ihr mit eurem Wagen vom Parkplatz nach Hause. Hier gelangt die Metapher an ihre Grenze, denn ihr möchtet mit eurem eigenen Wagen in euer eigenes Haus fahren und wollt nicht, dass inzwischen jemand anderes eingezogen ist und ihr wollt auch, dass die von euch gekauften Lebensmittel von eurer eigenen Familie und nicht von jemand anderem gegessen werden.
 
Wir könnten eine Wahrheits- und Versöhnungskommission nach südafrikanischem Modell haben, um sich damit auseinanderzusetzen, was Landraub ist und was nicht; Repatriierung der Vertriebenen, Zugeständnisse, Wiedergutmachung, Vergebung und all die anderen heiklen Fragen. Sie können gelöst werden. Aber wir müssen das Grundparadigma an die erste Stelle setzen. Wenn wir einander als Quelle von Positivem sehen könnten und nicht als Bedrohung, wären wir in der Lage, alle Probleme zu lösen. Zunächst gibt es die Vision, dann die Details. Auch wenn ich nun riskiere, mich zu wiederholen: die Vision kommt aus der Liebe und nicht aus dem Zorn. Irgendwo auf der Westbank lebt ein schwer arbeitender palästinensischer Bauer, dessen Sohn davon träumt Computerwissenschaften zu studieren, während Michal, die Tochter eines mit mir befreundeten israelischen Wissenschaftlers, Landwirtschaft an der Hebräischen Universität studiert und davon träumt, in biologischer Landwirtschaft zu arbeiten. Warum kann Michal nicht mit Landwirten auf der Westbank arbeiten, damit ihre Produkte in Europa besser vermarktet werden können, während Ahmed  Computerwissenschaften an der Bir-Zeit-Uni oder - ja! - an der Hebräischen Universität studiert, wenn er das will. Das wäre die Zukunft, die wir gemeinsam haben. Wenn wir uns das vor Augen stellen, uns sehr verpflichten, dies zu erreichen, liebevoll uns darum bemühen, dies Wirklichkeit werden zu lassen, wenn wir uns nicht von Verführungen aus dem Bereich der Illusionen und  dem unerreichbaren letzten Sieg ablenken  lassen - dann können wir es haben.
Und der Rest der Welt dort draußen, die schon längst genug von uns hat, genug von dem Gezänk und Blutvergießen und der Brutalität  - die Welt wird dastehen und applaudieren.
Aber zunächst müssen wir  uns selbst in  den Griff bekommen und unsere Arbeit tun.
 
Deb Reich ist Autorin und Übersetzerin in Israel/Palästina 
debmail@alum.barnard.edu August 2006