Bei Anruf eine Milliarde - Von Philipp Gut: Bundesrätin Calmy-Rey versprach die Kohäsionsmilliarde am Telefon. Die Schweiz vollzieht die Drohungen der EU für den Fall eines negativen Volksentscheids autonom nach. Ein Geschäft ist der Deal nur für die

Der Anruf hat sich für die Europäische Union gelohnt - vorausgesetzt, das Schweizer Stimmvolk sagt am 26. November Ja zur Milliardenzahlung an die zehn neuen EU-Mitglieder. In der heissen Phase der Verhandlungen über die bilateralen Verträge II sicherte der Bundesrat der EU am 12. Mai 2004 einen «Kohäsionsbeitrag» von einer Milliarde Franken zu. Fünf Tage später kam es an einem Gipfeltreffen zu einer politischen Einigung über die Verträge. In ihrer Bilanz des Gipfels «begrüsste» die EU den «substanziellen» Beitrag der Schweiz zur «ökonomischen und sozialen Kohäsion» in der erweiterten Union. Die Hintergründe des Milliardendeals blieben bisher im Dunkeln. Der Schweizer Chefunterhändler Michael Ambühl spricht von einem «normalen Bundesratsentscheid», und die neue Bundesrätin Doris Leuthard sagt, der Rat habe damals in corpore entschieden.

Das ist bloss die halbe Wahrheit. Voneinander unabhängige Quellen aus dem Aussen- und Finanzdepartement bestätigen die Recherchen der Weltwoche, wonach Micheline Calmy-Rey die Milliarde bereits vor der Bundesratssitzung versprochen hatte - in einem Telefongespräch mit dem damaligen EU-Aussenkommissar Christopher Patten. Calmy-Rey verkaufte es als Entgegenkommen der EU, dass die Schweiz die Milliarde nicht in den EU-Kohäsionsfonds zahlen sollte, sondern direkt an die begünstigten Länder. Für die Aussenministerin war klar, dass das Beitragsversprechen als Schmiermittel für die Verhandlungen über die bilateralen Verträge diente. Besonders das Schengen-Abkommen, das den Reiseverkehr durch die Aufhebung systematischer Grenzkontrollen erleichtert, war Calmys Anliegen. Ohne die Kohäsionsmilliarde, sagte sie im Bundesrat, gebe es kein Schengen.
 
Erzwungene Solidarität
Die Ratskollegen waren perplex. Dass ein Bundesratsmitglied ein solches Versprechen abgab, war einmalig. Für ihr Vorgehen wurde die Aussenministerin vom Rat kritisiert. Auch die Schengen-Befürworter (Calmy-Rey, Leuenberger, Deiss, Couchepin. Merz war wie Blocher und Schmid dagegen, änderte aber später seine Meinung) waren sich der Brisanz des Vorgehens bewusst. Sie warnten, der Telefondeal dürfe nicht publik werden. Der Bundesrat stimmte dem Kohäsionsbeitrag schliesslich zu - unter der Bedingung, dass die Milliarde «vollständig» innerhalb des Budgets der zwei betroffenen Departemente EDA (Calmy) und EVD (Deiss) kompensiert werde. Doch diese Lösung konnte Deiss umgehen: Eine Motion von Doris Leuthard stiess die ursprüngliche Finanzierung um. Weil die Motion eine Kompensation aus der Entwicklungshilfe an die Länder des Südens untersagt, müssen nun 400 Millionen aus der allgemeinen Bundeskasse genommen werden. Den EU-Enthusiasten in der Regierung ist das egal. Der zurückgetretene Joseph Deiss habe sich gern im internationalen Licht gesonnt, sagt ein Insider. Calmy-Rey gibt sich alle Mühe, eine europäische Musterschülerin zu sein. «Überall auf der Welt wartet man auf Europa», sagte sie am 21. August an der Botschafterkonferenz in Bern. Die Rede kam einer Liebeserklärung an die EU gleich.

Nach offizieller Lesart leistet die Schweiz mit der Kohäsionsmilliarde einen «solidarischen Beitrag zu einem sicheren und sozialen Europa». Calmy-Rey hat wiederholt die Freiwilligkeit der Zahlung betont. Die Schweiz habe sich zu einem «freiwilligen Beitrag» bereiterklärt. Mit den Bilateralen sei die Milliardenzahlung «nicht zu verknüpfen». Richtig ist dies nur zum Teil. Juristisch besteht zwischen dem Kohäsionsbeitrag und den bilateralen Verträgen kein Zusammenhang - politisch hingegen schon. Entgegen den öffentlichen Beteuerungen der Aussenministerin ist für die EU klar, dass die Bilateralen ohne die Zusage der Ostmilliarde nicht zustande gekommen wären. In einer Anwandlung von Ehrlichkeit sagte Bundesrat Merz im Februar dieses Jahres in der Finanz und Wirtschaft: «Den Beitrag an den Kohäsionsfonds hat uns die EU sozusagen aufgezwungen.» Die solidarische Geste der Schweiz ist demnach das Resultat einer Nötigung. In den Schlussverhandlungen um die Bilateralen II erreichte die EU, was sie erstmals in einem Brief Pattens an Calmy-Rey vom Mai 2003 gefordert hatte: eine Schweizer Beteiligung an den Umverteilungsströmen der Union, die jährlich 33 Milliarden in den Osten pumpt.

Drohgebärden gegenüber dem Nichtmitglied Schweiz gehören zum Habitus der EU. Kommissionspräsident José Manuel Barroso warnte im Juli, der Streit um die kantonalen Steuerprivilegien werde Auswirkungen auf das gesamte bilaterale System haben. Laut Barroso muss die Schweiz die EU-Regeln anerkennen, wenn sie vom Binnenmarkt profitieren will. Weitere Integrationsschritte stünden sonst in Frage. Die Handelszeitung, nicht eben ein Lautsprecherorgan, nannte dies eine «Erpressung». Ein Nein des Schweizer Souveräns zur Kohäsionsmilliarde wäre für Barroso ein «sehr schlechtes Signal». In den Verhandlungen über die Zinsbesteuerung drohte Frits Bolkestein, Barrosos Kollege, mit Sanktionen. Aussenkommissarin Benita Ferrero-Waldner machte am 6. Juni 2005, einen Tag nach dem Schweizer Ja zu Schengen, undiplomatisch Druck: Ohne die Personenfreizügigkeit, die als Nächstes zur Abstimmung stand, gebe es auch kein Schengen. Im Fall eines Neins, warnte die österreichische Kommissarin, habe die EU das Recht, die sieben bilateralen Abkommen I zu kündigen - gemäss der sogenannten Guillotine-Klausel. Gegenüber dem Schweizer EU-Botschafter Bernhard Marfurt drohte die EU «gravierende Konsequenzen» an.
 
Angst vor «Beziehungsproblemen»
Man mag diese Drohungen für schlechten Stil halten - illegitim sind sie nicht. Es geht der EU um die Durchsetzung ihrer Interessen, um Macht und um Geld. Pitoyabel ist hingegen, dass Schweizer Politiker und Amtsstellen diese Drohgebärden autonom nachvollziehen. In einem Informationsblatt zur Ostmilliarde schreibt das Integrationsbüro des Aussen- und des Volkswirtschaftsdepartements: «Das Schweizer Stimmvolk kann wie gewohnt frei abstimmen. Frei ist aber auch die EU, Konsequenzen zu ziehen.» Der gönnerhafte Ton, in dem den Stimmbürgern versichert wird, dass sie «wie gewohnt» frei abstimmen dürfen, geht nahtlos in die Warnung über, dass die Europäische Union diese Freiheit womöglich gar nicht schätzt, nämlich dann, wenn das Resultat nicht dem Wunsch und der Forderung Brüssels entspricht.

Dass das Volk hierzulande souverän entscheidet, ist nicht nur EU-Technokraten ein Dorn im Auge, sondern auch manchen hiesigen Politikern. Den Freiburger CVP-Nationalrat Dominique de Buman zitiert das Pro-Komitee zur Abstimmung vom 26. November mit der Aussage: «Unser Volk hat jetzt schon x-fach über den bilateralen Weg abgestimmt und ihn gutgeheissen. Dieses Referendum [dank dem die Wähler über die Milliardenzahlung entscheiden dürfen, Anm. der Red.] ist ein Frontalangriff auf einen bewährten und verankerten Weg durch die Hintertür!» Die direkte Demokratie als Frontalangriff durch die Hintertür - das ist nicht nur ein missglücktes Bild, sondern auch eine eigentümliche Auffassung von den Volksrechten. In seiner Kolumne in der Sonntagszeitung schrieb Roger de Weck, ein «Schweizer Wortbruch» würde «jede Verständigung mit der EU massiv erschweren oder vereiteln». Als «Wortbruch» bezeichnet der Sonntagsredner einen Entscheid des Souveräns, der dem eigenmächtigen Telefonversprechen der Aussenministerin widerspricht. Mit diesem Demokratieverständnis ist de Weck absolut Europa-tauglich.

Der Souverän heisst Souverän, weil er souverän entscheidet. Aus den Argumenten der Befürworter der Milliardenzahlung an die neuen EU-Staaten spricht die Angst vor einer Bestrafung durch Brüssel. Das Pro-Komitee: «Ein Nein provoziert unnötige Hindernisse im Verhältnis zur EU. Es stellt die bisherige gute Zusammenarbeit in Frage und untergräbt unsere guten Beziehungen zu den Mitgliedstaaten.» Die Politiker sprechen, als kämen sie gerade aus einer Paartherapie. Jedes zweite Wort im Zusammenhang mit der Abstimmung heisst «Beziehung» oder «Verhältnis». Für Bundesrätin Calmy-Rey «stehen die guten Beziehungen zur EU auf dem Spiel»; nach Ansicht ihrer Kollegin Leuthard würde ein Nein die Beziehungen zur EU «sehr belasten»; das Pro-Komitee sähe das Verhältnis «unnötig getrübt». In seinen Empfehlungen an die Wähler schreibt der Bundesrat: «Eine Verschlechterung der Beziehungen zur EU könnte angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtung rasch schädliche Folgen haben. Ein Nein würde somit den erfolgreichen bilateralen Weg gefährden.» Wie ein Textvergleich zeigt, sind die Autoren dieser Empfehlungen im Integrationsbüro zu suchen – in einem Informationsblatt des Büros findet sich derselbe Wortlaut.

Das ständige Warnen vor möglichen Strafmassnahmen der Union könnte sich auf die Wähler kontraproduktiv auswirken. Das wichtigste positive Argument der Befürworter lautet, die Milliardenzahlung sei eine lohnende «Investition» für die Schweiz. «Wir investieren in den Erfolg des bilateralen Wegs», formuliert der Bundesrat, was bloss die euphemistische Variante des autonomen Nachvollzugs der Drohungen darstellt. Das Pro-Komitee spricht von einer «weitsichtigen Investition im Eigeninteresse der Schweiz». In der «Arena» des Schweizer Fernsehens sagte Doris Leuthard letzten Freitag, der Bundesrat überlege sich gut, «wo wir unser Geld anlegen». Und Serge Gaillard, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, meint: «Wer rechnet, stimmt ja.» Auch Gerold Bührer, designierter Präsident des Wirtschaftsverbands Economiesuisse, ist dieser Auffassung (vgl. Interview). Für die Befürworter ist die Milliardenzahlung ein Geschäft - ein Geschäft für die Schweiz, wohlverstanden. Falls dem so ist, fragt sich, warum wir nicht noch viel mehr «investieren».

Irreführend ist das Argument des Pro-Komitees, die Kohäsionsmilliarde ermögliche der Schweiz einen «ungehinderten Marktzugang». Der Binnenmarkt mit Beteiligung der Schweiz besteht bereits, das Umverteilungsgeld hat damit nichts zu tun. 2005 betrug der Handelsbilanzüberschuss der Schweiz gegenüber den neuen EU-Ländern 1,4 Milliarden Franken, 2006 hat er bereits 1,3 Milliarden erreicht. Die neuen EU-Länder weisen die grössten Wachstumsraten Europas auf. Aus liberaler Sicht ist nicht einzusehen, weshalb der eine Gewinner den andern subventionieren soll. Doch selbst Freisinnige wie der Schaffhauser Ständerat Peter Briner sehen im Umverteilungsprogramm der EU die Fortsetzung des eidgenössischen Finanzausgleichs. Briner: «Der europäische Lastenausgleich ist mit dem Lastenausgleich unter den Kantonen vergleichbar und deshalb gewissermassen eine schweizerische Erfindung.» Auf die Idee, die EU solle bei unserem Finanzausgleich mithelfen, ist noch niemand gekommen, obwohl die bilateralen Verträge eine gegenseitige Angelegenheit sind. Nicht zu reden von der Neat, mit der die Schweiz den europäischen Transitverkehr mit Dutzenden Milliarden Franken unterstützt.

Die Befürworter weiterer Annäherungen an die Union verstricken sich in Widersprüche. In einer aktuellen Bilanz der Erweiterung von 2004 schreibt das Integrationsbüro: «Die pessimistischen Szenarien einer massiven Migration sind nicht eingetreten: Die Wanderungsbereitschaft aus Mittel- und Osteuropa ist insgesamt geringer als erwartet und zeigt überwiegend positive Auswirkungen. Die Arbeitskräfte aus den EU-10 helfen mit, Arbeitsengpässe auszugleichen, und sie tragen zu einer besseren Wirtschaftsleistung Europas bei.» Offene Arbeitsmärkte sind liberal. Nur passt dazu nicht, was der Bundesrat jetzt in seinen Abstimmungsempfehlungen unter dem Titel «Weniger Einwanderungsdruck» schreibt: «Armut, Konflikte und Chancenlosigkeit treiben viele Menschen in die Flucht oder in die Kriminalität. Durch ihre Unterstützung vor Ort schafft die Schweiz wirtschaftliche Perspektiven und bekämpft die Ursachen der Abwanderung. Dies reduziert den Einwanderungsdruck auf die Schweiz.» Gibt es nun einen solchen Druck oder nicht? Und wenn ja: Hat er positive oder negative Auswirkungen?
 
Weitere Millionenzahlungen
Die Kohäsionsmilliarde wurde unter Widersprüchen geboren: als freiwillige Nötigungsinvestition. Das «sozusagen Aufgezwungene» ihres Charakters manifestiert sich in ihrer Finanzierung, die «budgetneutral» sein soll. Das erweckt den Anschein, als ob das Milliardenschmiermittel an die EU die Schweiz nichts koste. Doch selbst SP-Aussenpolitiker Mario Fehr sagt: «Der bilaterale Weg ist nicht gratis.» Weitere Zahlungsbegehren der EU stehen unmittelbar bevor. Anfang 2007 sollen Bulgarien und Rumänien in die Union aufgenommen werden. «Weitere Beitragsversprechen gibt es heute nicht», schreibt das Pro-Komitee. Doch es steht fest, dass die EU auch für diese neuen Länder einen Kohäsionsbeitrag der Schweiz fordern wird. Laut einem Mitarbeiter der Bundesverwaltung hat ein internes EU-Gremium bereits einen Betrag von 350 Millionen Franken genannt. Das Stimmvolk hätte dazu nichts mehr zu sagen, der nötige Rahmenkredit müsste vom Parlament bewilligt werden. Kandidatenstatus haben Kroatien und die Türkei. Weil das Osthilfegesetz nur für die ehemals kommunistischen Staaten die Rechtsgrundlage bildet, bräuchte es für die Türkei ein neues Gesetz, das referendumsfähig wäre.

Ende November 1992, wenige Tage vor der Abstimmung über den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), sagte der damalige Chefunterhändler Franz Blankart zu den Konsequenzen eines Neins in der Weltwoche: «Nach fünf Jahren Alleingang würden wir aus wirtschaftlichen Gründen die EG [die Vorläuferin der EU, Anm. der Red.] auf Knien bitten, uns um jeden Preis als Mitglied aufzunehmen.» Knapp zehn Jahre später urteilte der damalige UBS-Chef Luqman Arnold, ein Brite, ebenfalls in unserem Blatt: «Wenn Sie morgen im EU-Raum eine Umfrage starten würden, mit der Möglichkeit, entweder das EU-Modell zu billigen oder das demokratische System der Schweiz einzuführen, würde Letzteres eine überwältigende Mehrheit erzielen.» Könnte es sein, dass der unterschiedliche Realitätsgehalt der Aussagen den nervösen Druck erklärt, den die EU-Spitzen auf die Schweiz ausüben? «Es ist kurios», schrieb der deutsche Spiegel vor einem Monat: «Während die EU nur widerwillig Länder wie Bulgarien und Rumänien aufnimmt, will die Schweiz, die jederzeit willkommen wäre, partout nicht hinein.» So kurios ist das angesichts der Milliardenumverteilung von West nach Ost nicht. Vom Demokratieverlust zu schweigen.

Quelle:  Die Weltwoche, Zürich Ausgabe 45/06
Hervorhebungen durch politonline