Tödlicher Staub - Die Katastrophe des «stillen Sterbens» - von Frieder Wagner, Köln

Am 15. Februar 2003, als in London die grosse Antikriegsdemo stattfand, hat Londons Oberbürgermeister Ken Livingstone, den die Bürger gern den roten Ken nennen, eine eindeutige Warnung ausgesprochen. Er sagte damals: «Ein Überfall auf den Irak, ein illegaler Krieg, wird Sicherheit und Frieden weltweit gefährden.» Er hat recht behalten. Und Eduardo Galeano, der grosse uruguayische Schriftsteller und Journalist warnte noch früher: «Der Terror von Kriegen wird immer wieder zu einem Krieg des Terrors führen.» Auch das sehen wir heute überall und besonders im Irak bestätigt. Täglich hören und sehen wir in den Nachrichten neue Horrormeldungen über Tote und Verwundete. Experten gehen davon aus, dass es, seitdem George W. Bush am 1. Mai 2003 den Sieg über den Irak verkündet hat, im Irak auf beiden Seiten etwa 50 000 Tote durch Gewalt gegeben hat.

Was solche Berichte verschweigen und was man nie in den Nachrichten sieht und hört, sind die Toten, die ich ‚die Toten des stillen Sterbens’ nenne. Denn was vielen nicht bekannt ist, ist die Tatsache, dass die USA und ihre Alliierten den Irak mit sogenannten Uran-Waffen angegriffen haben. An den Folgen des Einsatzes mit Uran-Munition sterben seitdem täglich Menschen, und es sind inzwischen weltweit viele Zehntausende. Das heisst, die Alliierten haben im Irak mit diesen Uran-Geschossen eine Waffe eingesetzt, die sich mehr und mehr als eine Massenvernichtungswaffe herausstellt. Wenn Uran-Geschosse ihr Ziel treffen, verbrennt das in den Geschossen verwendete abgereicherte Uran zu winzigsten Uranoxid-Partikelchen. Und die verseuchen im Irak und überall dort, wo diese Waffen eingesetzt wurden, den Boden, die Luft und das Wasser. Eingeatmet kann dieses Uranoxid - das ist wissenschaftlich unstrittig - Krebs und Leukämie auslösen. Das Immunsystem bricht wie bei Aids zusammen. Nieren und Leber werden geschädigt. Die Uranoxid-Partikelchen wandern aber auch mit dem Blut ins Gehirn und zu den Eizellen, und es kommt bei den Betroffenen zu Chromosomen-Brüchen. Das heisst, die Kinder dieser Menschen sind oft missgebildet und deren Kinder und Kindeskinder auch.
 
Bilder des Schreckens in irakischen Spitälern
Ich habe in den Kinderkrankenhäusern von Bagdad und Basra Bilder des Schreckens gesehen, die mich heute noch in meinen Träumen verfolgen: gerade geborene Babys ohne Augen, ohne Nase, ohne Kopf, ohne Arme und Beine. Babys, deren Organe in einem Sack ausserhalb des Körpers angewachsen waren. Alle diese Babys starben nach wenigen Stunden oder Tagen.
Aus dem Irak haben wir Bodenproben, Wasserproben, Urinproben von Erkrankten, aber auch Staubproben und Gewebeproben mitgebracht. Diese Proben waren zum Teil so hoch radioaktiv kontaminiert, dass der Wissenschafter Dr. Axel Gerdes, der diese Proben in Frankfurt am Main im Mineralogischen Institut der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität mit einem hochempfindlichen Massenspektrometer analysiert hat, diese Proben zum Teil erst um das 1000fache verdünnen musste, um sie mit seinem hochempfindlichen Gerät überhaupt messen zu können. Bei all diesen Proben haben die Analysen ergeben, dass neben dem leicht radioaktiven Uran 238 auch das aggressive Uran 236 enthalten war. Dieses Uran kommt in der Natur nicht vor, es entsteht in Atomkraftwerken in den Wiederaufbereitungsanlagen. Uran 236 ist ein höchst gefährliches Isotop, und ein US-Wissenschafter sagte mir sarkastisch: Wenn die USA noch zwei solche Kriege mit Uran-Geschossen führen wie die Irak-Kriege, dann sind sie fast all ihren Atommüll losgeworden.
 
Missgeburten um das 20-fache gestiegen
Auf einem Schlachtfeld in der Nähe von Basra, bei Abu Khassib haben wir Panzerwracks aus dem letzten Golf-Krieg gefunden; dort haben wir an den Einschusslöchern, die die Uran-Geschosse hinterlassen haben, eine Radioaktivität gemessen, die war über das 30 000fache höher als die normale Umweltstrahlung in der Bundesrepublik. Auf diesen Panzern spielten Kinder, und in diesen Panzern versuchten irakische Männer und Väter sogenanntes Edel- oder Buntmetall auszubauen, um es zu verkaufen und so an etwas Geld zu kommen. Wir haben diese Menschen eindringlich gewarnt, und ein 60jähriger Mann hat uns geantwortet: «Ich bin Dichter und Schriftsteller, ich bin Doktor der Philosophie, ich habe schon alles verkauft, um meine Familie zu ernähren, jetzt muss ich hier in den Panzern diese Arbeit machen, damit meine Kinder nicht verhungern. Hört zu, was ich zu sagen habe: Der Irak hat sein Öl und seinen Reichtum immer gegen seine eigenen Kinder eingesetzt. Seht mich an, ich bin 60 Jahre, und was bin ich? Nichts - ich habe Angst! Nichts hier ist mehr sicher, und ich habe nur einen Wunsch: Die neue Regierung und die Alliierten sollten sich Gedanken um unser Volk machen, das jetzt am Boden liegt. Wir Iraker haben nie gute und sichere Zeiten erlebt, wir haben immer nur gelitten. Unser Land ist so reich an Öl, aber dieser Reichtum ist für uns zu einem Fluch geworden.» Und tatsächlich: am Mutter-Kind-Krankenhaus in Basra sind allein die Missgeburten seit 1991 um das 20fache gestiegen.  
 
Krebsrate steigt auch in Ex-Jugoslawien
Bei meinen Dreharbeiten im Kosovo und in Belgrad sagte mir Dr. Radomir Kovacevic vom «Institut für Arbeitsmedizin und Strahlenschutz» in Belgrad, dass ihre neuesten Untersuchungen ergeben haben, dass die Emission gefährlicher Chemikalien im Grossraum Belgrad fast völlig zurückgegangen ist, weil die serbische Industrie in den letzten 10 Jahren durch den Krieg und durch Sanktionen fast völlig zusammengebrochen ist. Sie beobachten aber seit Tschernobyl, jetzt nach dem Einsatz der Uran-Munition durch die Nato im Kosovo-Krieg 1999 und Bosnien 1995 einen Anstieg der radioaktiven Belastung durch das Uran 238 in den eingesetzten Uran-Waffen. So sind in den letzten 5 Jahren auch dort die bösartigen Krebserkrankungen bei den Problemgruppen Kinder und alte Menschen um 9 % drastisch angestiegen. Aber die Prognosen der serbischen Wissenschafter gehen davon aus, dass sich diese Zahl in den kommenden 10 Jahren auf mindestens 20 Prozent erhöhen wird. Frau Dr. Jenan Hassan vom Kinderkrankenhaus in Basra hat mir mitgeteilt, dass nach der schweren Bombardierung durch mit Uran verstärkten  bunkerbrechenden Bomben auf Saddams Paläste in Bagdad jetzt auch dort die Leukämieerkrankung von Kindern stark zugenommen haben.
An ihrem eigenen Krankenhaus sterben von den an Leukämie erkrankten Kindern heute immer noch 80 %, weil Medikamente für eine Chemotherapie fehlen. An ihrem Krankenhaus spielen sich seit dem Einsatz dieser Waffen immer wieder furchtbare Tragödien ab. So hat zum Beispiel ein Soldat, der an der grossen Panzerschlacht um Basra teilgenommen hat, nach dem Krieg von seiner Frau zwei Kinder bekommen, beide waren schwer missgebildet. Der Mann hat deshalb seine Frau verstossen und eine andere Frau geheiratet. Als auch sie ihm ein Kind schenkte, war es genauso schwer missgebildet. Da erkannte der ehemalige Soldat, dass er der Verursacher der Missbildungen seiner Kinder sein musste, und hat sich erschossen.
 
Stürme verteilen Uranoxid-Partikel über riesige Distanzen
Ich möchte hier noch auf etwas hinweisen, was bisher nie publiziert worden ist: Ein mir bekannter Arzt, Dr. Michael Kreuscher, ist von irakischen Ärzten darüber informiert worden, dass es in der nordirakischen, kurdischen Stadt Arbil seit 2003 zu einem ungewöhnlichen Anstieg von Leukämiefällen bei Kindern und Kleinkindern gekommen ist, und zwar von einer Art, die sonst nur bei alten Menschen vorkommt. Ich habe ihm dann meinen Film über die Folgen der Uran-Munition gezeigt, und er hat mir gesagt, dass in Arbil und Umgebung nie Uran-Geschosse zum Einsatz gekommen sind. Wir vereinbarten deshalb, dass er von seinem nächsten Besuch in Arbil sowohl Bodenproben, aber auch Urinproben der erkrankten Kinder, den Staub aus dem Luftfilter seines Autos, das er dort gefahren hat und Organproben von geschlachteten Kühen aus Arbil mitbringen sollte. Im Herbst letzten Jahres konnte er alle diese Proben tatsächlich mitbringen. Sie wurden wieder von Dr. Axel Gerdes vom Mineralogischen Institut der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main massenspektrometrisch untersucht. Das Ergebnis hat uns alle entsetzt:  Sämtliche Proben hatten hohe Konzentrationen von Uran 238 mit einem ungewöhnlich hohen Anteil von Uran 236. Verschiedene Proben, zum Beispiel der Staub aus dem Luftfilter des Autos, das der Arzt dort gefahren hat, waren sogar um das 3000fache höher kontaminiert als unsere höchsten Werte von den Schlachtfeldern von Basra. Wie konnte das sein, wenn doch dort nie ein Uran-Geschoss zum Einsatz gekommen war?
 
Die Erklärung war relativ einfach, und Dr. Kreuscher hat sie von einem Meterologen vor Ort bekommen: Es gibt im Irak häufig heftige Stürme, die sogar Orkanstärke erreichen können, die sogenannten desert storms, die, von Basra kommend, über Bagdad hinweg nach Norden ziehen. Vor den hohen Gebirgen zur Türkei werden sie gebremst, verlieren ihre Kraft und verwirbeln in der Region über Arbil. Alles was diese Stürme mitgebracht haben, fällt dann nach und nach im weiten Umkreis von Arbil zu Boden, so auch die Uranoxid-Partikelchen, die die Stürme von den ausgetrockneten, staubigen und kontaminierten Böden Basras und Bagdads mitgebracht haben. [Distanz Basra–Arbil: mehr als 500 km, Anm. der Red.]
 
Uranoxid-Staubteilchen sind winzig und lungengängig
Man kann heute mittels eines sogenannten Isotopen-Fingerprints feststellen, woher das Uran 238 und 236 kommt. Man kann nachweisen, ob es aus dem Reaktor von Tschernobyl stammt, aus der Munition der Uran-Geschosse der Amerikaner und Briten im Irak oder aus einer anderen Gegend. Um die Aussage treffen zu können, ob das, was in Arbil gemessen wurde,
tatsächlich aus der Munition aus abgereichertem Uran im Süden des Iraks stammt, haben Dr. Kreuscher und Dr. Gerdes die vorgefundenen Isotopenprints der erkrankten Kinder in Arbil mit denen der Proben aus Basra und dazu denen der Isotopentprints aus dem Urin der Golf-Kriegsveteranen aus dem Südirak verglichen. Und siehe da: Diese Isotopenprints waren alle identisch mit den Uran-Isotopenprints im Urin der an Leukämie erkrankten Kinder in Arbil!
Viele Wissenschafter, die die Uranbelastung verharmlosen, argumentieren immer wieder damit, dass das natürlich vorkommende Uran ja noch sehr viel höher strahlt als das, was wir jetzt als abgereicherten Uranstaub in der Umwelt messen. Der wesentliche Fakt aber für die krankmachende Wirkung des abgereicherten Urans ist der Feinstaub, der entsteht, wenn Geschosse ihr Ziel treffen und zu winzigsten Uranoxid-Staubteilchen verbrennen, die lungengängig sind, und zwar so winzig und so lungengängig, dass sie bis in die Lungenbläschen aufgenommen werden und dann in den Körper gelangen, wo sie ihre krankmachende Wirkung entfalten.
 
Dr. Michael Kreuscher wollte beweisen, dass dieses Uran tatsächlich auch in den Körper eintritt und dort verbleibt. Er hat darum von zwei Rindern, die ausschliesslich im Raum Arbil gross geworden sind, mehrere Gewebeproben mitgebracht und diese bei Dr. Axel Gerdes auf Isotope von abgereichertem Uran untersuchen lassen. Und siehe da, gerade die Primärorgane Lunge, Lymphknoten, Herz, Leber und Knochenmark waren hochgradig belastet. Somit haben diese beiden Wissenschafter erstmalig den Beweis dafür erbracht, dass abgereichertes Uran in winzigsten Kleinstpartikeln in den Körper aufgenommen wird und dann zu todbringenden Krankheiten führen kann - und das in einer Region, in der gar keine Uran-Munition zum Einsatz gekommen war.
 
Regressforderungen von den Betroffenen in Milliardenhöhe
In diesem Zusammenhang sagte mir Prof. Dr. Asaf Durakovic, der Gründer des unabhängigen «Uranium Medical Research Center» in Kanada, der viele Golf-Kriegsveteranen untersucht und behandelt hat, in einem Interview: «Sie fragen mich, was jetzt mit der Zivilbevölkerung im Irak passiert? Glauben Sie, irgend jemand kümmert sich um die Bevölkerung im Irak, wenn schon niemanden das Schicksal der eigenen Soldaten interessiert! Man müsste im Irak zur Dekontamination Milliarden von Dollars investieren! Basra zu säubern, würde 200 Milliarden Dollar pro Jahr kosten! Und nur um die Brücken über den Euphrat in Bagdad zu dekontaminieren, benötigt man Milliarden. Und was zum Beispiel für die Erkrankungen der Veteranen der USA, Kanadas und Grossbritanniens gilt, muss man jetzt um das 1000fache erhöhen, was die irakische Bevölkerung betrifft. Es wurde von diesen Regierungen alles nur Erdenkliche unternommen, diese Informationen zu unterdrücken. Diese Regierungen leugnen bis heute einen Zusammenhang zwischen der Uran-Munition und den Krebserkrankungen ihrer Soldaten. Der Grund ist die Angst vor Regressforderungen der Betroffenen in Milliardenhöhe.» Was ist zu tun? Es müssen dringendst weitere Forschungen unternommen werden, es muss vor allen Dingen in den Anrainerstaaten Iran, Syrien, Saudi-Arabien Gleiches untersucht werden, um festzustellen, ob diese Süd-Nord-Winde, vielleicht als Südwest- oder Südostwinde vom Irak ausgehend, den tödlichen Staub auch in diese Länder getragen haben und damit die Bevölkerung dort auch verseucht würde.
 
Der Einsatz von Uran-Munition ist ein Kriegsverbrechen!
Und es sollte alles getan werden, diese schrecklichen Uran-Geschosse und diejenigen, die sie anwenden, zu ächten. Denn der Einsatz dieser Waffe ist ein Kriegsverbrechen. Sie ist radioaktiv und hochgiftig. Und Giftwaffen sind nach dem Kriegsrecht seit Jahrzehnten verboten. Wenn der Einsatz der Uran-Munition aber ein Kriegsverbrechen ist, dann gehören ihre Anwender vor ein Kriegsverbrecher-Tribunal wie in Den Haag. Vielleicht sollten wir uns an den Müttern von der Plaza de Mayo in Buenos Aires ein Beispiel nehmen: Seit 1977 treffen sich diese Mütter mit den weissen Kopftüchern jeden Donnerstag auf der Plaza de Mayo und drehen dort ihre Runden, um auf die Verbrechen der Militärdiktatur aufmerksam zu machen, auf den Mord an 30 000 «Verschwundenen». Diese Mütter haben inzwischen gesiegt. Der jetzige argentinische Präsident Hector Kirchner hat die Amnestiegesetze zugunsten der Militärs aufgehoben: Sie können nun alle für ihre Verbrechen vor Gericht gestellt werden. Vielleicht sollten wir uns, überall auf der Welt, Orte suchen, wo wir uns wöchentlich zu einer Mahnwache gegen den Krieg und jede atomare Bedrohung treffen. Wir drehen, wie diese Mütter, zur Mahnung gemeinsam ein paar Runden, wir informieren uns gegenseitig und tauschen Erfahrungen aus. Denn wir dürfen eines nicht vergessen: die bedrohlichen Reste dieser Uran-Geschosse bedrohen und verseuchen die Erde unserer Kinder überall dort, wo sie zum Einsatz kamen und wo dieser Todesstaub hingetragen wird für 4,5 Milliarden Jahre …
 
Quelle: Zeit-Fragem Nr. 25 vom 20.6.2006, www.zeit-fragen.ch