Der EU-Beitritt aus Sicht eines Unternehmers - von Dr. Tito Tettamanti, Lugano

Soll die Schweiz der EU beitreten oder nicht? Sie haben mich eingeladen, um Ihnen darauf eine Antwort zu geben. Das werde ich gerne tun: Als Unternehmer mit aller gebotenen Sachlichkeit und als Bürger mit der ganzen Leidenschaft, die ich für dieses Land empfinde. Es stellen sich drei Fragen: 1. Kann man sich aus reiner Begeisterung, muss man sich aus idealistischen Gründen für einen Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union einsetzen? 2. Oder zwingt uns eine kühle Abwägung von Vor- und Nachteilen zu einem Beitritt? Bringt es uns mehr, als es uns schadet? 3. Oder müssen wir beitreten, weil wir nur so unsere nationalen Interessen wahren können? Werden wir längst aus Brüssel regiert, während wir immer noch meinen, Bern gebe den Takt an?

Ich komme zur ersten Frage: Idealistische Motive
Kann sich ein vernünftiger Mensch noch für die EU begeistern? Und zwar nicht bloss für die einstigen hohen Ideale der „Gründerväter“, sondern für die real existierende EU, so wie sie heute erscheint: die EU der Reglemente, der hohen Steuern und der Ohnmacht? Dass man sich dafür erwärmen kann, glaube ich nicht. Im Gegenteil, ich habe den Verdacht, dass diejenigen, die immer noch von der EU schwärmen - auch jene wenigen Europhilen in unserem Land - dass diese Leute die Lage schön reden und mythisieren. Sie wollen nicht realisieren, dass sich die Welt inzwischen stark verändert hat. Sie leiden unter jener spezifisch europäischen Krankheit, die da heisst: Realitätsverweigerung.
 
Einst haben die drei katholischen Gründerväter der Europäischen Union, der Franzose Robert Schuman, der Deutsche Konrad Adenauer und der Italiener Alcide de Gasperi ein hohes, ein vernünftiges Ideal verfolgt: Nie wieder Krieg in Europa! Alle drei hatten die schrecklichen Kriege des 20. Jahrhunderts erlebt. Fürchterliche Kriege, die nicht nur Millionen von jungen Soldaten das Leben gekostet, sondern auch in zuvor nie dagewesenem Ausmass Zivilisten getötet hatten: alte Menschen, Kinder, wehrlose Frauen. In unmenschlichen Flächenbombardements - sei es in Warschau, Rotterdam, London oder Dresden - wurden Tausende von Hilflosen und Unbewaffneten umgebracht. Und als Höhepunkt oder besser -  Tiefpunkt des Wahns - ging eine der Kriegsparteien, die Deutschen, dazu über, in den Konzentrationslagern Millionen von Juden abzuschlachten, nur weil sie Juden waren.
Seien wir jenen drei mutigen Europäern dankbar, die einen wahren, endgültigen Frieden schaffen wollten, die sicherzustellen versuchten, dass es zwischen Frankreich und Deutschland nie mehr zu einem Krieg um die Vorherrschaft auf unserem Kontinent kommen kann.
 
Aber die Welt verändert sich. Und nichts ist verführerischer und gefährlicher, als den Wandel nicht wahrhaben zu wollen. Jedermann weiss: Das Ziel ist erreicht. Frankreich und Deutschland werden nie mehr gegeneinander in den Krieg ziehen. Doch das bedeutet nicht, dass wir deshalb im Paradies, im ewigen Frieden angelangt sind. Ein Blick in den Nahen Osten, vor unsere Haustüre, belehrt uns eines Bessern. Doch das ist ein anderes Thema.
Die EU gibt gültige Antworten auf eine längst vergangene Vergangenheit - während sie ratlos vor den Herausforderungen der Zukunft steht. Islamismus, finanzielle und moralische Krise des Sozialstaates, Immigration und die aufsteigenden Grossmächte China und Indien: Die EU hat hierfür keine Strategie, sondern es sind die Nationalstaaten, die versuchen, der neuen Lage Herr zu werden. In den frühen 90er Jahren stürmte die EU unter der euphorischen Führung von Jacques Delors voran, mit dem Ziel, die USA wirtschaftlich zu übertreffen. Man glaubte an die Kraft der liberalen Märkte und versuchte, die nötigen Liberalisierungen von Brüssel aus durchzusetzen. Das ist gründlich misslungen. Die Bevölkerung des Kontinents - vor allem in den grossen klassischen Nationalstaaten - hat sich eingemauert und misstraut dem Wandel. Brüssel steht tatenlos da, während Paris brennt, Rom zerfällt und Berlin verzagt. Ebenso müssen wir sehen, dass die nationalen Rivalitäten, selbst in Europa, nach wie vor eine Rolle spielen. Was der grosse deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Hans Morgenthau einst gelehrt hat, sollte nicht vergessen werden: Zwischen den Staaten gibt es keine Freundschaft, es können gelegentlich gemeinsame Interessen bestehen - mehr darf man nicht erwarten.
 
Der Vortrag wurde anlässlich der 21. ordentlichen Mitgliederversammlung der AUNS vom 06.05.06 gehalten