Palästina in der Krise - Tel Aviv setzt die endgültige Annexion wesentlicher Teile der besetzten Gebiete auf die Tagesordnung. Das Ziel eines eigenständigen Palästinenserstaates ist derzeit wieder einmal in weite Ferne gerückt Von Knut Mellenthin

Am kommenden Sonntag wird Israels Premierminister Ehud Olmert seinen ersten USA-Besuch nach der Wahl vom 28. März antreten. Die Vorbereitungen haben schon am vergangenen Wochenende begonnen. Hochrangige israelische Regierungsberater, darunter Dov Weisglass, der schon Ariel Scharon jahrelang maßgeblich zur Seite stand, hatten am Sonntag ein langes Arbeitstreffen mit US-Außenministerin Condoleezza Rice und Sicherheitsberater Steve Hadley. Gemeinsam sollen sie dafür sorgen, daß alle zu behandelnden Fragen geklärt sind, bevor es richtig losgeht.

Staatsbesuche sind eine zu ernste Angelegenheit, um sie Regierungschefs und Präsidenten zu überlassen. Das Klima zwischen den Strippenziehern dürfte vorzüglich und vor allem menschlich angenehm gewesen sein. Schon zur Regierungszeit Scharons stichelten israelische Zeitungen, daß Dov Weisglass Frau Rice, die damals noch Sicherheitsberaterin war, »um den Finger wickeln« könne und mehrmals in der Woche mit ihr telefoniere. In erster Linie will Olmert der US-Regierung offiziell seinen »convergence plan« vorstellen. Das Wort »convergence« muß man in diesem Kontext wohl mit »Zusammenführung« übersetzen. Olmert will bis zum Jahr 2010, also bis zum Ende seiner Amtszeit, »die Grenzen Israels endgültig festlegen«. Viele verstreute   Siedlungen auf der Westbank mit insgesamt 70 000 Bewohnern sollen geräumt werden. Gleichzeitig will Israel aber die Siedlungs»blöcke« (»major settlement blocks«, so die offizielle Sprachregelung) im Großraum Jerusalem unwiderruflich annektieren, d. h. auch formal in den Staat Israel eingliedern. Hier leben jetzt schon 250000 Menschen, und viele Bewohner der aufzugebenden kleineren Siedlungen sollen dort künftig ebenfalls untergebracht werden. Zu Israel soll dann unwiderruflich auch das schon 1967 annektierte arabische Ostjerusalem, einschließlich der historischen Altstadt, gehören. Bisher hat kein Staat der Welt, nicht einmal die USA, diesen völkerrechtswidrigen Akt anerkannt. Olmert hofft, daß sich das in Zukunft ändert, wenn er seinen Annexionsplan als Abzugsplan verkaufen kann.
 
Kaum noch Chancen für Palästina
Endgültig erledigt wäre damit der palästinensische Anspruch auf Jerusalem (al-Quds) als Hauptstadt eines eigenen Staates. Als Trost hält Otniel Schneller, einer der Architekten des »convergence plan«, die wenig überzeugende Idee bereit, irgendwelche weit entlegenen, unbedeutenden arabischen Siedlungen im Großraum Jerusalem in »al-Quds« umzutaufen und zur Hauptstadt Palästinas zu machen. Erledigt wäre nach Realisierung von Olmerts Plan wohl auch das gesamte Projekt eines »lebensfähigen« Palästinenserstaates. Denn die Annexion der Siedlungs»blöcke« würde die Westbank an ihrer schmalsten Stelle in zwei Teile zerschneiden. In nichtisraelischen Medien fast nie erwähnt wird ein weiterer zentraler Teil des Planes: Olmert will auch das gesamte Jordantal, das die Grenze zu Jordanien bildet, annektieren. Das bedeutet zum einen die wirtschaftlich wichtige Herrschaft über das Wasser dieses Flusses. Es bedeutet darüber hinaus, daß Israel sämtliche Außengrenzen eines palästinensischen Staates, der diesen Namen dann gar nicht verdienen würde, kontrollieren will. Israelische Beamte würden weiterhin mit willkürlichen und demütigenden Schikanen bestimmen, wer nach Palästina einreisen darf und wer nicht. Israel würde auch den gesamten Im- und Export Palästinas jederzeit abschneiden können. Kaum Chancen also für die Entfaltung einer eigenständigen, »lebensfähigen« palästinensischen Wirtschaft.
 
Muß man noch erwähnen, daß der Olmert-Plan an Israels Recht zur jederzeitigen militärischen Präsenz und zu Polizeiaktionen auf der gesamten Westbank festhält? Mit nur 67 von 120 Sitzen der Knesset hat Olmerts Koalitionsregierung keine sichere Mehrheit. Die Realität kann also unter dem Druck der Opposition und von Abweichlern aus dem Regierungsbündnis noch schlechter ausfallen als der Plan. Die Aussiedlung von 9000 jüdischen Siedlern aus dem Gasastreifen war nur mit massiver Polizeigewalt durchzusetzen. Die Auflösung von über 100 Siedlungen mit 70000 Einwohnern wird sehr viel schwerer und langwieriger werden. Olmert will laut israelischen Medien mit der Umsetzung seines Planes in zwei Jahren, vielleicht auch schon in 18 Monaten beginnen. Es wäre nicht überraschend, wenn sich herausstellen sollte, daß Israels Regierung mit dem Annektieren sehr viel schneller vorankommt als mit dem Räumen. Dem bevorstehenden Treffen mit George W. Bush kommt für die internationale Akzeptanz des »convergence plan« strategische Bedeutung zu. Wenn Olmert in den USA ein öffentlicher Durchbruch gelingt, wird aller Erfahrung nach auch die EU folgen. Israels Regierung gibt sich vor dem Besuch sehr zuversichtlich. Die linksliberale Tageszeitung Haaretz schrieb am Sonntag: »Führende israelische Regierungsbeamte gehen davon aus, daß die US-Regierung den Plan unterstützt und ihn als ›the only game in town‹ sieht.« Also als einzige realistische Option. Die US-Regierung legt allerdings Wert darauf, daß Olmert zunächst die seit Monaten unterbrochenen Gespräche mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas wieder aufnimmt, bevor er einseitige Maßnahmen anordnet. Haaretz kommentiert diese Idee ironisch: »Nach israelischen Quellen wissen sowohl Israel als auch die USA, daß ein solcher Versuch zu nichts führen wird. Aber es kommt den Amerikanern darauf an, ihren internationalen Verbündeten zu zeigen, daß Israel versucht hat, mit den Palästinensern zu sprechen. Ein weiteres Ziel solcher Bemühungen besteht darin, den Status des palästinensischen Präsidenten gegenüber der Hamas-Regierung aufrecht zu erhalten.«
 
Worüber will Abbas verhandeln?
Olmert hat den Palästinensern am vergangenen Dienstag gedroht, im Falle fehlender Verhandlungsbereitschaft innerhalb der nächsten sechs Monate die Grenzen Israels einseitig festzulegen. Mit der Hamas-Regierung will er allerdings nicht sprechen, solange sie nicht vorab alle Forderungen erfüllt: insbesondere Anerkennung des Existenzrechts Israels, Abschwören jeder Gewalt, Anerkennung sämtlicher in der Vergangenheit zwischen Israel und der PLO geschlossenen Abkommen. Daß Hamas dies als Vorbedingung akzeptiert, kann als äußerst unwahrscheinlich gelten. Auch mit Präsident Abbas will Olmert vorerst nicht sprechen, da dieser »völlig bedeutungslos« geworden sei. Aber in diesem Punkt kann Olmert den Wünschen der US-Regierung ohne den geringsten Schaden entgegenkommen - und wird es voraussichtlich auch tun. Abbas seinerseits drängt sich anstelle der zwar international geächteten, aber demokratisch gewählten Hamas-Regierung als Verhandlungspartner geradezu schamlos auf. »Hamas kann mich unterstützen oder auch nicht. Wenn ich einen Weg zu einer Verständigung mit Israel finde, werde ich das Ergebnis dem palästinensischen Volk in einem Referendum präsentieren. Das palästinensische Volk steht über Hamas und anderen Politikern«, kündigte der Präsident im April an.
 
Falls Abbas wirklich glaubt, was er sagt, dürfte er der einzige Politiker sein, der noch irgend etwas an den zentralen Punkten des Olmert-Plans für verhandelbar und abwendbar hält. Dem Hamas-Chef Khaled Meschal, der immer noch im Exil im syrischen Damaskus leben muß, ist sachlich zuzustimmen, wenn er konstatiert, daß Verhandlungen mit Israel »absolut nutzlos« seien. Alle wichtigen israelischen Parteien, so argumentiert Meschal, stimmen ausnahmlos darin überein, daß sie eine Rückkehr zu den Grenzen von 1967, eine Teilung Jerusalems, eine Auflösung aller Siedlungen in den besetzten Gebieten und das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge ablehnen. Alle vier Punkte gehören aber zu den Essentials sämtlicher Teile des palästinensischen Spektrums, auch der Fatah von Mahmud Abbas.
Warum spricht Abbas ausgerechnet in dieser Situation von einer Wiederaufnahme der Verhandlungen, ohne wenigstens die geplanten Annexionen direkt anzusprechen und scharf zu kritisieren? Es ist nicht völlig auszuschließen, daß der Palästinenserpräsident seine Unterschrift unter einen höchstens kosmetisch modifizierten Olmert-Plan setzen würde. Aber in einer Volksabstimmung hätte dieses Verhalten wahrscheinlich keine Chance, außer durch hemmungslose Manipulation und Fälschung. Man kann zu der durchaus plausiblen Schlußfolgerung gelangen, daß die Palästinenser keine Möglichkeit mehr haben, die endgültige Niederlage und Zerstörung ihrer strategischen Ziele durch Israel zu verhindern. Doch wäre es dann für die Palästinenser besser, diesen de facto völlig einseitigen Gewaltakt nicht auch noch durch ihre Zustimmung und Mitwirkung zu veredeln. Daß Verhandlungen mit Israel tatsächlich »absolut nutzlos« geworden sind, ist Ergebnis des inneren und äußeren Kräfteverhältnisses. Alle »militärischen Optionen« der Palästinenser, sofern sie denn jemals real waren, sind erschöpft. Die israelischen Sicherheitskräfte ermorden Kader militanter Organisationen fast nach Belieben und in immer größerer Zahl, ohne daß diese Organisationen noch zu wesentlich mehr als inflationären Racheschwüren fähig sind.
Israel kann heute die endgültige Annexion wesentlicher Teile der besetzten Gebiete auch deshalb auf die Tagesordnung setzen, weil das internationale Umfeld diese Absicht schon längst als unvermeidlich akzeptiert hat oder ihr zumindest gleichgültig gegenübersteht. Nicht Israels Regierung, sondern ausschließlich die Hamas ist stärksten internationalen Nötigungen und Erpressungen ausgesetzt, ihre Haltung zu ändern, also praktisch »die gegebenen Tatsachen zu akzeptieren«, wie es Präsident Abbas als Forderung an Hamas formuliert hat.
Selbst die meisten arabischen Staaten sind hauptsächlich daran interessiert, Hamas zur Annahme des totgeborenen »Saudi-Friedensplans« vom Februar 2002 zu drängen, den Israel damals sofort abgelehnt hat und der niemals auch nur Diskussionsgegenstand war. Der Plan sieht vor, daß die arabischen Staaten Israel anerkennen würden, sofern es sich aus allen besetzten Gebieten, einschließlich Ostjerusalem, zurückzieht. Hamas-Chef Meschal hat das arabische Ansinnen mit dem Satz kommentiert: »Wenn Israel den Plan annimmt, tut Hamas es auch.«
 
US-Regierung für »regime change«
Seit die überwiegend von Hamas gestellte Regierung von Premierminister Ismail Hanija Ende März die Geschäfte übernahm, betreiben USA und EU die finanzielle Austrocknung und Aushungerung der Palästinensergebiete. Die EU, bisher mit Abstand der wichtigste Geldgeber, hat alle Zahlungen eingestellt. Die US-Regierung sorgt durch Druck auf die Banken dafür, daß auch alle Hilfsangebote von seiten islamischer Staaten unrealisierbar bleiben. Bisher hat es keine Bank gewagt, Transaktionen zugunsten der palästinensischen Behörden und Institutionen vorzunehmen, aus Furcht vor amerikanischen Repressalien. Israel hat die gesamte palästinensische Verwaltung und das von ihr administrierte Gebiet zur »terroristischen Einheit« erklärt. Die US-Regierung hat sich de facto dieser Definition angeschlossen, Sie lehnt deshalb direkte Gehaltszahlungen an Mitarbeiter der palästinensischen Verwaltung ab. Die US-Regierung hat bisher auch alle von der EU ausgehenden Vorschläge blockiert, Hilfsgelder über Präsident Abbas und dessen Apparat statt über die palästinensische Regierung zu verteilen. Washington will nicht weniger als den totalen Bankrott und Zusammenbruch der palästinensischen Verwaltung, um einen »Regimewechsel« zu erzwingen, bei dem es sich nach den gegebenen Verhältnissen nur um einen Putsch der Fatah und der von Abbas kontrollierten obskuren Spezialeinheiten wie der »Force 17« handeln könnte. Am 9. Mai einigte sich das aus USA, Rußland, EU und UNO bestehende sogenannte Quartett »im Prinzip« auf einen »Hilfsmechanismus«, der unter Umgehung der palästinensischen Regierung angeblich den real längst eingetretenen »humanitären Notstand« im Westjordanland und Gaza verhindern soll. Der von den Medien hochgelobte Plan besteht allerdings bisher fast nur aus heißer Luft. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den USA einerseits und den anderen drei Quartett-Mitgliedern sind keineswegs ausgeräumt. Beschlossen wurde am Dienstag voriger Woche noch keineswegs konkrete Hilfe, sondern nur die Aufnahme von Beratungen über deren Durchführung. Die Nachrichtenagentur Reuters zitierte am Sonntag westliche Diplomaten mit der Einschätzung, daß es noch bis Ende Juni dauern könne, bevor wirklich Geld fließt.
 
Sofern die USA ihre Blockadehaltung nicht aufgeben, sollen von dieser Finanzhilfe aber ausschließlich das Gesundheits- und das Bildungswesen profitieren. Die US-Regierung weigert sich nach wie vor, Transferaktionen für die Gehälter der meisten der rund 160000 palästinensischen Verwaltungsangestellten zuzulassen. Sie haben ihr Geld für März und April noch nicht bekommen, und sie werden aller Voraussicht nach auch ihre Maigehälter einstweilen nicht bekommen. Da sie dennoch ihren Lebensunterhalt irgendwie bestreiten müssen, ist Abwesenheit vom Arbeitsplatz zu einer verbreiteten Erscheinung geworden. Das Gesundheitswesen vor allem im Gazastreifen ist am Rande des Zusammenbruchs. Patienten, die auf Behandlungen wie Chemotherapie und Dialyse angewiesen sind, können nicht mehr ausreichend versorgt werden. Am Dienstag voriger Woche wurden in den Palästinensergebieten plötzlich auch Benzin, Heizöl und Gas knapp. Der einzige Lieferant, das israelische Unternehmen Dor Alon, hatte die Zufuhr komplett gekappt, weil Rechnungen in Höhe von fast 30 Millionen Dollar nicht bezahlt worden waren. Am Freitag wurden die Lieferungen jedoch schrittweise wieder aufgenommen, nachdem Mahmud Abbas Dor Alon telefonisch die Bezahlung der Außenstände zugesagt hatte. Der Vorgang lenkte die Aufmerksamkeit auf die wenig bekannte Tatsache, daß der Palästinenserpräsident über riesige Finanzmittel verfügt, die er bisher nicht zur Überbrückung der akuten Krise eingesetzt hat: Abbas wird die Rechnungen aus dem Palestine Investment Fund (PIF) bezahlen, der ein Volumen von bis zu 1,3 Milliarden US-$ hat. Arafat hatte in den 90er Jahren Hunderte Millionen Dollar aus dem PLO-Vermögen gewinnbringend (und nicht völlig durchschaubar) angelegt. Im Jahr 2004 wandelte der damalige palästinensische Finanzminister diese Anlagen in den PIF um. Der Fund ist dem Finanzministerium unterstellt, das auch die Einsetzung des Vorstands vornimmt. Oder richtiger gesagt: So war es bis vor kurzem. Neun Tage nach dem Sieg von Hamas bei der Parlamentswahl vom 25. Januar ordnete Abbas an, daß der PIF künftig vom Präsidenten kontrolliert wird. Etwa zur gleichen Zeit verschaffte sich Abbas durch die Fatah-Mehrheit im alten Parlament noch schnell außergewöhnlich weitgehende Vollmachten zu Lasten der Regierung.
 
Mahmud Abbas und seine Fatah spielen bisher beim von der US-Regierung geplanten »Regimewechsel« mit, statt angesichts der starken äußeren Bedrohung die palästinensische Einheit in den Vordergrund zu stellen. Abbas hat explizit darauf hingewiesen, daß er das verfassungsmäßige Recht hat, jederzeit die Regierung abzusetzen und das Parlament aufzulösen. Die Fatah-Milizen haben durch zahlreiche bewaffnete Aktionen gegen Gebäude der Verwaltung, einschließlich einer Besetzung des Parlaments, deutlich gemacht, daß sie selbst auf das Risiko eines Bürgerkriegs hin das Wahlergebnis »korrigieren« wollen. Bisher jedoch hat sich zum Glück die bewährte »Beißhemmung« letztlich auf beiden Seiten als stärker erwiesen, auch wenn bei Schießereien schon mehrere Todesopfer zu beklagen waren.
 
Quelle: JUNGE WELT vom 16. 5. 2006
http://www.jungewelt.de/2006/05-16/001.php
Hervorhebungen durch die Redaktion