"Bildungsraum Schweiz" - die Büchse der Pandora

Abstimmung vom 21. Mai 2006 : Bundesbeschluss über die Neuordnung der Verfassungsbestimmungen zur Bildung - Im Bundesbüchlein behauptet der Bundesrat, die Vorlage sei das Ergebnis einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen. In Wirklichkeit ist sie die langjährige Strategie eines einzelnen Mannes, des Bildungspolitikers Hans Zbinden SP:

Gemäss www.parlament.ch geht der Bundesbeschluss auf die im Nationalrat eingereichte und von Regine Aeppli und weiteren 33 Nationalräten aus dem rot-grünen Lager mitunterzeichnete Parlamentarische Initiative vom 30.4.1997 von Hans Zbinden SP zurück.
Sie fordert u.a.: Einen europakompatibeln und entwicklungsoffenen „Bildungsraum Schweiz“ zu schaffen mit voraussetzungsloser Bundeskompetenz. Bundesrat und Nationalrat lehnten zuvor eine Parlamentarische Initiative für einen Bildungsrahmenartikel in der Bundesverfassung ab, da sie gegenüber den Kantonen nicht eine weitere Konfliktfront eröffnen wollten. 
 
1990 erstellte Zbinden den Bericht „Grundlagen für eine ökologische Bildungsoffensive“ für den WWF und bezeichnet dort alle Einfallstore für eine revolutionäre Umkrempelung des Bildungswesens. Dabei steht die Zentralisierung an erster Stelle. Gleichzeitig stösst Zbinden 1990 mit der Motion „Ökologische Bildungsoffensive“ im Nationalrat den von ihm vorgezeichneten Veränderungsprozess an. In Bericht heisst es u.a.:
 
„Das Fehlen eines eigentlichen koordinierten Bildungswesens wird auch die Verwirklichung eines gesamtschweizerischen ökologischen Bildungskonzeptes erschweren. (…) Dass die ökologische Bildung immer ein Weltbild (Vorstellungen über das Funktionieren der Welt) und Weltanschauungen (Werte und daraus abgeleitete Wunschwelten) voraussetzt, macht sie über das Fachwissenschaftliche hinaus zu einer Interessen vertretenden und damit politisch wirksamen Kraft. Auch in dieser Hinsicht ist sie nicht ohne Widerstände in das sich wertneutral verstehende Bildungswesen einzufügen. (s.6/7) Im Hinblick auf die Reichweite kann man im Bildungswesen auf verschiedenen Ebenen eingreifen. Die abstrakteste und allgemeinste Ebene ist die der politischen Normen (Gesetze). Die nächstuntere Ebene ist diejenige der vollziehenden Organe. Das können Lehrerbildungsstätten, pädagogische Stellen oder gar einzelne Erziehungsdirektionen sein. Eine weitere Ebene bilden die koordinierenden und einflussreichen Organisationen im Bildungswesen. Sie reichen vom Dachverband Schweizer Lehrer/-innen LCH bis hin zu den Elterngruppen von Tagesschulen. Die nächsttiefere Ebene besteht aus Bildungsprogrammen (Lehrpläne, Lehrmittel). Ihr folgt als unterste Interventionsebene diejenige der einzelnen Bildungsprojekte, die zeitlich und örtlich beschränkt sind. (S. 22/23)“.
 
Im „Tagesanzeiger“ vom 25.10.1990 veröffentlichte Zbinden einen ganzseiten Artikel mit dem bezeichnenden Untertitel  „Wie es in der Schweizer Bildungspolitik zu einer Wende kommen könnte“ (TA 25.10.1990). „Die Schulhäuser sind soweit wie möglich in örtliche und regionale Gemeinschaftslernzentren für alle Altersklassen umzugestalten. Von ihnen aus werden die zahlreichen Bildungsangebote privater (!) und öffentlicher Art in der Umgebung koordiniert. (…) ..eigentlich alles in unserem Lande so zu belassen, wie es war. Weil eine neue Schule unweigerlich auch zu einer anderen Gesellschaft führen würde?“
 
Die 12 Bildungsthesen der SP Schweiz an der Delegiertenversammlung vom
31. März 2001  in  Neuenburg wurden im Auftrag der Geschäftsleitung durch Hans Zbinden ausformuliert.
 
Wann sind sich die Kantone schon einmal einig? Infolgedessen kann der Bund seine Macht fast immer voll entfalten. Das würden ihm vor allem die folgenden Artikel erlauben:
 
Art. 48a4 Abs. 1 Bst. b und c sowie Abs. 3
1 Auf Antrag interessierter Kantone kann der Bund in folgenden
Aufgabenbereichen interkantonale Verträge für allgemein verbindlich
erklären oder Kantone zur Beteiligung an interkantonalen Verträgen
verpflichten:
b. Schulwesen hinsichtlich der in Artikel 62 Absatz 4 genannten
Bereiche;
c. kantonale Hochschulen;
 
Art. 62 Abs.  4
4 Kommt auf dem Koordinationsweg keine Harmonisierung des
Schulwesens im Bereich des Schuleintrittsalters und der Schulpflicht,
der Dauer und Ziele der Bildungsstufen und von deren Übergängen
sowie der Anerkennung von Abschlüssen zustande, so erlässt der
Bund die notwendigen Vorschriften.
 
 
Kommentare:
 
Stille Revolution im Schweizer Bildungswesen. In seiner Neujahrsbotschaft 2006 würdigt der LCH-Zentralpräsident die neue Bildungsverfassung und wagt einen Ausblick auf das Schweizer Bildungswesen in zehn Jahren. Schule und Weiterbildung sind nicht Bundessache! von Pierre-Gabriel Bieri, Centre Patronal, Lausanne. Die Vereinheitlichung der kantonalen Schulsysteme auf Bundesebene ist weder nötig noch wünschenswert. Ebensowenig ist es die Einmischung des Bundes in die berufliche Weiterbildung. Soll das Schweizerische Bildungswesen EU-kompatibel werden?
Am 21. Mai stimmen wir über zehn Verfassungsartikel ab, die einen «Bildungsraum Schweiz» schaffen wollen (vgl. den obenstehenden Artikel des Centre Patronal). Es stellt sich die Frage, inwieweit die geplanten Reformen die Schweiz in einem weiteren sensiblen Bereich an die EU angleichen sollen. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf ein Gutachten, das die Konferenz der Kantonsregierungen KdK im Jahr 2001 in Auftrag gegeben hat. Die Studie sollte die notwendigen Reformen ausloten, die die Kantone (und auch der Bund) im Hinblick auf einen künftigen EU-Beitritt in Angriff nehmen müssten.
ww. Das schweizerische Bildungswesen ist föderalistisch konzipiert. Die Zuständigkeiten liegen primär bei den 26 Kantonen. Dementsprechend vielfältig sind die Wege und Lösungen in Bildungsfragen. Die Kompetenzen des Bundes beschränken sich im wesentlichen auf die Regelung und Förderung der beruflichen Ausbildung, der Fachhochschulen und der kantonalen Universitäten - sowie auf die Führung der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH.

Wie regelt die EU die Bildung? Seit dem Maastrichter und dem Amsterdamer Vertrag (1992 und 1997) besitzt die EU-Zentrale gegenüber ihren Mitgliedern eine ausdrückliche Mitzuständigkeit im Bildungswesen. Die EU soll vor allem Fragen regeln, die in den Augen der EU-Verantwortlichen besser geeignet sind, auf der «Gemeinschaftsebene» gelöst zu werden. Der Bildungsbegriff wird in der EU weit gefasst und umfasst alle öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen vom Kindergarten bis zum Hochschulwesen und der Weiterbildung. Brüssel trat bisher im wesentlichen als «rahmensetzender Organisator» auf. In diesem Zusammenhang sind zahlreiche Programme zu erwähnen. An einzelnen hat sich die Schweiz bereits beteiligt. Der Gutachter der KdK, Rainer Schweizer (Professor für Europarecht an der Universität St. Gallen), schreibt, dass die föderative Organisation des schweizerischen Bildungswesens für die Umsetzung der EU-Programme keineswegs die «optimalen Voraussetzungen» bietet. Bei einer weiteren Annäherung an die EU oder einem Beitritt müsste der Bund vermehrt die Kompetenz erhalten, über Bildungsprogramme zu verhandeln, wobei er aber kantonale Interessen soweit als möglich zu berücksichtigen hätte. (Art. 54 BV 3 BV) Der Gutachter kommt zu folgendem Schluss: «Um die notwendige Effizienz und Flexibilität erreichen zu können, scheint eine weitere Zentralisierung von Bildungszuständigkeit unvermeidlich zu sein. [...] Bei einem Beitritt zur EU wäre die Schweiz ungeachtet ihrer föderativen Organisation im Bildungswesen dazu verpflichtet, die Inhalte aller EU-Programme einheitlich umzusetzen.» Schweizer empfiehlt, dass interkantonale Organe den Bund darin unterstützen.

Als Beispiel sind hier einige Programme erwähnt, die das Spektrum der EU-Bildungspolitik aufzeigen: Erasmus (Hochschulzusammenarbeit), Comenius (Schulbildung), Leonardo da Vinci I und II (Berufsbildung), Commett II (Aus- und Weiterbildung), Eurydice und Arion (offener Unterricht und Fernlehre), Sokrates (Aktionsprogramm für allgemeine Bildung), Lingua (Fremdsprachen) und andere mehr. Rainer Schweizer kommt zum Schluss, dass der Verlust an eigenen Gestaltungsmöglichkeiten durch die Kantone beträchtlich wäre. Durch die EU-Programme könnten sich vor allem für die kleineren Sprachregionen Nachteile ergeben. Diese hätten Mühe, zusätzlich zu den Anstrengungen, ihre eigene Identität zu erhalten, noch den besonderen Bildungsanstrengungen der EU gerecht zu werden.
«Die Kantone vor der Herausforderung eines EU-Beitrittes» - so bezeichnete die Konferenz der Kantonsregierungen ihre Studie im Jahr 2001. Besteht eine Verbindung zum Projekt «Bildungsraum Schweiz»? Nicht nur das bewährte Bildungswesen, sondern auch der Föderalismus steht zur Debatte. Zeit-Fragen wird diesen Fragen weiter nachgehen.
1 Konferenz der Kantonsregierungen KdK (Hrsg.), Die Kantone vor der Herausforderung eines EU-Beitritts (Bericht der Arbeitsgruppe «Europa-Reformen der Kantone»), Zürich 2001, S. 27 ff.