Cynthia Rush - Argentinien: Der "Mann der Banken" muß gehen

Präsident Kirchner hat Finanzminister Lavagna, den Mann des IWF, zum Rücktritt gezwungen. Jetzt wartet er darauf, daß die Bankiers den nächsten Fehler machen. Bankiers und Spekulanten in London, New York und anderswo waren wie vor den Kopf gestoßen, als am 28. November 05 bekanntgegeben wurde, daß Argentiniens Finanzminister Roberto Lavagna auf Wunsch des Präsidenten Nestor Kirchner zurückgetreten war. Schon seit der Kongreßwahl am 23. Oktober, die Kirchner deutlich den Rücken stärkte, lief das Gerücht um, Lavagna müsse vielleicht bald den Hut nehmen. Die Wahl brachte lange schwelende Spannungen und politische Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Präsidenten und seinem Finanzminister an die Oberfläche. Dennoch dachten nur wenige, daß Kirchner tatsächlich den Mut aufbrächte, Lavagna zu entlassen. Schließlich war Lavagna der Gewährsmann des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der mit diesen verbündeten Spekulanten, die Kirchner als Populisten abkanzeln, weil er ihren Freihandelswahn nicht mitmacht. Je mehr das Weltfinanzsystem bröckelt und Kirchner mutig die Interessen der Bevölkerung gegen den IWF verteidigt, desto wütender werden die Spekulanten und Freihandelsfanatiker, die gehofft hatten, die in den 90er Jahren begonnene Ausplünderung Argentiniens zu vollenden.

Und so waren sie schockiert, als Kirchners Stabschef Alberto Fernandez am Ende seiner Pressekonferenz am 28. November die Namen der neuen Außen-, Verteidigungs- und Sozialminister bekanntgab und Lavagnas Rücktritt bestätigte. (Die scheidenden Minister nehmen nun Kongreßsitze ein, die sie bei der Wahl im Oktober gewonnen hatten.) Und sie waren erst recht nicht begeistert darüber, daß Kirchner die Präsidentin der staatlichen Banco de la Nación, Felisa Miceli, als dessen Nachfolgerin auswählte.
Die sei doch ein Niemand, heulte die Finanzpresse. Ihr fehle der Einfluß und die politische Schlagkraft des "hochangesehenen" Lavagna. Sie werde auch in der Haushaltspolitik viel zu lasch sein. Ohne Lavagnas "mäßigenden Einfluß" im Kabinett werde Argentinien in die Katastrophe laufen und nach links abdriften, in die Ecke des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. Ein Ökonom der Universität Kalifornien schrieb gar, Lavagna sei die einzige "Stimme der Vernunft" in dem ganzen "Wahnsinn" gewesen.
Doch das ist Geschwätz aus einer vergangenen Welt. Tatsächlich liest Kirchner die Zeichen der Zeit und geht in einem vom Machtkampf in Washington geprägten weltweiten Umfeld sehr geschickt vor. Die Offensive von Lyndon LaRouches Bewegung gegen Dick Cheney und der zunehmende Einfluß der LaRouche-Jugendbewegung im US-Kongreß schaffen ein Klima, in dem wichtige Teile der Institutionen den Kopf des Vizepräsidenten fordern und das Wort von der "Ära nach Cheney" umgeht.
Wie LaRouche selbst sagt: Dieser Kampf in den USA macht Geschichte. Und die Entwicklung in Argentinien ist vor allem deshalb so bedeutsam, weil sie sich mit diesem Machtkampf überschneidet. Wie viele ausländische Regierungschefs ahnt Kirchner, was sich da in Washington zusammenbraut. Aber gleichzeitig unterschätzt er auch nicht die Gefahr, daß Cheneys verzweifelte finanzoligarchische Hintermänner versuchen werden, ihren Feinden zu schaden, soviel und solange sie es noch können.
Cheneys Neokonservative leiden noch unter der Niederlage, die sie auf dem Amerikagipfel am 4.-5. November 2005 erlitten, als Kirchner und der brasilianische Präsident Lula da Silva gemeinsam den Plan für die Freihandelszone der Amerikas FTAA aufhielten. Bevor er bei der Eröffnungssitzung der Staatschefs seine flammende Rede gegen die IWF-Politik hielt (siehe Ausgabe 47/2005), warnte Kirchner persönlich US-Präsident George W. Bush, wenn der Fonds auf weiteren Sparmaßnahmen als Vorbedingung für ein Abkommen mit Argentinien bestehe, werde das Land aus dem Fonds austreten.
Eine Falle für die neuen Napoleons
LaRouche merkte dazu an, Kirchner positioniere sich so, daß die faschistischen modernen "Napoleons der Globalisierung" Fehler machen müssen. Die internationalen Banken würden, wütend über Kirchners herausforderndes Handeln, völlig unannehmbare Forderungen stellen. Und wenn Kirchner diese dann ablehne, werde er ganz Iberoamerika auf seine Seite ziehen. Das sei Kirchners Falle für die Bankiers. Inzwischen bringe der Präsident seine Leute so hinter sich, daß der bevorstehende Angriff der Finanzwelt seinem Land nicht allzusehr schaden könne. Kirchner hat seit dem Wahltag am 23. Oktober mehrfach betont, das gute landesweite Abschneiden seiner Partei "Siegesfront" gebe ihm ein Mandat, seine Politik zum Wiederaufbau des Landes entschlossener voranzutreiben. Dazu schart er eine Mannschaft vertrauter Verbündeter um sich, die seine "Abweichler"-Politik mittragen. Die Lage ist jetzt ganz anders als im Mai 2003, als er mit nur 22 % Stimmenanteil ins Amt gelangte und sich daher genötigt fühlte, Lavagna als Finanzminister zu behalten, obwohl der ganz andere Ziele verfolgte und zu Kirchners Feind, dem scheidenden Präsidenten Eduardo Duhalde, hielt.
Kirchner treibt nun seine Kampagne zur Verteidigung des Gemeinwohls energischer voran. Er betont besonders, daß der Staat eine aktivere Rolle bei der Steuerung der Wirtschaftsentwicklung und zur Sicherung der Chancengleichheit für alle spielen muß. In einer Rede im Präsidentenpalast, der Casa Rosada, bekräftigte Kirchner am 29. November seine Entschlossenheit, "den Wandel in Argentinien weiter zu vertiefen und die drängendsten Probleme weiter anzupacken". Und er sagte: "Wir wissen, daß wir nur einen kurzen Augenblick in der Geschichte darstellen, und daß wir die Antworten, die dieser kurze Augenblick in der Geschichte fordert, liefern können."
Als sich Lavagna am 22. November in seiner Rede vor der 53. Jahresversammlung des Verbands der argentinischen Bauindustrie diesen optimistischen Plänen entgegenstellte, war sein Schicksal besiegelt. "Man sollte die Fähigkeit des Staates, in bestimmten Bereichen zu handeln, nicht überschätzen", sagte Lavagna. Er warf den Spitzen der Bauwirtschaft vor, Kartelle zu bilden, um die Preise für öffentliche Bauvorhaben in die Höhe zu treiben und so höhere Gewinne einzustreichen. Das erboste den Präsidenten, der darin einen unverhüllten Angriff auf seinen engen politischen Verbündeten, Planungsminister Julio de Vido, sah. De Vidos Infrastrukturprogramm ist ein zentraler Bestandteil von Kirchners Plan zum Wiederaufbau der Industrie. Und so unterstrich Kirchner in seiner eigenen Rede vor dem Baukongreß: "Es ist ganz entscheidend, daß man versteht, daß öffentliche Arbeiten für jedes Land wesentlich sind. Das sind keine unproduktiven Staatsausgaben, wie manche ,Statistiker' gerne sagen." Sinnvolle, produktive Investitionen in die Infrastruktur seien die beste Inflationsbekämpfung.
Anders als Lavagna stimmt die neue Finanzministerin Lisa Miceli ganz mit Kirchners Ziel überein, die Last der Auslandsschulden zu verringern, und sie ist dagegen, daß der IWF dem Land ein wirtschaftspolitisches Korsett verpaßt. Als Präsidentin der Banco de la Nación seit 2003, und früher schon als Leiterin der staatlichen Banco de la Provincia 1983-87, weiß Miceli die entscheidende Bedeutung des Staates für die Lenkung der wirtschaftlichen Entwicklung und die Verteidigung des Gemeinwohls richtig zu würdigen. Der IWF wollte, daß diese beiden Banken privatisiert werden. Micelis Ernennung ist auch wichtig für die laufende Diskussion innerhalb des Argentinischen Industrieverbands UIA für und wider eine nationale Entwicklungsbank, die mit langfristigen, niedrigverzinsten Krediten die Industrie wiederaufbauen hilft, womit auch die Bevölkerung mehr Arbeitsplätze, eine bessere Ausbildung und einen höheren Lebensstandard erhält. Im allgemeinen hat der UIA Kirchners Wirtschaftspolitik eher unterstützt.
Und Brasilien?
Zwei Tage nach Lavagnas Abgang saß Kirchner im Flugzeug nach Puerto Iguaçu in Brasilien, wo er Präsident Lula da Silva für seine ehrgeizigen Pläne zum 20. Jahrestag des Integrationsabkommens der beiden Nationen aus dem Jahre 1985 gewinnen wollte.
Der Wirtschaftsriese Brasilien ist für Kirchner eine echte Herausforderung, weil Lula die vom IWF diktierte verheerende Politik seines Finanzministers Antonio Palocci mitträgt und damit ein enges politisches Bündnis beider Länder bisher verhindert hat. Weil er sich beim IWF nicht unbeliebt machen wollte, hat Präsident Lula Argentinien im Kampf gegen die Bankiers nicht unterstützt und damit für Spannungen zwischen den Ländern gesorgt.
Doch inzwischen ist der Widerstand gegen Paloccis Politik in Brasilien selbst so stark, daß sich neue Möglichkeiten eröffnen. Anfang November gab es sogar schon das Gerücht, Palocci müsse gehen. Lula stellte sich dann zwar auf Druck der Wall Street klar hinter ihn, aber der Ausgang des Streits bleibt offen. Und Lula, ein alter Gewerkschaftsaktivist, sorgt sich ehrlich um das Wohlergehen seiner Bevölkerung. Das findet u.a. seinen Ausdruck darin, daß er neuen Meldungen zufolge gerade eine Biographie von Franklin D. Roosevelt liest, und daß er durch die Umleitung des Flusses São Francisco den armen Nordosten Brasiliens in ähnlicher Weise entwickeln will wie Roosevelt das Tennesseetal.
Daran appellierte Kirchner in seiner zuversichtlichen und sehr persönlichen Rede in Iguaçu. Er betonte, Brasilien und Argentinien müßten wie auf dem Amerikagipfel weiter entschlossen als Team zusammenarbeiten, um eine Achse für das Zusammenwachsen ganz Südamerikas zu bilden. Auch Argentiniens Verhandlungen mit dem IWF standen auf der Tagesordnung, aber das Ergebnis der privaten Unterredung der beiden Präsidenten ist noch nicht bekannt. Es heißt aber in Punkt 4 des Abschlußkommuniqués des Gipfeltreffens: "Die Präsidenten Lula und Kirchner werden hinsichtlich der multilateralen Kreditinstitutionen gemeinsam die Haltung vertreten, daß es vermieden werden muß, Konditionen zu erzwingen, welche die Fähigkeit von Regierungen beeinträchtigen, eine Politik für Wachstum, menschenwürdige Arbeit und soziale Einbeziehung zu betreiben."
Neue Solidarität Nr. 49 vom 7.12.2005