Europäisches Roulette 14.03.2021 18:53
EU-Politiker und -Behörden agitieren gegen einen Impfstoff aus Russland, verzögern damit Impfungen und setzen Menschenleben aufs Spiel.
Mit neuen Attacken, so »German Foreign Policy«, gegen den Covid-19-Impfstoff Sputnik V setzt Brüssel den Machtkampf gegen Russland fort, dies auf Kosten von Menschenleben. Eine Notfallzulassung des Vakzins sei »russisches Roulette«, erklärte eine Mitarbeiterin der EU-Zulassungsbehörde EMA, während der Außenminister der Slowakei sogar behauptet, der Impfstoff dürfe nicht genutzt werden, weil er ein »Instrument des hybriden Krieges« sei, den Russland gegen den Westen führe.
Ob
der Antrag einer Firma aus der Schweiz, das russische Vakzin in einem ihrer
Werke in Norditalien in Lizenz zu produzieren, genehmigt wird, ist noch
ungewiss: Der Machtkampf der EU gegen Russland steht einer Ausweitung der
Impfungen mit Hilfe von Sputnik V immer noch im Weg, auch wenn sie zahlreiche
Menschenleben retten könnte. Gleichzeitig mit dem Streit um das russische
Vakzin heizt die EU den Konflikt mit Großbritannien um Impfstofflieferungen an
und verhandelt mit dem bisher einzigen Land neben ihr, das Exporte von Vakzinen
und deren Bestandteilen verhindert: Mit den Vereinigten Staaten.
Wirksamkeit:
91,6 Prozent
In
den Konflikten, die das Versagen der EU bei der Impfstoffbeschaffung ausgelöst
hat, ist in den vergangenen Tagen besonders der russische Impfstoff Sputnik V
in die Schußlinie geraten. Sputnik V, vom renommierten Moskauer Gamaleja-Institut
entwickelt und vom Staatsfonds RDIF ›Russian
Direct Investment Fund‹ finanziert, war
als eines der ersten Covid-19-Vakzine überhaupt bereits im Sommer 2020 per
Notfallzulassung einer größeren Zahl an Menschen verabreicht worden. Seine im
Westen allgemein verbreitete abschätzige Beurteilung ist kürzlich von der
weltweit anerkannten medizinischen Fachzeitschrift ›The Lancet‹ revidiert
worden: Eine präzise Analyse seiner Tests zeige, dass Sputnik V »eine durchgängige starke Schutzwirkung in allen
teilnehmenden Altersgruppen« entfalte, stellte ›The Lancet‹ Anfang Februar fest und bezifferte die Wirksamkeit auf 91,6 %. [1] Nach
wochenlanger Unklarheit hat die EU-Zulassungsbehörde EMA (European Medicines
Agency) in der Woche vom 11. März bestätigt, dass sie den Impfstoff mittlerweile
im sogenannten ›rolling review‹-Verfahren überprüft; dem könnte das
offizielle Zulassungsverfahren folgen. Der Antrag ist von R-Pharm Germany
gestellt worden, einem Traditionswerk in Illertissen bei Ulm, das einst Pfizer
gehörte und 2014 in den Besitz der russischen R-Pharm überging. [2]
Produktionsstätten
in aller Welt
Sputnik V, schon jetzt in mehr als 40 Ländern offiziell zugelassen, wird
inzwischen auch in ersten EU-Staaten genutzt. Ungarn hat bereits Mitte Februar
begonnen, den Impfstoff zu verabreichen; das Land hat davon 2 Millionen Dosen
plus 5 Millionen Dosen eines Vakzins von Sinopharm bestellt. [3] Insgesamt
konnte Ungarn inzwischen knapp 1,5 Millionen Dosen verimpfen. Damit hat das
Land eine Quote von 14,8 pro 100 Einwohner erreicht; Deutschland liegt bei 9,7.
Mittlerweile hat auch die Slowakei 2 Millionen Sputnik V-Dosen bestellt; eine
erste Lieferung ist bereits eingetroffen, sie soll in Kürze verimpft werden.
Als dritter EU-Staat bemüht sich jetzt Tschechien um Sputnik V und um den
Impfstoff von Sinopharm. Sputnik V soll darüber hinaus in der EU produziert
werden. Der RDIF hat dazu Anfang der Woche eine Vereinbarung mit der Schweizer
Firma Adienne getroffen, die das Vakzin in Italien herstellen will; weitere
Produktionsstätten in Deutschland, Spanien und Frankreich sind im Gespräch,
vorausgesetzt, die Behörden genehmigen dies, was allerdings keineswegs als
gesichert gilt. [4] Sputnik V soll in Zukunft zudem vom Torlak
Institut in Belgrad und außerhalb Europas von Unternehmen in Brasilien, Indien,
China und Südkorea produziert werden. Zuletzt hat Moskau auch Malaysia
angeboten, es beim Aufbau eines eigenen Werks zur Sputnik V-Lizenzproduktion zu
unterstützen: Mit russischem Know-how - wird
sein Botschafter in Kuala Lumpur zitiert -
könne es ›Impfstoff-Unabhängigkeit‹ erreichen. [5]
Kalte Impfstoffkrieger
Obwohl die EU weiter einen eklatanten Mangel an Impfstoffen beklagt,
erschweren Politiker und Behördenvertreter aus machtpolitischen Gründen die beginnende
Nutzung von Sputnik V: Mit der Lieferung des Impfstoffs und der Lizenzierung
seiner auswärtigen Produktion ist für Moskau der Aufbau neuer
Kooperationsmöglichkeiten verbunden; das läuft dem Bemühen Berlins und Brüssels
zuwider, Russlands Einfluß zurückzudrängen. Hatte
die EU zunächst auf Ungarn massiv Druck ausgeübt, Sputnik V nicht zu bestellen,
so suchte Kommissionspräsidentin Ursula
von der Leyen anschließend wenigstens Zweifel
zu säen: Sie »wundere sich«, dass Moskau »theoretisch Millionen und Abermillionen Dosen« anbiete, während es bei
der Impfung der eigenen Bevölkerung »nicht
ausreichend Fortschritte« erziele, monierte sie Mitte Februar.
[6] Ärmeren Staaten Vakzine zur
Verfügung zu stellen, auch wenn die eigene Bevölkerung noch nicht vollständig
geimpft ist, ist indessen eine zentrale Forderung internationaler
Organisationen. Am Sonntag, 7. 3., erklärte die Vorsitzende des EMA-Management
Boards, Christa Wirthumer-Hoche, sie rate ›dringend‹ von einer Notfallzulassung für
Sputnik V ab: Das Mittel zu nutzen sei wie ›russisches
Roulette‹. [7] In
der Slowakei hat die Bestellung des Vakzins sogar zu einer Regierungskrise
geführt: Es handle sich um ›ein
Instrument des hybriden Kriegs‹,
wird Außenminister Ivan Korcok zitiert. [8] Korcok, der die Nutzung des Impfstoffs
ablehnt, ist demnach bereit, Menschenleben zu opfern, nur um Moskau etwaige
Kooperationschancen mit europäischen Ländern zu nehmen.
Vorwürfe aus Brüssel
Zusätzlich zu den Auseinandersetzungen um Sputnik V entfacht Brüssel
seinen nächsten Konflikt mit Großbritannien. Hintergrund ist die weltweite
Kritik an den EU-Exportkontrollen für Vakzine, die die Union auf deutschen
Druck eingeführt hat, und vor allem an dem Exportstopp, den Italien und die EU
in der vergangenen Woche für eine Lieferung von 250.000 AstraZeneca-Dosen aus
Italien nach Australien verhängten. [9] EU-Ratspräsident Charles Michel hatte, um von
der Kritik an Brüssel abzulenken, behauptet, das Vereinigte Königreich habe »ein
komplettes Verbot des Exports von Impfstoffen oder Impfstoffbestandteilen« verhängt. [10] Die
Behauptung war schon zuvor in der EU kursiert. Belege dafür liegen nicht vor;
der britische Außenminister Dominic Raab bezeichnet die Aussage als »vollständig
falsch« und hat gestern den EU-Vertreter in London in das britische
Außenministerium einbestellt. Bereits am Dienstag, 9. 3., waren EU-Stellen dazu
übergegangen, nur noch von einem angeblichen ›vorläufigen de facto-Exportverbot‹ zu sprechen. [11] Gestern hat sich Michel darauf verlegt, recht
nebulös zu insinuieren, es gebe »verschiedene Wege, um Sperren oder
Beschränkungen für Impfstoffe« einzuführen.
[12] Schon im Streit um
Lieferverzögerungen bei AstraZeneca hatte die Kommission mit Falschaussagen
über den Liefervertrag operiert, um ihre Versäumnisse bei der Beschaffung der
Impfstoffe für ihre eigene Bevölkerung zu kaschieren. [13]
America first
Verhandlungen aufgenommen hat Brüssel inzwischen mit dem einzigen Land,
das, neben der EU, tatsächlich Exportbeschränkungen verhängt hat: Mit den
Vereinigten Staaten. US-Präsident Joe Biden hat - anders, als sich das manche erhofft hatten - die Executive Order, die sein
Amtsvorgänger Donald Trump am 8. Dezember 2020 erlassen hatte, nicht aufgehoben.
Sie sieht vor, dass Vakzine nur dann
exportiert werden dürfen, wenn alle US-Bürger umfassend versorgt sind. Zu den
Opfern gehört Kanada, das etwa einen Liefervertrag mit einem Pfizer-Werk im
US-Bundesstaat Michigan geschlossen hatte; von dort erhält es nun nichts. [14] Vor
einer Woche wies der Chef des ›Serum
Institute of India‹ (SII), das in
den vergangenen zwei Monaten nach eigenen Angaben 90 Millionen AstraZeneca-Dosen
in insgesamt 51 Länder geliefert hat, darauf hin, dass jetzt zusätzlich ein
globaler Mangel an Vorprodukten droht, die für die Impfstoffherstellung
unverzichtbar sind; diese werden vor allem in den USA hergestellt. Der Grund dafür
ist, dass die Biden-Administration Bestimmungen des ›Defense Production Act‹
aus dem Jahr 1950, der Zeit des Korea-Krieges, nutzt, um sämtliche verfügbaren
Ressourcen in die Produktion eigener Impfstoffe - vor allem bei Pfizer - zu
kanalisieren. Dementsprechend rechnet das SII unter anderem damit, schon in
Kürze mit ernsten Engpässen bei kritischen Rohmaterialien, Filtern und anderem
zu kämpfen zu haben. [15] Brüssel will, wie am Wochenende bekannt
wurde, mit Washington in Verhandlungen treten, um bevorzugte Lieferungen zu
erhalten.
Europäisches
Roulette
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8548/ 11. 3. 21
[1] Ian Jones, Polly Roy: Sputnik V COVID-19 vaccine candidate appears safe and
effective. thelancet.com 02.02.2021
[2] EMA starts rolling review of the Sputnik V COVID-19 vaccine. ema.europa.eu
04.03.2021
[3] Georgi Gotev: Russia's Sputnik V vaccine gets all-clear in Hungary.
euractiv.com 08.02.2021
[4] Henry Foy, Max Seddon, Silvia Sciorilli Borrelli: Russia seeks to make
Sputnik V in Italy as overseas demand surges. ft.com 10.03.2021
[5] Syed Jaymal Zahiid: Russia offers to share Sputnik V vaccine production
know-how with Malaysia, offering chance at vaccine independence. malaymail.com
10.03.2021
[6] Nikolaj Nielsen, Eszter Zalan: EU Commission casts doubt on Russian Sputnik
vaccine. euobserver.com 18.02.2021
[7] Russland kritisiert Arzneimittelagentur wegen Sputnik-V-Äußerung.
aerzteblatt.de 09.03.2021
[8] Thomas Gutschker, Stephan Löwenstein, Friedrich Schmidt: Spalten mit
Sputnik V. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.03.2021
[9] Siehe dazu Europa zuerst
[10] A Word from the President. nsl.consilium.europa.eu 09.03.2021
[11] Michael Peel, Sam Fleming, George Parker: UK slams EU over 'completely
false' claim of ban on vaccine exports. ft.com 09.03.2021
[12] Der Ton im Impfstreit wird schärfer. tagesschau.de 10.03.2021 [13] Siehe dazu Die
Impfstoffknappheit der EU (II)
[14] Adrian Morrow, Marieke Walsh: Biden upholds U.S.-first vaccine policy,
shutting door on Canada, for now. theglobeandmail.com 05.02.2021
[15] Chris Kay: Largest Vaccine Maker Warns of Delays as U.S. Prioritizes
Pfizer. bloomberg.com 04.03.2021
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