Kaschmir - Die Genese des Konflikts - Von Matin Baraki

Der 1947 in Afghanistan geborene Autor des nachfolgenden Berichts,

Dr. phil. Matin Baraki, arbeitete dort als Lehrer bevor er nach Deutschland kam. Heute ist er Sachverständiger für Afghanistan und entwicklungspolitischer Gutachter, Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung und Lehrbeauftragter für Internationale Politik an der Philipps-Universität in Marburg. Von Baraki finden sich mehrere Artikel über Afghanistan auf unserer homepage. 
 
Als infolge des antikolonialen Kampfes der nationalen Bewegung der Völker des indischen Subkontinents die britische Herrschaft in Indien nicht mehr zu halten war, griffen die Kolonisatoren nach der bewährten Methode
divide et impera,  um zumindest eine Verlängerung ihrer Herrschaft unter veränderten Umständen zu ermöglichen. Die ersten Maßnahmen waren darauf gerichtet, die antikoloniale Bewegung zu spalten, indem sie diese ethnisch-religiös darstellten bzw. zu beeinflussen suchten. Infolgedessen bildeten sich säkular orientierte Kräfte unter Führung Mahatma Gandhis und Jawahar Lal Nehrus und religiös orientierte unter der Regie der Muslim Liga von Mohammed Ali Jinah heraus.

Historische Hintergründe  
Sowohl Gandhi und Nehru als auch deren Kampfgefährte, der legendäre Paschtunenführer Abdul Ghafahr Khan, kämpften für die Befreiung des gesamten einheitlichen indischen Subkontinents. Während die Muslim Liga von M.A. Jinah die These der Zwei-Nationen-Theorie verbreitete, die dieser vor allem religiös   begründete, goss der britische Geheimdienst Öl ins Feuer, indem er in der Nacht Köpfe geschlachteter Kühe hinter die Türen der Hindus und zerrissene bzw. teilweise verbrannte Koranausgaben hinter die Türen der Muslime legen ließ.   Damit wurde der in der indischen Geschichte grausamste Bürgerkrieg mit gewalttätigen Massakern zwischen Hindus und Muslimen eingeleitet, wodurch die Teilung Indiens gerechtfertigt wurde und unausweichlich schien. Damit erreichte die britische Kolonialmacht ihr erstes Ziel. 

Um auch bei der künftigen Gestaltung des Subkontinents seinen gewichtigen Einflu
ß zu erhalten, entsandte Großbritannien Anfang des Jahres 1947 Lord Mountbatten als Vizekönig nach Indien, »um den Subkontinent in kürzester Zeit zu teilen«. Nach dem Mountbatten-Plan sollte innerhalb von lediglich hundert Tagen die Teilung Indiens vollzogen sein. Diese wurde am 15. August 1947 realisiert und verursachte unvorstellbares Chaos. Sie löste eine Fluchtbewegung bis anhin nicht gekannten Ausmaßes von insgesamt 16 Millionen Menschen aus,  da die Grenze zwischen den neu entstandenen Staaten, der Indischen Union einerseits und Pakistan andererseits, willkürlich inmitten des von verschiedenen Völkern besiedelten Punjabs gezogen wurde. Und nun flohen beiderseits der Grenze die Hindus nach Indien und die Muslime nach Pakistan. Während die indische Regierung unterschiedliche religiöse Bekenntnisse der Bevölkerung anerkannte, die weder die Teilung Indiens noch die spätere Teilung Kaschmirs rechtfertigen konnten, begründete die am 14. August 1947 neu aus der Taufe gehobene pakistanische Regierung ihre Existenz allein auf religiöser Grundlage und erhob den Anspruch, Repräsentantin aller Muslime auf dem indischen Subkontinent zu sein, darunter selbstverständlich auch der muslimischen Mehrheit von über 70% im Fürstenstaat Jammu und Kaschmir. Um diesem Anspruch Geltung zu verschaffen, fielen, veranlaßt durch pakistanische Stellen ab  dem 22. Oktober 1947, »einige tausend dem Islam anhängende Stammeskrieger, von der pakistanisch-afghanischen Grenze kommend, in den bereits von Unruhen erschütterten Westen von Jammu und Kaschmir ein. Sie verwüsteten und plünderten die Orte, die an ihrem Weg lagen und gelangten am 25. Oktober 1947 bis kurz vor die Hauptstadt Srinagar«. Diese Angehörigen der Bergstämme, die zuvor nur leichte Handfeuerwaffen kannten, setzten bei ihrer Invasion in Jammu und Kaschmir Panzer, Geschütze und sogar Flugzeuge ein. Von wem sie diese schweren Waffen erhalten hatten, darüber braucht man nicht allzu lange zu spekulieren.

Dieses Ereignis war die Geburtsstunde des nun seit über 72 Jahren währenden Konflikts, der seit 1947 zwischen Indien und Pakistan zu 4 Kriegen geführt hat,   3 davon im Streit um die strategisch wichtige Himalaja-Region Kaschmir, und dessen Ende noch immer nicht in Sicht ist. Um die Integrität seines Landes zu gewährleisten, erklärte der Maharadscha von Jammu und Kaschmir, Hari Singh, am 26. Oktober 1947 den Beitritt seines Landes zur Indischen Union und bat die indische Regierung in einem Schreiben um militärische Unterstützung. Diese   Beitrittserklärung wurde vom Vizekönig Mountbatten am 27. Oktober formal angenommen, und er riet dem indischen Premierminister Nehru, den Beitritt anzuerkennen. Auf dieser Grundlage leistete die indische Regierung Militärhilfe. Dieser erste indisch-pakistanische Krieg dauerte bis Ende 1948. Seit Januar 1948 war dann der UNO-Sicherheitsrat mit dem Konflikt befaßt. Auf Basis der Resolution der United Nations Commission for India and Pakistan (UNCIP) vom 13. August 1948 wurde am 1. Januar 1949 ein Waffenstillstand vereinbart, der eine Demarkationslinie auf der Höhe der zufälligen Kampflinien zwischen den Truppen beider Länder zog. Damit war auch die Teilung Kaschmirs vollzogen, die weitere indisch-pakistanische Kriege zur Folge hatte. Über den künftigen Status Kaschmirs sollte ein Plebiszit entscheiden. Dies geht aus einem Schreiben von Mountbatten an den Maharadscha Hari Singh hervor, auf das sich Pakistan seitdem immer wieder beruft. Dort heisst es u.a., »Die Frage des Beitritts sollte in Übereinstimmung mit den Wünschen des Volkes des Staates entschieden werden, es ist der Wunsch meiner Regierung, dass, sobald Recht und Ordnung in Kaschmir wiederhergestellt und sein Territorium von dem Invasor gesäubert ist, die Frage des Beitritts [...] unter Einbeziehung des Volkes entschieden werden sollte«. Abgesehen davon, dass von Recht und Ordnung in Kaschmir bis heute kaum die Rede sein kann und die Voraussetzung für ein Referendum ebensowenig erfüllt ist, »wurde Nehru klar, dass eine Volksabstimmung zugleich die eine oder andere Staatsidee antasten mußte. Entschieden sich die Mohammedaner Kaschmirs für Pakistan, mußte dies zugleich die Idee des säkularen Staates treffen; entschieden sie sich für Indien, wurde damit die Existenzberechtigung Pakistans verneint«.  

Was macht eigentlich das Großfürstentum Kaschmir, das vor fast 400 Jahren vom Mogulkaiser Jahangir als Paradies auf Erden gepriesen wurde, in unserer Zeit so begehrenswert? Abgesehen von bedeutenden Bodenschätzen wie Steinkohle, Erdöl, Eisenerzen, Nickel, Blei, Kupfer, Gold usw., genügt ein Blick auf die Landkarte, um dessen geostrategische Bedeutung zu erkennen. Das Land bildet einen Knotenpunkt, da es an die Volksrepublik China, an Indien, Afghanistan und Pakistan grenzt und nur durch einen schmalen Streifen von Kasachstan getrennt ist. Hier liegt die eigentliche Bedeutung dieses Landes und eine der Ursachen für die Entstehung des Konflikts.

Antagonistische aussenpolitische Orientierungen
Während Indiens Außenpolitik auf die Unterstützung des Befreiungskampfes der noch kolonialen Länder sowie Blockfreiheit ausgerichtet war, und indische Politiker schon im März 1947, d.h. am Vorabend der Unabhängigkeit, in Neu-Delhi zu der historischen Asian Relations Conference eingeladen hatten, um  über die Probleme des weiteren antikolonialen Kampfes und die Beziehungen zwischen den jungen Nationalstaaten zu beraten, leitete die pakistanische Regierung von Anfang an eine eindeutig westorientierte Außenpolitik ein. Deutlicher konnte der Kontrast nicht mehr werden, als am 8. September 1954 Pakistan Mitglied der von den USA ins Leben gerufenen South-East Asia Treaty Organization SEATO wurde, Indien aber zum Initiator und Gründungsmitglied der nichtpaktgebundenen Staaten und der Konferenz von 29 souveränen afrikanischen und asiatischen Staaten, die vom 18. bis 24. April 1955 in Bandung (Indonesien) stattfand. Die pakistanische Regierung legte noch eins drauf, als sie am 23. September 1955 ihren Beitritt zu dem von Großbritannien geführten Bagdadpakt erklärte. Pakistan hoffte, den Kaschmir-Konflikt mit der Unterstützung der Central Treaty Organization CENTO aus einer Position der Stärke lösen zu können. Hätte die indische Regierung von ihrer unmoralischen Blockfreiheitpolitik  - wie es der damalige US-Außenminister John Forster Dulles drastisch formulierte -  Abstand genommen, und wäre sie den vom Westen gegründeten Bündnissen in irgendeiner Form beigetreten, hätte es in den letzten 72 Jahren womöglich überhaupt keinen Kaschmir-Konflikt gegeben.

Die Proklamation Pakistans zur Islamischen Republik am 23. März 1956 sollte dem Anspruch, legitimer Vertreter der in Kaschmir lebenden Muslime zu sein, weiteren Nachdruck verleihen. Nachdem am 17. November 1956 die verfassunggebende Versammlung von Jammu und Kaschmir den Beitritt zur Indischen Union beschlossen und am 26. Januar 1957 eine Verfassung für Kaschmir in Kraft gesetzt hatte, in der festgelegt ist, dass ganz Kaschmir ein integrierender Bestandteil der Republik Indien ist, wurde am 27. Januar auf der Grundlage von Art.370 der bereits 1947 vollzogene Beitritt zur Indischen Union verfassungsrechtlich sanktioniert.

Die ökonomische und innenpolitische Krise in Pakistan veranlaßte das Militär am   27. Oktober 1958 unter Führung von Feldmarschall Ayub Khan zu einem Putsch. Die Militarisierung von Pakistans Innen- und Außenpolitik und die Aufnahme   Kaschmirs in die Indische Union verschärften die Spannungen um die Kaschmir-Frage, die im September 1965 in dem zweiten indisch-pakistanischen Krieg kulminierten. Während die Volksrepublik China Drohungen an die Adresse Indiens richtete, vermittelte der Ministerpräsident der Sowjetunion Alexej Kossygin in Taschkent zwischen den Konfliktparteien. Als Ergebnis schlossen der indische Ministerpräsident Lal Bahadur Shastri und Pakistans Präsident Ayub Khan einen Waffenstillstand und einigten sich nach ArtikelI der Tashkent Declaration vom 10. Januar 1966 dahingehend, auf eine gewaltsame Konfliktlösung zu verzichten; auf der Grundlage des Artikels XI der Tashkent Declaration waren weitere Treffen auf höchster Ebene vereinbart worden. Da diese jedoch nicht zustande kamen, fand vom 1. bis 2. März 1966 in Rawalpindi eine Begegnung der Außenminister Indiens und Pakistans statt. Obwohl danach  intensive diplomatische Aktivitäten folgten, konnte die Spannung zwischen beiden Ländern nicht minimiert werden. Stattdessen polemisierten die Kontrahenten gegeneinander und warfen sich gegenseitig vor, dafür verantwortlich zu sein, dass es nicht zur Lösung des Kaschmir-Konflikts gekommen war. Der Bau einer Strasse mit Hilfe der Volksrepublik China im Jahr 1969, die Kaschmir mit Sinkiang verband und welche die strategische Lage dieses Raumes zu Ungunsten Indiens veränderte, sowie die Verhaftung einiger pro-pakistanischer Politiker in Kaschmir verschärften die Spannungen weiter.  Durch die Entführung eines Flugzeugs der Indian Airlines Ende Januar 1971 durch separatistische Kaschmiri nach Lahore (Pakistan), wo die Maschine in die Luft gesprengt wurde und die Entführer Asyl erhielten, erreichten sie einen vorläufigen Höhepunkt. Das Jahr 1971 war in der Geschichte der pakistanisch-indischen Beziehungen von mangelnder Dialogbereitschaft und durch gegenseitiges diplomatisches Anprangern auf dem internationalen Parkett geprägt. Dies führte gegen Ende des Jahres (3. Dezember 1971) zum 3. indisch-pakistanischen Krieg, der schon am 16. Dezember 1971 zur Niederlage Pakistans und zur Abtrennung Ostpakistans als unabhängiger Staat unter dem Namen Bangladesch führte.

Diese Kriegsereignisse verhinderten die zuvor vereinbarten weiteren Treffen auf höchster Ebene. Erst mit der Amtsübernahme Zulfikar Ali Bhuttos am 20. Dezember 1971 als neuer Ministerpräsident Pakistans kam es vom 28. Juni bis 2. Juli 1972 zu einem Zusammentreffen zwischen der indischen Ministerpräsidentin Indira Gandhi und Z.A. Bhutto in Simla (Nordindien). In dem am 2. Juli 1972 von I. Gandhi und Z.A. Bhutto persönlich unterzeichneten Abkommen von Simla verpflichteten sich beide Seiten, den Kaschmir-Konflikt auf friedlichem Weg lösen zu wollen. Jedoch leitete Z.A. Bhutto  - kaum aus Simla zurückgekehrt -  das pakistanische Atomprogramm ein, wovon er sich einen Abschreckungseffekt gegenüber Indien erhoffte: Dadurch würde es zu einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses bezüglich der Lösung des Kaschmir-Problems zu Gunsten Pakistans kommen. Es dauerte jedoch gerade zwei Jahre, bis auch Indien nachzog und 1974 einen atomaren Sprengsatz zündete. Nun wissen wir es definitiv: Beide Länder haben im Mai 1998 insgesamt 11 unterirdische Atomtests, Indien am 11. und 13. fünf und Pakistan am 28. und 30. Mai sechs, durchgeführt.

Der Kaschmir-Konflikt ist für die Anrainerstaaten, aber auch für die internationale Politik, in mehrfacher Hinsicht von erheblicher Brisanz:

Erstens: Im Herbst 1959 hatte die Volksrepublik China einen Nacht-und-Nebel-Krieg gegen Indien durchgeführt und den nordöstlichen Teil von Jammu und Kaschmir besetzt. In einem weiteren Grenzkrieg besetzte China 1962  beträchtliche Gebiete im Nordosten Indiens, gliederte sie in seine Provinz Sinkiang ein und nannte sie einfach Aksai Chin. Als die Volksrepublik China am 16. Oktober 1964 ihre erste Atombombe zündete, war sie nicht mehr bereit, über die Rückgabe von Aksai« an Indien zu verhandeln. Diese Situation verstärkte die Position Pakistans  - das während sämtlicher bürgerlicher und Militärregimes mit China verbündet blieb -  gegenüber Indien und implizierte die Verschärfung weiterer Konflikte sowie eine defensivere künftige Haltung Indiens in der Kaschmir-Frage. Außerdem sind dadurch nicht mehr nur die neuen Atommächte Indien und Pakistan im Kaschmir-Konflikt involviert, sondern auch eine weitere Atommacht, die Volksrepublik China.     

Zweitens: Während sich die indischen Regierungen an die Vereinbarungen von Taschkent und Simla hielten, provozierten die pakistanischen Regierungen Indien unter anderem mit der Forderung der Durchführung eines Plebiszits, um den Kaschmir-Konflikt weiter am Kochen zu halten. Denn »obwohl es zynisch klingen mag, war und ist es der alles andere überlagernde Konflikt mit Indien, der Pakistan und seine divergierenden politischen und ideologischen Kräfte zusammengehalten hat«. Abgesehen davon, dass Pakistan zu keinerlei Forderungen an Indien legitimiert ist und durch den Beitritt Kaschmirs zur Indischen Union ein Plebiszit obsolet geworden ist, haben indische Regierungen betont, dass sie, wenn Pakistan sein Militär aus Kaschmir abziehen würde, bereit wären, eine Volksbefragung durchzuführen, obwohl diese nicht nur das Prinzip des säkularen Staates, dem Indien verpflichtet sei, bedrohen, sondern als Domino-Effekt die staatliche Einheit der Indischen Union gefährden könnte.

Die aktuelle Situation und ihre Ursache 
Am 14. Februar 2019 hatte ein Attentäter in der Nähe von Srinagar, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir, ein mit großen Mengen Sprengstoff beladenes Auto in einen Bus gelenkt. Dabei wurden über 40 indische Soldaten getötet. Dies war einer der verheerendsten Anschläge im indischen Teil Kaschmirs seit 30 Jahren. Im Jahre 2008 hatten islamistische Extremisten auch die indische Finanzmetropole Mumbai tagelang mit Terror überzogen; zu diesem Attentat bekannte sich die in Pakistan ansässige islamistische Terrororganisation Jahish-e Mohammad (JeM). Nach dem Anschlag begann die indische Armee mit einem Großeinsatz gegen die JeM. Dabei  entdeckten sie ein Versteck der Terroristen in der Nähe des Dorfes Pinglan auf dem Territorium Pakistans außerhalb Kaschmirs. Bei zwölfstündigen beiderseitigen Feuergefechten starben sieben Menschen, darunter vier indische  Sicherheitskräfte. Als die von Pakistan aus operierende JeM sich zu dem Terrorangriff offen bekannte, bombardierte die indische Luftwaffe ein Ausbildungscamp der JeM, das sich auf pakistanischem Territorium befindet. Daraufhin schoss die pakistanische Armee einen Kampfjet der Inder ab und nahm den Piloten Abhinandan Varthaman fest. Der pakistanische Premierminister Imran Khan kündigte jedoch kurz danach an, den Piloten freizulassen. Beobachter interpretierten dies als ein Schuldbekenntnis bzw. einen Wiedergutmachungsakt Pakistans, um die Krise zu entschärfen, wie die Zeitung «Dawn» aus Karachi am 1. März festhielt. Es ist bemerkenswert, dass dies das erste Mal ist, dass die Armee seit Beginn des Kaschmir-Konflikts Militärschläge auf der pakistanischen Seite öffentlich zugibt.

Die indische Regierung möchte den Führer von JeM, Maulana Masood Azhar, auf die Terrorliste der Vereinten Nationen setzen und beschwert sich, dass die Regierung der Volksrepublik China diese Maßnahme als Vetomacht blockiert. Die   staatlich gelenkte Global Times in Peking hat von der indischen Regierung in einer Stellungnahme solide Beweise gegen Azhar verlangt. Das ist im Grunde genommen eine durchsichtige Ausrede. Denn die JeM bezichtigt sich selbst, den Terrorakt begangen zu haben. Darüber hinaus ist die JeM in Pakistan offiziell verboten. Aber ihre Anführer bleiben im Lande unangetastet. Indische   Sicherheitsexperten heben immer hervor, dass JeM nach wie vor durch den pakistanischen Militärgeheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) beschützt  wird. Nach Darstellungen der indischen Regierung kämpfen mehrere extremistische Gruppen, die vom ISI gesteuert werden, gegen den indischen Staat. Beobachter aus der Region bestätigen, dass JeM zu jenen islamistischen Tarnorganisationen gerechnet wird, »die vom pakistanischen Militär und seinen Geheimdiensten finanziert, ausgerüstet, ausgebildet und mit Anschlägen in  Nachbarstaaten beauftragt werden«. JeM wäre allein niemals in der Lage, autonom zu agieren und solche Terroroperationen durchzuführen, betont der Antiterror-Experte und Direktor des Institute for Conflict Management Ajai Sahni. Maulana Masood Azhar war schon in den 1990er Jahren wegen  terroristischer Aktivitäten in Kaschmir verhaftet worden. Als er 1990 eine Maschine der Indian Airlines entführte und nach Kandahar in Afghanistan brachte, wo damals noch die Taliban herrschten, war er in einem Austausch gegen die Passagiere freigelassen worden.

Schon auf die Drohung Indiens hin hat der pakistanische Ministerpräsident Imran Khan angekündigt, seine Armee werde nicht zögern, zurückzuschlagen. In Indien wurde im April ein neues Parlament gewählt. Lange galt der amtierende Ministerpräsident Narendra Modi von der Bharatiya Janata Party (BJP) als Sieger. Aber inzwischen hatte die oppositionelle Congress Party aufgeholt. In dieser heißen Phase des Wahlkampfs wollte Modi die nationalistische Karte spielen und  ließ der Armeeführung freie Hand. Wenn überhaupt, wäre eine Militärreaktion  Indiens 2008, als die islamistischen Extremisten die Finanzmetropole Mumbai terrorisierten, angebracht gewesen. Dennoch: Wer die Verantwortung für die   jüngste Eskalation »des verfahrenen Konflikts zwischen den beiden  südasiatischen Atommächten Neu-Delhi zuschreibt, der zäumt das Pferd von hinten auf«. Die Eskalation des Konflikts zwischen Indien und Pakistan scheint vorerst abgewendet zu sein. Eigentlich haben beide Seiten kein Interesse an  einer Zuspitzung des Konflikts, weil sie wissen, was sie in sich birgt. Darüber hinaus gehen einige Analysten davon aus, dass Pakistan am Rande eines Staatsbankrotts steht und einen Krieg mit Indien gar nicht verkraften würde.  »Doch Pakistans staatlich gelenkter Terrorismus wird weitergehen«. Das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den beiden Atommächten Indien und Pakistan hat bis jetzt keine nennenswerte »Stabilität geschaffen, sondern konventionelle Kriege und hybride Kriegführung begünstigt. Darunter fällt Pakistans systematischer Einsatz islamistischer Terroristen für Attacken gegen Indien«. Das ist eine taktisch genau kalkulierte Politik Islamabads, denn islamische extremistische Terrorgruppen werden dem bankrotten Pakistan als »Handlanger […] eine kostengünstige irreguläre Kriegsführung, die Indien trotz seiner atomaren und konventionellen Übermacht ins Hintertreffen versetzt, ermöglichen. Militär und Geheimdienste erhalten den Konflikt mit dem größeren  Nachbarn aufrecht, da er den Machtanspruch der Generäle über den pakistanischen Staat zementiert. Und er dient der Vergeltung: Denn Kaschmir, Ursprung der Feindschaft, ist nicht der einzige wunde Punkt der Pakistaner. Indiens militärische Unterstützung für die Abspaltung Bangladeshs 1971, die Pakistan mit einem Schlag halbierte, hat das Militär bis heute nicht verschmerzt«.

Am 27. Februar berichtete die pakistanische Zeitung The Nation über die   Verhaftung von 44 verdächtigen Männern, die mit dem Terrorakt vom 14. Februar in Zusammenhang stehen sollen. Allerdings scheint die Regierung in Islamabad unentschlossen, den Führer der Terrorgruppe, Maulana Moaood Azhar, festzunehmen. Interessanterweise stehen die Namen von einigen Verhafteten in einem von der indischen an die pakistanische Regierung übergebenen Dossier. Indien identifizierte auch »Lager der Terrororganisation Jaishe-e Mohammad im Nachbarland«. Shehryar Khan Afridi, Staatsminister im pakistanischen   Innenministerium, verkündete, dass seine Regierung entschlossen sei, »den Rechtsstaat durchzusetzen, fänden sich Beweise gegen die Männer«. Die JeM hat sich ja selbst zu dem Terrorakt bekannt. Bessere Beweise kann es ja nicht geben. Die Inder sind skeptisch und sehen die Festnahmen eher als kosmetische Schritte an. Der indische Anti-Terror-Experte Ajai Sahni prognostiziert, dass »die Verwundbarkeit Indiens durch Terrorangriffe« auch in Zukunft weitergehen werde.

Schon früher gingen ausnahmslos alle Experten und Beobachter der Verhältnisse davon aus, dass die Gefahr einer atomaren Auseinandersetzung zwischen Indien und Pakistan jederzeit möglich ist. Im Jahr »1999 hätte Pakistan inmitten einer Auseinandersetzung mit Indien schon einmal fast seine Atomwaffen in Stellung gebracht«. Ein Atomkrieg »wäre nicht nur für beide Nachbarländer, sondern für die ganze Welt eine Katastrophe«, warnte die türkische Zeitung Milliyet am 1.  März. Pakistan fühlt sich im konventionellen militärischen Bereich Indien gegenüber unterlegen. Deswegen hat Islamabad vor einigen Jahren eine Doktrin der kompletten Abschreckung entwickelt, nämlich die full-spectrum deterrence, die einen nuklearen Erstschlag beinhaltet. Wobei Indien den Ersteinsatz von Atomwaffen als Antwort auf einen konventionellen Angriff seitens Pakistans ausschließt.  

Die Suche nach einer politischen Lösung des Konflikts wird deshalb immer dringlicher! Der damalige indische Ministerpräsident Atal Bihari Vajpayee hatte den pakistanischen Militärmachthaber Parvez Musharaf am 24. Mai 2001 zu Friedensgesprächen eingeladen, wobei es in erster Linie um eine Lösung des Kaschmir-Konflikts gehen sollte. Musharaf nahm die Einladung in einem Brief an den indischen Ministerpräsidenten vom 29. Mai 2001 offiziell an und wies darin auf die Bedeutung guter Beziehungen für die wirtschaftliche Entwicklung hin. Er griff die Kernaussage des indischen Ministerpräsidenten auf, indem er die Armut als den gemeinsamen Feind beider Völker bezeichnete. Pakistan sei an einem stabilen prosperierenden Indien, das in Frieden mit seinen Nachbarn lebe, interessiert und sei bereit, über den Kaschmir-Konflikt hinaus auch über alle anderen ungeklärten Fragen in den bilateralen Beziehungen zu sprechen. Zu hoffen bleibt, dass beide Seiten ernsthafte Anstrengungen unternehmen, um den seit mehr als einem halben Jahrhundert andauernden Konflikt friedlich beizulegen. Sind die Kontrahenten nicht in der Lage, oder nicht gewillt, wären die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit sowie die Blockfreien Staaten, wozu auch Indien und Pakistan gehören, geeignete Vermittler.

Vorschläge für eine politische Lösung des Konflikts
Zunächst, so Baraki, müssen alle am Konflikt beteiligten Parteien ohne Vorbedingungen zu Verhandlungen bereit sein. Auf der Tagesordnung sollten folgende Punkte stehen:

1.   Die völlige Demilitarisierung ganz Kaschmirs, d.h. des von der Volksrepublik China und des von Pakistan besetzten sowie des von Indien regierten, aber von Pakistan beanspruchten Teils, als Voraussetzung für eine mögliche Lösung des Konflikts.

2.   Es muß sichergestellt werden, dass alle Beteiligten absolute Zurückhaltung bezüglich Kaschmir an den Tag legen und keine weiteren Versuche unternehmen, die Situation in Kaschmir zu ihren Gunsten zu verändern.

3.   Vertrauensbildende Massnahmen, wie Gefangenenaustausch, Reiseerleichterungen (z.B. Aufhebung der Visapflicht) für alle Kaschmiris, wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit, gemeinsame Radio- und Fernsehsendungen usw., sollten vereinbart und durchgeführt werden. Vordringlich muß auch die Lösung der enormen sozialen Probleme, die nicht zuletzt durch den Konflikt verursacht worden sind, ernsthaft in Angriff genommen werden.

In weiteren Verhandlungen sollte es um die Wiedervereinigung der getrennten Teile Kaschmirs gehen, eingeschlossen die Rückgabe des von der Volksrepublik China besetzten Gebiets, d.h. um die Vereinbarung einer Autonomie für ganz Kaschmir, dies zunächst im Rahmen der Verfassung der Republik Indien. Am Ende sollte ein Referendum unter internationaler Aufsicht über die Selbstbestimmung Kaschmirs in einem angemessenen Zeitraum stattfinden. Ein Referendum am Anfang dieses ganzen Prozesses in einem von islamischen Fundamentalisten jahrelang vergifteten Klima würde hingegen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Separierung Kaschmirs von Indien unter der Führung dieser Islamisten zur Folge haben, zweifelsohne unter starker Abhängigkeit von Pakistan. Dies würde keinesfalls zum Frieden in Kaschmir und auf dem indischen Subkontinent beitragen. Im Gegenteil, Pakistan würde sich gegenüber Indien in einer Position der Stärke befinden, was Gefahren in sich birgt und eine mögliche dauerhafte Lösung des Konflikts eher erschweren würde. Daher muß von solchen verfrühten Maßnahmen dringend abgeraten werden.

4.  Wenn es zurzeit auch unrealistisch erscheinen mag, sollte doch im Ergebnis der vertrauensbildenden Maßnahmen langfristig auf eine Union zwischen Afghanistan, Indien und Pakistan hingearbeitet werden. Denn alle drei Länder haben eine zumindest seit der Mogulherrschaft gemeinsame Geschichte, Kultur und zum Teil auch Religion. Eine solche Union könnte sowohl den afghanisch-pakistanischen Grenzkonflikt im Stammesgebiet (Duran-Vertrag) sowie den Kaschmir-Konflikt auf einen Schlag lösen und die Region für längere Zeit stabilisieren.

Vermittler in einem Verhandlungsszenario, wie in Punkt 1 bis 3 dargelegt, wären meines Erachtens am besten die Blockfreien Staaten und die Konferenz der Islamischen Staaten, die als relativ neutrale Akteure von beiden Seiten akzeptiert würden. Der Ruf der kaschmirischen Völkerschaften nach Frieden ist unüberhörbar. Deren Freude über eine erneute faktische Grenzöffnung zwischen Indien und Pakistan am 21. Oktober 2008 war überwältigend. Es ist an der Zeit, diesem Wunsch endlich zu entsprechen.

  

Quelle:

https://www.zeit-fragen.ch/de/ausgaben/2019/nr-19-27-august-2019/kaschmir-die-genese-des-konflikts.html
Zeit-Fragen Nr. 19 vom 27. 8. 2019