Kaschmir - Die Genese des Konflikts - Von Matin Baraki 15.09.2019 20:53
Der 1947 in Afghanistan geborene Autor des nachfolgenden Berichts,
Dr. phil. Matin Baraki, arbeitete dort als Lehrer bevor er nach Deutschland kam. Heute ist er Sachverständiger für Afghanistan und entwicklungspolitischer Gutachter, Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung und Lehrbeauftragter für Internationale Politik an der Philipps-Universität in Marburg. Von Baraki finden sich mehrere Artikel über Afghanistan auf unserer homepage. Als infolge des antikolonialen Kampfes der
nationalen Bewegung der Völker des indischen Subkontinents die britische
Herrschaft in Indien nicht mehr zu halten war, griffen die Kolonisatoren nach
der bewährten Methode ›divide
et impera‹, um zumindest eine Verlängerung ihrer
Herrschaft unter veränderten Umständen zu ermöglichen. Die ersten Maßnahmen waren darauf
gerichtet, die antikoloniale Bewegung zu spalten, indem sie diese
ethnisch-religiös darstellten bzw. zu beeinflussen suchten. Infolgedessen
bildeten sich säkular orientierte Kräfte unter Führung Mahatma Gandhis und
Jawahar Lal Nehrus und religiös orientierte unter der Regie der Muslim Liga von
Mohammed Ali Jinah heraus.
Historische Hintergründe Sowohl Gandhi und Nehru als auch deren Kampfgefährte, der legendäre
Paschtunenführer Abdul Ghafahr Khan, kämpften für die Befreiung des gesamten
einheitlichen indischen Subkontinents. Während die Muslim Liga von M. A.
Jinah die These der ›Zwei-Nationen-Theorie‹ verbreitete, die dieser vor allem religiös begründete, goss der britische Geheimdienst Öl
ins Feuer, indem er in der Nacht Köpfe geschlachteter Kühe hinter die Türen der
Hindus und zerrissene bzw. teilweise verbrannte Koranausgaben hinter die Türen
der Muslime legen ließ. Damit wurde der in der indischen Geschichte
grausamste Bürgerkrieg mit gewalttätigen Massakern zwischen Hindus und Muslimen
eingeleitet, wodurch die Teilung Indiens gerechtfertigt wurde und
unausweichlich schien. Damit erreichte die britische Kolonialmacht ihr erstes
Ziel.
Um auch bei der künftigen Gestaltung des
Subkontinents seinen gewichtigen Einfluß zu erhalten, entsandte Großbritannien Anfang des
Jahres 1947 Lord Mountbatten als Vizekönig nach Indien, »um den Subkontinent in kürzester Zeit zu teilen«. Nach dem Mountbatten-Plan sollte innerhalb von
lediglich hundert Tagen die Teilung Indiens vollzogen sein. Diese wurde am 15.
August 1947 realisiert und verursachte unvorstellbares Chaos. Sie löste eine
Fluchtbewegung bis anhin nicht gekannten Ausmaßes von insgesamt 16 Millionen Menschen aus,
da die Grenze zwischen den neu
entstandenen Staaten, der Indischen Union einerseits und Pakistan andererseits,
willkürlich inmitten des von verschiedenen Völkern besiedelten Punjabs gezogen
wurde. Und nun flohen beiderseits der Grenze die Hindus nach Indien und die
Muslime nach Pakistan. Während die indische Regierung unterschiedliche
religiöse Bekenntnisse der Bevölkerung anerkannte, die weder die Teilung
Indiens noch die spätere Teilung Kaschmirs rechtfertigen konnten, begründete
die am 14. August 1947 neu aus der Taufe gehobene pakistanische Regierung ihre
Existenz allein auf religiöser Grundlage und erhob den Anspruch, Repräsentantin
aller Muslime auf dem indischen Subkontinent zu sein, darunter
selbstverständlich auch der muslimischen Mehrheit von über 70 % im Fürstenstaat Jammu und Kaschmir. Um
diesem Anspruch Geltung zu verschaffen, fielen, veranlaßt durch pakistanische
Stellen ab dem 22. Oktober 1947, »einige tausend dem Islam anhängende Stammeskrieger,
von der pakistanisch-afghanischen Grenze kommend, in den bereits von Unruhen
erschütterten Westen von Jammu und Kaschmir ein. Sie verwüsteten und plünderten
die Orte, die an ihrem Weg lagen und gelangten am 25. Oktober 1947 bis kurz vor
die Hauptstadt Srinagar«. Diese
Angehörigen der Bergstämme, die zuvor nur leichte Handfeuerwaffen kannten,
setzten bei ihrer Invasion in Jammu und Kaschmir Panzer, Geschütze und sogar
Flugzeuge ein. Von wem sie diese schweren Waffen erhalten hatten, darüber
braucht man nicht allzu lange zu spekulieren.
Dieses Ereignis war die Geburtsstunde des nun seit
über 72 Jahren währenden Konflikts, der seit 1947 zwischen Indien und Pakistan
zu 4 Kriegen geführt hat, 3 davon im Streit um die strategisch wichtige
Himalaja-Region Kaschmir, und dessen Ende noch immer nicht in Sicht ist. Um die
Integrität seines Landes zu gewährleisten, erklärte der Maharadscha von Jammu
und Kaschmir, Hari Singh, am 26. Oktober 1947 den Beitritt seines Landes zur
Indischen Union und bat die indische Regierung in einem Schreiben um
militärische Unterstützung. Diese Beitrittserklärung wurde vom Vizekönig
Mountbatten am 27. Oktober formal angenommen, und er riet dem indischen
Premierminister Nehru, den Beitritt anzuerkennen. Auf dieser Grundlage leistete
die indische Regierung Militärhilfe. Dieser erste indisch-pakistanische Krieg
dauerte bis Ende 1948. Seit Januar 1948 war dann der UNO-Sicherheitsrat mit dem
Konflikt befaßt. Auf
Basis der Resolution der United Nations Commission for India and Pakistan
(UNCIP) vom 13. August 1948 wurde am 1. Januar 1949 ein Waffenstillstand
vereinbart, der eine Demarkationslinie auf der Höhe der zufälligen Kampflinien
zwischen den Truppen beider Länder zog. Damit war auch die Teilung Kaschmirs
vollzogen, die weitere indisch-pakistanische Kriege zur Folge hatte. Über den
künftigen Status Kaschmirs sollte ein Plebiszit entscheiden. Dies geht aus
einem Schreiben von Mountbatten an den Maharadscha Hari Singh hervor, auf das
sich Pakistan seitdem immer wieder beruft. Dort heisst es u.a., »Die Frage des Beitritts sollte in Übereinstimmung
mit den Wünschen des Volkes des Staates entschieden werden, es ist der Wunsch
meiner Regierung, dass, sobald Recht und Ordnung in Kaschmir wiederhergestellt
und sein Territorium von dem Invasor gesäubert ist, die Frage des Beitritts
[...] unter Einbeziehung des Volkes entschieden werden sollte«. Abgesehen davon, dass von Recht und Ordnung in
Kaschmir bis heute kaum die Rede sein kann und die Voraussetzung für ein
Referendum ebensowenig erfüllt ist, »wurde
Nehru klar, dass eine Volksabstimmung zugleich die eine oder andere Staatsidee
antasten mußte.
Entschieden sich die Mohammedaner Kaschmirs für Pakistan, mußte dies zugleich die
Idee des säkularen Staates treffen; entschieden sie sich für Indien, wurde
damit die Existenzberechtigung Pakistans verneint«.
Was macht eigentlich das Großfürstentum Kaschmir, das
vor fast 400 Jahren vom Mogulkaiser Jahangir als ›Paradies
auf Erden‹ gepriesen wurde, in unserer
Zeit so begehrenswert? Abgesehen von bedeutenden Bodenschätzen wie Steinkohle,
Erdöl, Eisenerzen, Nickel, Blei, Kupfer, Gold usw., genügt ein Blick auf die
Landkarte, um dessen geostrategische Bedeutung zu erkennen. Das Land bildet
einen Knotenpunkt, da es an die Volksrepublik China, an Indien, Afghanistan und
Pakistan grenzt und nur durch einen schmalen Streifen von Kasachstan getrennt
ist. Hier liegt die eigentliche Bedeutung dieses Landes und eine der Ursachen
für die Entstehung des Konflikts.
Antagonistische aussenpolitische Orientierungen Während Indiens Außenpolitik
auf die Unterstützung des Befreiungskampfes der noch kolonialen Länder sowie
Blockfreiheit ausgerichtet war, und indische Politiker schon im März 1947, d.h.
am Vorabend der Unabhängigkeit, in Neu-Delhi zu der historischen ›Asian Relations Conference‹ eingeladen hatten, um über die Probleme des weiteren antikolonialen
Kampfes und die Beziehungen zwischen den jungen Nationalstaaten zu beraten,
leitete die pakistanische Regierung von Anfang an eine eindeutig
westorientierte Außenpolitik ein. Deutlicher konnte der Kontrast nicht mehr
werden, als am 8. September 1954 Pakistan Mitglied der von den USA ins Leben
gerufenen ›South-East Asia Treaty
Organization‹ SEATO
wurde, Indien aber zum Initiator und Gründungsmitglied der nichtpaktgebundenen
Staaten und der Konferenz von 29 souveränen afrikanischen und asiatischen
Staaten, die vom 18. bis 24. April 1955 in Bandung (Indonesien) stattfand. Die
pakistanische Regierung legte noch eins drauf, als sie am 23. September 1955
ihren Beitritt zu dem von Großbritannien geführten Bagdadpakt erklärte. Pakistan
hoffte, den Kaschmir-Konflikt mit der Unterstützung der ›Central Treaty Organization‹ CENTO aus einer Position der Stärke lösen zu
können. Hätte die indische Regierung von ihrer ›unmoralischen
Blockfreiheitpolitik‹ - wie es der damalige US-Außenminister John Forster
Dulles drastisch formulierte - Abstand
genommen, und wäre sie den vom Westen gegründeten Bündnissen in irgendeiner
Form beigetreten, hätte es in den letzten 72 Jahren womöglich überhaupt keinen
Kaschmir-Konflikt gegeben.
Die Proklamation Pakistans zur Islamischen Republik
am 23. März 1956 sollte dem Anspruch, legitimer Vertreter der in Kaschmir
lebenden Muslime zu sein, weiteren Nachdruck verleihen. Nachdem am 17. November
1956 die verfassunggebende Versammlung von Jammu und Kaschmir den Beitritt zur
Indischen Union beschlossen und am 26. Januar 1957 eine Verfassung für Kaschmir
in Kraft gesetzt hatte, in der ›festgelegt
ist, dass ganz Kaschmir ein integrierender Bestandteil der Republik Indien ist‹, wurde am 27. Januar auf der Grundlage von Art. 370 der
bereits 1947 vollzogene Beitritt zur Indischen Union verfassungsrechtlich
sanktioniert.
Die ökonomische und innenpolitische Krise in
Pakistan veranlaßte das
Militär am 27. Oktober 1958 unter
Führung von Feldmarschall Ayub Khan zu einem Putsch. Die Militarisierung von
Pakistans Innen- und Außenpolitik
und die Aufnahme Kaschmirs in die
Indische Union verschärften die Spannungen um die Kaschmir-Frage, die im
September 1965 in dem zweiten indisch-pakistanischen Krieg kulminierten.
Während die Volksrepublik China Drohungen an die Adresse Indiens richtete,
vermittelte der Ministerpräsident der Sowjetunion Alexej Kossygin in Taschkent
zwischen den Konfliktparteien. Als Ergebnis schlossen der indische
Ministerpräsident Lal Bahadur Shastri und Pakistans Präsident Ayub Khan einen
Waffenstillstand und einigten sich nach Artikel I der ›Tashkent Declaration‹ vom 10. Januar 1966 dahingehend, auf eine
gewaltsame Konfliktlösung zu verzichten; auf der Grundlage des Artikels XI der ›Tashkent Declaration‹ waren
weitere Treffen auf höchster Ebene vereinbart worden. Da diese jedoch nicht
zustande kamen, fand vom 1. bis 2. März 1966 in Rawalpindi eine Begegnung der
Außenminister
Indiens und Pakistans statt. Obwohl danach intensive diplomatische Aktivitäten folgten,
konnte die Spannung zwischen beiden Ländern nicht minimiert werden. Stattdessen
polemisierten die Kontrahenten gegeneinander und warfen sich gegenseitig vor,
dafür verantwortlich zu sein, dass es nicht zur Lösung des Kaschmir-Konflikts
gekommen war. Der Bau einer Strasse mit Hilfe der Volksrepublik China im Jahr 1969,
die Kaschmir mit Sinkiang verband und welche die strategische Lage dieses
Raumes zu Ungunsten Indiens veränderte, sowie die Verhaftung einiger pro-pakistanischer
Politiker in Kaschmir verschärften die Spannungen weiter. Durch die Entführung eines Flugzeugs der
Indian Airlines Ende Januar 1971 durch separatistische Kaschmiri nach Lahore
(Pakistan), wo die Maschine in die Luft gesprengt wurde und die Entführer Asyl
erhielten, erreichten sie einen vorläufigen Höhepunkt. Das Jahr 1971 war in der
Geschichte der pakistanisch-indischen Beziehungen von mangelnder
Dialogbereitschaft und durch gegenseitiges diplomatisches Anprangern auf dem
internationalen Parkett geprägt. Dies führte gegen Ende des Jahres (3. Dezember
1971) zum 3. indisch-pakistanischen Krieg, der schon am 16. Dezember 1971 zur
Niederlage Pakistans und zur Abtrennung Ostpakistans als unabhängiger Staat
unter dem Namen Bangladesch führte.
Diese Kriegsereignisse verhinderten die zuvor vereinbarten
weiteren Treffen auf höchster Ebene. Erst mit der Amtsübernahme Zulfikar Ali
Bhuttos am 20. Dezember 1971 als neuer Ministerpräsident Pakistans kam es vom
28. Juni bis 2. Juli 1972 zu einem Zusammentreffen zwischen der indischen
Ministerpräsidentin Indira Gandhi und Z. A. Bhutto in Simla
(Nordindien). In dem am 2. Juli 1972 von I. Gandhi und Z. A.
Bhutto persönlich unterzeichneten Abkommen von Simla verpflichteten sich beide
Seiten, den Kaschmir-Konflikt auf friedlichem Weg lösen zu wollen. Jedoch
leitete Z. A. Bhutto - kaum aus Simla
zurückgekehrt - das pakistanische
Atomprogramm ein, wovon er sich einen Abschreckungseffekt gegenüber Indien
erhoffte: Dadurch würde es zu einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses
bezüglich der Lösung des Kaschmir-Problems zu Gunsten Pakistans kommen. Es
dauerte jedoch gerade zwei Jahre, bis auch Indien nachzog und 1974 einen
atomaren Sprengsatz zündete. Nun wissen wir es definitiv: Beide Länder haben im
Mai 1998 insgesamt 11 unterirdische Atomtests, Indien am 11. und 13. fünf und
Pakistan am 28. und 30. Mai sechs, durchgeführt.
Der Kaschmir-Konflikt ist für die Anrainerstaaten,
aber auch für die internationale Politik, in mehrfacher Hinsicht von
erheblicher Brisanz:
Erstens: Im Herbst 1959 hatte die
Volksrepublik China einen Nacht-und-Nebel-Krieg gegen Indien durchgeführt und
den nordöstlichen Teil von Jammu und Kaschmir besetzt. In einem weiteren
Grenzkrieg besetzte China 1962 beträchtliche
Gebiete im Nordosten Indiens, gliederte sie in seine Provinz Sinkiang ein und
nannte sie einfach ›Aksai
Chin‹. Als die Volksrepublik China am 16.
Oktober 1964 ihre erste Atombombe zündete, war sie nicht mehr bereit, über die
Rückgabe von ›Aksai‹« an Indien zu verhandeln. Diese Situation
verstärkte die Position Pakistans - das
während sämtlicher bürgerlicher und Militärregimes mit China verbündet blieb
- gegenüber Indien und implizierte die
Verschärfung weiterer Konflikte sowie eine defensivere künftige Haltung Indiens
in der Kaschmir-Frage. Außerdem
sind dadurch nicht mehr nur die neuen Atommächte Indien und Pakistan im
Kaschmir-Konflikt involviert, sondern auch eine weitere Atommacht, die
Volksrepublik China.
Zweitens: Während sich die indischen
Regierungen an die Vereinbarungen von Taschkent und Simla hielten, provozierten
die pakistanischen Regierungen Indien unter anderem mit der Forderung der
Durchführung eines Plebiszits, um den Kaschmir-Konflikt weiter am Kochen zu
halten. Denn »obwohl
es zynisch klingen mag, war und ist es der alles andere überlagernde Konflikt
mit Indien, der Pakistan und seine divergierenden politischen und ideologischen
Kräfte zusammengehalten hat«.
Abgesehen davon, dass Pakistan zu keinerlei Forderungen an Indien legitimiert
ist und durch den Beitritt Kaschmirs zur Indischen Union ein Plebiszit obsolet
geworden ist, haben indische Regierungen betont, dass sie, wenn Pakistan sein
Militär aus Kaschmir abziehen würde, bereit wären, eine Volksbefragung
durchzuführen, obwohl diese nicht nur das Prinzip des säkularen Staates, dem
Indien verpflichtet sei, bedrohen, sondern als Domino-Effekt die staatliche
Einheit der Indischen Union gefährden könnte.
Die aktuelle Situation und ihre Ursache Am 14. Februar 2019 hatte ein Attentäter in der Nähe von Srinagar, der
Hauptstadt des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir, ein mit großen Mengen Sprengstoff
beladenes Auto in einen Bus gelenkt. Dabei wurden über 40 indische Soldaten
getötet. Dies war einer der verheerendsten Anschläge im indischen Teil
Kaschmirs seit 30 Jahren. Im Jahre 2008 hatten islamistische Extremisten auch
die indische Finanzmetropole Mumbai tagelang mit Terror überzogen; zu diesem
Attentat bekannte sich die in Pakistan ansässige islamistische
Terrororganisation Jahish-e Mohammad (JeM). Nach dem Anschlag begann die
indische Armee mit einem Großeinsatz gegen die JeM. Dabei entdeckten
sie ein Versteck der Terroristen in der Nähe des Dorfes Pinglan auf dem
Territorium Pakistans außerhalb
Kaschmirs. Bei zwölfstündigen beiderseitigen Feuergefechten starben sieben
Menschen, darunter vier indische Sicherheitskräfte.
Als die von Pakistan aus operierende JeM sich zu dem Terrorangriff offen
bekannte, bombardierte die indische Luftwaffe ein Ausbildungscamp der JeM, das
sich auf pakistanischem Territorium befindet. Daraufhin schoss die
pakistanische Armee einen Kampfjet der Inder ab und nahm den Piloten Abhinandan
Varthaman fest. Der pakistanische Premierminister Imran Khan kündigte jedoch kurz
danach an, den Piloten freizulassen. Beobachter interpretierten dies als ein
Schuldbekenntnis bzw. einen Wiedergutmachungsakt Pakistans, um die Krise zu
entschärfen, wie die Zeitung «Dawn» aus Karachi am 1. März festhielt. Es ist
bemerkenswert, dass dies das erste Mal ist, dass die Armee seit Beginn des
Kaschmir-Konflikts Militärschläge auf der pakistanischen Seite öffentlich
zugibt.
Die indische Regierung möchte den Führer von JeM,
Maulana Masood Azhar, auf die Terrorliste der Vereinten Nationen setzen und
beschwert sich, dass die Regierung der Volksrepublik China diese Maßnahme als Vetomacht
blockiert. Die staatlich gelenkte ›Global
Times‹ in Peking hat von der indischen Regierung
in einer Stellungnahme ›solide
Beweise‹ gegen Azhar verlangt. Das ist
im Grunde genommen eine durchsichtige Ausrede. Denn die JeM bezichtigt sich
selbst, den Terrorakt begangen zu haben. Darüber hinaus ist die JeM in Pakistan
offiziell verboten. Aber ihre Anführer bleiben im Lande unangetastet. Indische Sicherheitsexperten heben immer hervor, dass
JeM nach wie vor durch den pakistanischen Militärgeheimdienst ›Inter-Services Intelligence‹ (ISI) beschützt
wird. Nach Darstellungen der indischen Regierung kämpfen mehrere
extremistische Gruppen, die vom ISI gesteuert werden, gegen den indischen
Staat. Beobachter aus der Region bestätigen, dass JeM zu jenen islamistischen
Tarnorganisationen gerechnet wird, »die vom
pakistanischen Militär und seinen Geheimdiensten finanziert, ausgerüstet,
ausgebildet und mit Anschlägen in Nachbarstaaten
beauftragt werden«. JeM
wäre allein niemals in der Lage, autonom zu agieren und solche
Terroroperationen durchzuführen, betont der Antiterror-Experte und Direktor des
›Institute for Conflict Management‹ Ajai Sahni.
Maulana Masood Azhar war schon in den 1990er Jahren wegen terroristischer Aktivitäten in Kaschmir
verhaftet worden. Als er 1990 eine Maschine der Indian Airlines entführte und
nach Kandahar in Afghanistan brachte, wo damals noch die Taliban herrschten, war
er in einem Austausch gegen die Passagiere freigelassen worden.
Schon auf die Drohung Indiens hin hat der
pakistanische Ministerpräsident Imran Khan angekündigt, seine Armee werde nicht
zögern, zurückzuschlagen. In Indien wurde im April ein neues Parlament gewählt.
Lange galt der amtierende Ministerpräsident Narendra Modi von der Bharatiya
Janata Party (BJP) als Sieger. Aber inzwischen hatte die oppositionelle Congress
Party aufgeholt. In dieser heißen Phase des Wahlkampfs wollte Modi die nationalistische Karte spielen
und ließ der Armeeführung freie Hand. Wenn
überhaupt, wäre eine Militärreaktion Indiens 2008, als die islamistischen
Extremisten die Finanzmetropole Mumbai terrorisierten, angebracht gewesen.
Dennoch: Wer die Verantwortung für die jüngste
Eskalation »des verfahrenen Konflikts zwischen den beiden südasiatischen Atommächten Neu-Delhi
zuschreibt, der zäumt das Pferd von hinten auf«. Die Eskalation des Konflikts zwischen Indien und
Pakistan scheint vorerst abgewendet zu sein. Eigentlich haben beide Seiten kein
Interesse an einer Zuspitzung des
Konflikts, weil sie wissen, was sie in sich birgt. Darüber hinaus gehen einige
Analysten davon aus, dass Pakistan am Rande eines Staatsbankrotts steht und
einen Krieg mit Indien gar nicht verkraften würde. »Doch Pakistans staatlich gelenkter
Terrorismus wird weitergehen«. Das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den
beiden Atommächten Indien und Pakistan hat bis jetzt keine nennenswerte »Stabilität
geschaffen, sondern konventionelle Kriege und hybride Kriegführung begünstigt.
Darunter fällt Pakistans systematischer Einsatz islamistischer Terroristen für
Attacken gegen Indien«. Das ist eine taktisch genau kalkulierte Politik
Islamabads, denn islamische extremistische Terrorgruppen werden dem bankrotten
Pakistan als »Handlanger‹ […] eine kostengünstige irreguläre Kriegsführung,
die Indien trotz seiner atomaren und konventionellen Übermacht ins
Hintertreffen versetzt, ermöglichen. Militär und Geheimdienste erhalten den
Konflikt mit dem größeren Nachbarn aufrecht, da er den Machtanspruch der
Generäle über den pakistanischen Staat zementiert. Und er dient der Vergeltung:
Denn Kaschmir, Ursprung der Feindschaft, ist nicht der einzige wunde Punkt der
Pakistaner. Indiens militärische Unterstützung für die Abspaltung Bangladeshs
1971, die Pakistan mit einem Schlag halbierte, hat das Militär bis heute nicht
verschmerzt«.
Am 27. Februar berichtete die pakistanische Zeitung
›The Nation‹ über
die Verhaftung von 44 verdächtigen
Männern, die mit dem Terrorakt vom 14. Februar in Zusammenhang stehen sollen.
Allerdings scheint die Regierung in Islamabad unentschlossen, den Führer der
Terrorgruppe, Maulana Moaood Azhar, festzunehmen. Interessanterweise stehen die
Namen von einigen Verhafteten in einem von der indischen an die pakistanische
Regierung übergebenen Dossier. Indien identifizierte auch »Lager der Terrororganisation Jaishe-e Mohammad im
Nachbarland«.
Shehryar Khan Afridi, Staatsminister im pakistanischen Innenministerium, verkündete, dass seine
Regierung entschlossen sei, »den
Rechtsstaat durchzusetzen, fänden sich Beweise gegen die Männer«. Die JeM hat sich ja selbst zu dem Terrorakt
bekannt. Bessere Beweise kann es ja nicht geben. Die Inder sind skeptisch und
sehen die Festnahmen eher als ›kosmetische
Schritte‹ an. Der indische
Anti-Terror-Experte Ajai Sahni prognostiziert, dass »die Verwundbarkeit Indiens durch Terrorangriffe« auch in Zukunft weitergehen werde.
Schon früher gingen ausnahmslos alle Experten und
Beobachter der Verhältnisse davon aus, dass die Gefahr einer atomaren
Auseinandersetzung zwischen Indien und Pakistan jederzeit möglich ist. Im Jahr »1999 hätte Pakistan inmitten einer
Auseinandersetzung mit Indien schon einmal fast seine Atomwaffen in Stellung
gebracht«. Ein
Atomkrieg »wäre
nicht nur für beide Nachbarländer, sondern für die ganze Welt eine Katastrophe«, warnte die türkische Zeitung ›Milliyet‹ am 1. März. Pakistan fühlt sich im konventionellen
militärischen Bereich Indien gegenüber unterlegen. Deswegen hat Islamabad vor
einigen Jahren eine Doktrin der ›kompletten
Abschreckung‹
entwickelt, nämlich die ›full-spectrum
deterrence‹, die einen nuklearen
Erstschlag beinhaltet. Wobei Indien den Ersteinsatz von Atomwaffen als Antwort
auf einen konventionellen Angriff seitens Pakistans ausschließt.
Die Suche nach einer politischen Lösung des
Konflikts wird deshalb immer dringlicher! Der damalige indische
Ministerpräsident Atal Bihari Vajpayee hatte den pakistanischen Militärmachthaber
Parvez Musharaf am 24. Mai 2001 zu Friedensgesprächen eingeladen, wobei es in
erster Linie um eine Lösung des Kaschmir-Konflikts gehen sollte. Musharaf nahm
die Einladung in einem Brief an den indischen Ministerpräsidenten vom 29. Mai
2001 offiziell an und wies darin auf die Bedeutung guter Beziehungen für die
wirtschaftliche Entwicklung hin. Er griff die Kernaussage des indischen
Ministerpräsidenten auf, indem er die Armut als den gemeinsamen Feind beider
Völker bezeichnete. Pakistan sei an einem stabilen prosperierenden Indien, das
in Frieden mit seinen Nachbarn lebe, interessiert und sei bereit, über den
Kaschmir-Konflikt hinaus auch über alle anderen ungeklärten Fragen in den
bilateralen Beziehungen zu sprechen. Zu hoffen bleibt, dass beide Seiten
ernsthafte Anstrengungen unternehmen, um den seit mehr als einem halben
Jahrhundert andauernden Konflikt friedlich beizulegen. Sind die Kontrahenten
nicht in der Lage, oder nicht gewillt, wären die ›Shanghaier
Organisation für Zusammenarbeit‹ sowie
die Blockfreien Staaten, wozu auch Indien und Pakistan gehören, geeignete
Vermittler.
Vorschläge für eine politische Lösung des Konflikts Zunächst, so Baraki, müssen alle am Konflikt
beteiligten Parteien ohne Vorbedingungen zu Verhandlungen bereit sein. Auf der
Tagesordnung sollten folgende Punkte stehen:
1. Die
völlige Demilitarisierung ganz Kaschmirs, d.h. des von der Volksrepublik China
und des von Pakistan besetzten sowie des von Indien regierten, aber von
Pakistan beanspruchten Teils, als Voraussetzung für eine mögliche Lösung des
Konflikts.
2. Es muß sichergestellt werden,
dass alle Beteiligten absolute Zurückhaltung bezüglich Kaschmir an den Tag
legen und keine weiteren Versuche unternehmen, die Situation in Kaschmir zu
ihren Gunsten zu verändern.
3. Vertrauensbildende
Massnahmen, wie Gefangenenaustausch, Reiseerleichterungen (z. B.
Aufhebung der Visapflicht) für alle Kaschmiris, wirtschaftliche, kulturelle und
wissenschaftliche Zusammenarbeit, gemeinsame Radio- und Fernsehsendungen usw.,
sollten vereinbart und durchgeführt werden. Vordringlich muß auch die Lösung der
enormen sozialen Probleme, die nicht zuletzt durch den Konflikt verursacht
worden sind, ernsthaft in Angriff genommen werden.
In weiteren Verhandlungen sollte es um die Wiedervereinigung der getrennten
Teile Kaschmirs gehen, eingeschlossen die Rückgabe des von der Volksrepublik
China besetzten Gebiets, d.h. um die Vereinbarung einer Autonomie für ganz
Kaschmir, dies zunächst im Rahmen der Verfassung der Republik Indien. Am Ende
sollte ein Referendum unter internationaler Aufsicht über die Selbstbestimmung
Kaschmirs in einem angemessenen Zeitraum stattfinden. Ein Referendum am Anfang
dieses ganzen Prozesses in einem von islamischen Fundamentalisten jahrelang vergifteten
Klima würde hingegen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Separierung Kaschmirs
von Indien unter der Führung dieser Islamisten zur Folge haben, zweifelsohne
unter starker Abhängigkeit von Pakistan. Dies würde keinesfalls zum Frieden in
Kaschmir und auf dem indischen Subkontinent beitragen. Im Gegenteil, Pakistan
würde sich gegenüber Indien in einer Position der Stärke befinden, was Gefahren
in sich birgt und eine mögliche dauerhafte Lösung des Konflikts eher erschweren
würde. Daher muß von
solchen verfrühten Maßnahmen
dringend abgeraten werden.
4. Wenn es
zurzeit auch unrealistisch erscheinen mag, sollte doch im Ergebnis der
vertrauensbildenden Maßnahmen
langfristig auf eine Union zwischen Afghanistan, Indien und Pakistan
hingearbeitet werden. Denn alle drei Länder haben eine zumindest seit der
Mogulherrschaft gemeinsame Geschichte, Kultur und zum Teil auch Religion. Eine
solche Union könnte sowohl den afghanisch-pakistanischen Grenzkonflikt im
Stammesgebiet (Duran-Vertrag) sowie den Kaschmir-Konflikt auf einen Schlag
lösen und die Region für längere Zeit stabilisieren.
Vermittler in einem Verhandlungsszenario, wie in
Punkt 1 bis 3 dargelegt, wären meines Erachtens am besten die
Blockfreien Staaten und die Konferenz der Islamischen Staaten, die als relativ
neutrale Akteure von beiden Seiten akzeptiert würden. Der Ruf der
kaschmirischen Völkerschaften nach Frieden ist unüberhörbar. Deren Freude über
eine erneute faktische Grenzöffnung zwischen Indien und Pakistan am 21. Oktober
2008 war überwältigend. Es ist an der Zeit, diesem Wunsch endlich zu
entsprechen.
Quelle:
https://www.zeit-fragen.ch/de/ausgaben/2019/nr-19-27-august-2019/kaschmir-die-genese-des-konflikts.html
Zeit-Fragen Nr. 19 vom 27. 8. 2019
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