Das »Schweizer Taschenmesser der US-Außenpolitik« - Der Fall Venezuela - Von Wolf Gauer 08.01.2018 01:31
Seit Februar 2013, kurz vor Hugo Chávez Tod am 5. März 2013,
ist Venezuela Ziel wirtschaftlicher Sanktionen und
administrativer Schikanen der USA. Und seit Anfang November 2017 sanktioniert
auch die EU. Die fünftgrößte Nation Südamerikas mit 31 Millionen Einwohnern
verfügt mit etwa 50 Milliarden Tonnen über die weltweit größten und - wohlgemerkt - tatsächlich anzapfbaren Ölreserven [Saudi
Arabien: 34 Milliarden Tonnen]. Venezuela zählt zu den wenigen
ressourcenstarken Wirtschaftsräumen, die noch nicht unter US-amerikanischer
Vormundschaft stehen und obendrein wirtschaftliche Beziehungen zu Rußland und
China pflegen. Selbstredend sind auch Länder wie Bolivien, Iran, Syrien oder
Simbabwe mit Sanktionen belegt.
Die venezolanische Öl-, Gas- und Kohleförderung ist
ausschließlich Sache des Staatsunternehmens Petróleos de Venezuela, S.A. ›PDVSA‹ und seiner
fünf Beteiligungsgesellschaften. Zu
Zeiten des Öl-Booms garantierte das Erdöl etwa 50 % der Staatseinnahmen.
Diese – und Hugo Chávez’ politisches
Genie – ermöglichten den Aufbau der
Bolivarischen Republik Venezuela auf breiter, direktdemokratischer und
partizipativer Basis. Die Verfassung von 2000 schrieb die gesellschaftliche
Neustrukturierung und das demokratische Prozedere fest. Besondere Bedeutung
kommt neben den politischen Parteien den praxisorientierten Körperschaften der
Bevölkerung zu.
Der Verfall des Ölpreises ab 2014 - von ca. 110 auf zeitweilig 35 US-$ pro
Barrel, zurzeit bei 60 US-$ - führte zu
schwerwiegenden wirtschaftlichen und innenpolitischen Konflikten.
Versorgungsengpässe, Inflation und die Ängste der Verbraucher ermutigten eine
von den USA dirigierte Opposition, den ›regime change‹ anzugehen: Dies
mittels systematischer Maidanisierung, angezettelter Straßenschlachten,
Zurückhaltung von Konsumgütern und medialer Desinformation. Die Gewaltausbrüche
dienten wiederum als Vorwand für US-Sanktionen. Die US-Regierung begründete sie
mit nicht nachgewiesenen Menschenrechtsverletzungen der Regierung Maduro.
Inzwischen ist auch der internationale Zahlungsverkehr
Venezuelas sanktioniert und die Bonität des Landes von allen US-amerikanischen
Rating-Agenturen auf Niedrigstwerte herabgestuft. Aufgrund komplizierter
Hochrechnungen erklärte die Agentur Standard & Poor’s am 14. November 2017
Venezuela zum Zahlungsverzugsfall. Die größte Handelsorganisation für
außerbörsliche Papiere, die International Swaps and Derivatives Association ›ISDA‹, drohte ›PDVSA‹ mit
demselben Pranger: Ohne faktische
Grundlage.
Venezuela versichert dagegen weiterhin seine Bereitschaft
zum Schuldendienst. Glaubwürdig: China leistet und verlängerte langfristige
Kredite. Die Ölverträge mit Rußland sind Sicherheitsfaktoren; das Land wird seinen
strategisch wichtigen Partner kaum fallen lassen. Auch Maduros Neuformierung
seines Kabinetts und die Festnahmen korrupter Funktionäre des ›PDVSA‹-Konzerns im
November stärken die Regierung. Dennoch behindern die Sanktionen Venezuelas
internationale Anleihe- und Börsengeschäfte und die Freizügigkeit seiner
Entscheidungsträger. Auswirkungen auf die gesamte Ölindustrie sind nicht
auszuschließen.
Öl ist aber die größte Energiequelle der Vereinigten
Staaten; sie sind Venezuelas wichtigster Abnehmer. Präsident Trump - sein Außenminister Rex Tillerson war zuvor
Boss von Exxon-Mobil - droht seit Juli,
die Venezuela-Importe zu kappen. Nicolás Maduro kontert kühl, daß er sein Öl
auch im fernen Osten verkaufen könne. Im September 2017 setzte Venezuela seine
Ölpreise erstmalig auch in chinesischen Renminbi (Yuan) fest. Die Shanghaier
Börse bereitet Öltermingeschäfte in chinesischer Währung vor; die VR China ist
mittlerweile der weltweit größte Ölabnehmer überhaupt.
Wladimir Putin erklärte den Petrodollar schon letzten
August für passé, und der russische Energieriese Rosneft, wiewohl (und trotz
Gerhard Schröders Aufsichtsratsvorsitz) ebenfalls ein Objekt von US- und
EU-Sanktionen, erklärte sich bereit, venezolanisches Öl weltweit zu vermarkten
und damit US-amerikanischen Pressionen zu entziehen. Für zukünftige Lieferungen
hat Rosneft 6 Milliarden Dollar vorgeschossen. Pfand dafür ist die für Rußland
hochinteressante US-amerikanische ›PDVSA‹-Tochter ›Citgo
Petroleum Corporation‹. Über diese
nämlich konkurriert ›PDVSA‹ direkt mit der US-amerikanischen Ölindustrie. Nebenbei:
Bis zum Beginn der Sanktionen versorgte das populäre ›Citgo‹-Tankstellennetz
bedürftige US-Bürger mit stark
verbilligtem Heizöl. Von 2005 bis 2013 wurden 790 Millionen Liter an 1,7
Millionen Alte und Arme abgegeben, vor allem in Notstandsgebieten.
Hugo Chávez unterstützte mit Öllieferungen unter Preis
auch Staaten wie Paraguay, Bolivien oder Kuba. In der Regel mittels Güter- oder
Dienstleistungsaustausch und somit ohne Dollarverrechnung. Maduros aktuelles
Interesse an einer eigenen digitalen Verrechnungswährung mit Erdöldeckung
bedeutet eine weitere Verdrängung des Petrodollars. Der nur in US-$ mögliche
Handel des wichtigsten Welthandelsguts zwang bisher alle Staaten, den Großteil
ihrer Devisenreserven in Dollar anzulegen und sichert bis heute den Status des
Dollar als globale Reserve- und Leitwährung.
Die Sanktionierungsstrategie der USA Als die US-Regierung Ende August 2017 Venezuela, den
Iran, Rußland
und Nordkorea mit weiteren Sanktionen bedachte, ironisierte der Wirtschaftswissenschaftler
und Think Tank-Stammgast Robert Kahn diese als ›Swiss
Army Knife of U. S. Foreign Policy‹. Kahn ist
Mitglied des traditionsreichen ›Council on
Foreign Relations‹ in New York. Er stellt Sanktionen als überhandnehmendes ›Zentralstück wirtschaftlicher Staatskunst‹ (CFR, 24.7.17) in Frage, das zunehmend die
Glaubwürdigkeit der USA und die globale Wirtschaft insgesamt gefährde.
Das ›Schweizer Taschenmesser‹ ist
eine gute Sache, man macht aber damit weder Wegweiser noch Leuchttürme. Sanktionen
bewirken eher das Gegenteil ihrer Absicht. Zwei Beispiele: Seit 1959 steht Kuba unter US-Embargo. Zeit genug, um der kleinen
Nation ohne nennenswerte Ressourcen die Entwicklung einer solidarischen
Wirtschaftsform und eines Menschenbilds zu erlauben, die dem Sozialismus
weltweiten Respekt bewahrt haben und sich sinnfällig vom ›American Way of Life‹
unterscheiden.
Um Salvador Allendes sozialistische Regierung (1970 – 1973)
in Chile zu unterminieren, hatte US-Präsident Richard Nixon die berüchtigte
Order ›bringt Chiles Wirtschaft zum Schreien‹ ausgegeben. [1] Die
Chilenen haben das ›Made in USA‹ der mörderischen Pinochet-Diktatur nicht vergessen.
Dennoch entschieden sie sich beim zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen
am 17. 12. 17 mit 54,5 % für den Hedgefonds-Milliardär und US-Gefolgsmann
Sebastián Piñera. [2]
Intensiver
noch als seine demokratischen Vorgänger
- und nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen - betreibt Präsident Trump den Wirtschaftskrieg
gegen Venezuela; die ›Organisation
Amerikanischer Staaten‹ (OAS) und ›Mercosur‹, der gemeinsame Markt Südamerikas unter Führung der nunmehr
US-hörigen Schwergewichte Brasilien und Argentinien, ziehen mit.
Bei den
venezolanischen Gouverneurswahlen vom 15. Oktober 17 entschieden sich dennoch
19 der 23 Bundesstaaten für die chavistischen Kandidaten. 308 der 335 in den
Gemeindewahlen vom 10. Dezember gewählten Bürgermeister sind ebenfalls
Chavisten. Der versuchte Wahlboykott dreier Oppositionsparteien ging daneben. Der
Wähler am Ort weiß nämlich sehr genau, wer tatsächlich seine Interessen
vertritt und wer beispielsweise die Belieferung der Lebensmittelläden
hintertreibt. Präsident Maduro spricht weiterhin mit seinen Opponenten vor
internationalen Zeugen. Die bisherigen Gespräche auf Santo Domingo sollen am
12. Januar 2018 weitergehen. Eine erste Annäherung zeichnet sich ab.
Den
Leitmedien der ›Westlichen
Wertegemeinschaft‹ zufolge ist das
chavistische Venezuela längst bankrott und der Arbeiterpräsident Maduro ein skrupelloser
Diktator. Sie unterschlagen die Grundinformation, daß die Bolivarische Republik
Venezuela - wie der Plurinationale Staat
Bolivien - ein historisch fundiertes
egalitäres Gesellschaftmodell verwirklicht hat. Ziel und Maß ist die
althergebrachte, präkoloniale Sozialethik, das gute Zusammenleben, ›buen vivir‹, nach indigener Tradition; der verantwortungsvolle Umgang mit den
Menschen und ihrer Umwelt.
Die
sozialen Prärogativen schließen dabei Freiraum für privatwirtschaftliche
Initiativen nicht aus. ›Bolivarisch‹ aber bedeutet auch
lateinamerikanische Identität, Integration und internationale Solidarität.
Resultate des Kampfes gegen den alten europäischen Kolonisator. Dem neuen,
globalen, müssen sie erneut abgerungen werden.
Quelle: https://www.seniora.org/politik-wirtschaft/politik/das-schweizer-taschenmesser-der-us-au%C3%9Fenpolitik-der-fall-venezuela.html Der Filmemacher und Journalist Wolf Gauer lebt seit 1974
in Brasilien; der Beitrag erschien zuerst in ›Ossietzky‹, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft,
Heft 25/2017
Siehe auch http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=2087 17. 3. 13 Zum Tod des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez Frías
- Von Wolf Gauer http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=2087
17. 3. 13 - Chávez
- Ein Nachruf von Paul Craig
Roberts
[1] Noam Chomsky ›Secrets, Lies, and Democracy‹, 1994 [2] Siehe hierzu Wolf Gauer - ›Die neoliberale Reconquista‹
http://www.ossietzky.net/9-2017&textfile=3929)
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