DER TIEFE STAAT

Mit diesem Begriff, der vernetzte, sich unerkannt im Hintergrund

abspielende Strukturen der Einflussnahme auf unsere westlich-parlamentarischen Demokratien bezeichnet, hat man sich zunächst in der USA befasst, wo dieser ein Konglomerat aus Ministerien, Behörden, Politikern, Rüstungsindustrie, Geheimdiensten, privatisierter Sicherheitsindustrie, Kontraktfirmen und Lobbyisten umfasst und dort weitgehend die Kontrolle übernommen hat. Im deutschsprachigen Raum war der Soziologe Professor Dr. Bernd Hamm der erste, der die vernetzten Tiefenstrukturen aufgriff und diese in seinem Manuskript vom Herbst 2014, das den Titel Das Ende der Demokratie - wie wir sie kennen trug, beleuchtete; in diesem hatte er die Parallelstrukturen als dunklen Staat bezeichnet. 

Im Januar 2016 gab dann Jürgen Roth,  d e r  Spezialist für mafiose Strukturen, gleich auf welcher Ebene, ob staatlich oder privat, sein Buch mit dem Titel Der tiefe Staat: Die Unterwanderung der Demokratie durch Geheimdienste, politische Komplizen und den rechten Mobheraus. In diesem geht er u.a. der Rolle der bundesdeutschen Geheimdienste nach, sowie der Frage, ob zwischen antidemokratischen Gruppen und öffentlichen Behörden eine stille Komplizenschaft herrscht. Roth deckt verborgene Netzwerke auf, »einen tiefen Staat, in dem Geheimdienstagenten, Politiker und Kriminelle zusammenwirken. Sie agieren außerhalb jeglicher Legalität und sind für keine parlamentarische Kontrolle zu fassen - schattenhafte Strukturen, die ans Licht gebracht werden müssen.« Zuvor war von ihm Der stille Putsch - Wie eine geheime Elite aus Wirtschaft und Politik sich Europa und unser Land unter den Nagel reißt erschienen.

Am 7. September lag nun das im Promedia-Verlag Wien erschienene Werk
Fassaden-Demokratie und Tiefer Staat: Auf dem Weg in ein autoritäres Zeitaltervor. Dieses haben Ulrich Mies und Jens Wernicke herausgegeben; es enthält Aufzeichnungen der Autoren Ernst Wolff, Rainer Mausfeld, Hermann Ploppa, Jürgen Rose, Werner Rügemer, Rainer Rupp, Rainer Seidel, Andreas Wehr, Wolf Wetzel, Jörg Becker, Daniele Ganser, Bernd Hamm, Hans-Georg Hermann, Hannes Hofbauer, Jochen Krautz und Mike Lofgren. Der nachfolgend veröffentlichte Beitrag ist der darin enthaltene von Bernd Hamm.

»Zur Untersuchung der bestehenden Machtbeziehungen, wie sie für die globale Gesellschaft von Bedeutung sind«, legt Prof. Hamm dar, »schlug ich bereits früher einen analytischen Bezugsrahmen vor und sprach dabei folgende Fragen an:

-   Wie ist die global herrschende Klasse im Inneren strukturiert?
-   Ist es theoretisch korrekt, für die Gruppe der Herrschenden den Begriff Klasse    zu verwenden?
-   Welches sind die wichtigsten Instrumente, mit denen sie ihre Macht ausübt?

Die innere Struktur der global herrschenden Klasse 
Stark beeinflußt von C. Wright Mills’ klassischem Werk The Power Elite, hat die neue Machtstrukturforschung ein idealtypisches Modell mit vier  konzentrischen Kreisen entwickelt:

-   Im innersten Kreis finden wir die globale Geldelite, die reichsten Individuen, Familien oder Clans mit einem Vermögen deutlich über einer Milliarde Euro.

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Den zweiten Kreis bilden die CEOs großer transnationaler Konzerne und die größten internationalen Finanzmagnaten. Sie beschäftigen sich vor allem damit, den Reichtum des innersten Kreises und somit auch ihren eigenen zu mehren.

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Im dritten Kreis befinden sich die wichtigsten internationalen Politiker, einige in Regierungsfunktion, andere als Berater im Hintergrund und in internationalen Institutionen, sowie die Spitzen des Militärs. Diese im engeren Sinn politische Klasse hat zwei Aufgaben: Sie muß die Verteilung des gesellschaftlichen Produkts so organisieren, dass soviel wie möglich hin zu den beiden inneren Kreisen transferiert wird; und sie muß den politischen Zirkus einer vermeintlich pluralistischen Demokratie mit der erforderlichen Legitimität absichern.

-   Im vierten Kreis finden wir die Spitzen der Wissenschaft, die Medienmogule, Rechtsanwälte, zuweilen auch prominente Schriftsteller, Stars aus Film und Musik, Künstler, wenige Vertreter von NGOs oder der Kirchen, ein paar Spitzenkriminelle - kurz: alles, was die Angehörigen der inneren Kreise für ihre Dekoration schätzen. Sie genießen den Zugang zu den Mächtigen, sind gut bezahlt und werden alles dafür tun, diese Privilegien nicht zu verlieren.

Die beiden innersten Kreise waren immer international orientiert. Der dritte und vierte Kreis sind jedoch durch Eigentum und Wahl viel stärker national gebunden. Die Strategie, mit deren Hilfe man die Oligarchen des inneren Kreises schafft, ist leicht zu verstehen. Sie ist durch den IWF bis heute als Strukturanpassungspolitik praktiziert worden: Abschaffung aller Preiskontrollen und Subventionen, Kürzungen der öffentlichen Haushalte durch Entlassungen, Verminderung öffentlicher Investitionen und sozialer Infrastrukturen, außer für das Militär, Begrenzung der Löhne, nicht jedoch der Kapitaleinkünfte, Abwertung der Währung, Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Infrastrukturen, Privilegien für ausländische Investoren, also das, was auch als Washington Consensus bekannt ist. Weit verbreitete Armut ist die unmittelbare Folge, begleitet von in wenigen Händen konzentriertem, extremem Reichtum.

Die globale Oligarchie als soziale Klasse 
Ist es theoretisch korrekt, die globale Oligarchie als soziale Klasse zu bezeichnen? Dann müßte sie

-   die Produktionsmittel kontrollieren,  
-   durch ein Klassenbewußtsein untereinander verbunden sein und 
-   sich im globalen Klassenkampf um die Verteilung des gesellschaftlichen Produkts einig sein.

Zur Kontrolle der Produktionsmittel muß man bedenken, in welchem Ausmaß der Finanzsektor die Kontrolle über Produktion und Dienstleistungen gewonnen hat. Die enorme Menge an frisch gedruckten US-Dollars seit Aufkündigung des Goldstandards 1971 ist hier entscheidend. Die Geldmenge, die auf der ständigen Suche nach lukrativen Anlagen um die Welt vagabundiert, hat nichts mit realen Werten in Form von Gütern und Dienstleistungen zu tun, sondern resultiert alleine aus dem Druck von Papiergeld und der Ausgabe von Krediten. Dies hat es der Finanzindustrie ermöglicht, über Aktien und Anleihen und ihre jeweiligen Derivate produzierende Unternehmen innerhalb und außerhalb der USA aufzukaufen.

Damit hat die Finanzindustrie tatsächlich die Kontrolle über viele Volkswirtschaften übernommen, und zwar auch durch strukturelle Abhängigkeiten bis in die kleinen und mittleren Unternehmen hinein, ferner über fruchtbare Böden und Rohstoffe. Darüber hinaus beeinflußt die Finanzindustrie in hohem Maße Wissenschaft, Forschung und Technologie sowie durch Lobbying und Zuwendungen die politische Entscheidungsfindung und hat sogar die Unterstützung durch das Oberste US-Bundesgericht erlangt. In der Tat gehören die Kongreßangehörigen in den USA selbst zu den oberen Rängen der Finanzindustrie, damit zum dritten Kreis unseres Modells; sie identifizieren sich also auf weiter Strecke mit den Interessen der beiden inneren Kreise.

Zum Klassenbewußtsein gilt: Die global herrschende Klasse tendiert dazu, sich selbst -  mit feudalen Königen vergleichbar -  von Gottes Gnaden hoch über alle anderen Menschen gesetzt zu sehen. Faschismus dürfte eine tragende Säule ihrer Ideologie sein und Krieg nur eines der Werkzeuge, um ihre Macht und ihre Gewinne zu steigern.

Damit ist sie durch ein übergeordnetes Klasseninteresse miteinander verbunden. Zur Einigkeit im Klassenkampf läßt sich konstatieren: Es handelt sich um einen global geführten Klassenkampf von oben. Beim Begriff Klassenkampf denkt jeder nur an Aktionen von Arbeitern, die ihre Klasseninteressen verteidigen, und vergißt dabei den viel bedeutenderen Klassenkampf, der von der herrschenden Klasse mit Hilfe des Staates organisiert wird.

Der vollständige Umfang neoliberaler Politiken, von der sogenannten Austeritätspolitik über Massenentlassungen von privaten und öffentlichen Angestellten bis zu massiven Vermögensübertragungen, geschehen in der Absicht, die Macht, das Vermögen und die Vorherrschaft des Kapitals über die Arbeit zu stärken.  [….. ]  Klassenkampf von oben will die Konzentration des Vermögens bei der herrschenden Klasse verstärken, die [..…] Besteuerung der Arbeit fördern und die Unternehmenssteuern senken, selektive Regulierungen durchsetzen, welche die Spekulation begünstigen, und die Ausgaben für Renten, Gesundheit und Bildung für Arbeiterfamilien mindern.

Klassenkampf von oben zielt auf die Maximierung der kollektiven Macht des Kapitals über restriktive Gesetze für Arbeiterorganisationen, soziale Bewegungen und die Tarifrechte der Arbeiter. Die Armen haben keine Stimme. Die Belastung staatlicher Haushalte durch Bankenrettung ist Klassenkampf; die Banken betreiben den Klassenkampf zwischen Hypothekengebern und Haushalten, zwischen Gläubigern und Schuldnern. Billionen von Dollars werden vom Staatshaushalt auf die Banken übertragen. Um Hunderte von Milliarden werden Sozialausgaben gekürzt, was alle Sektoren der Volkswirtschaft in Mitleidenschaft zieht. Die Regierungen sind dafür verantwortlich. »Unsere Welt wird beherrscht und umgestaltet von einer winzigen globalen Finanz-, Unternehmens-, Politik- und Wissenschaftselite. Darunter müssen alle leiden, nur damit die bekommen, was so mancher in ihrer Position anstreben würde: Mehr – sie wollen alles. [..…] Wenn Du ein Problem damit hast: Dafür gibt es Überfallkommandos, Gefängnisse und Faschismus«.

Internationale Machthierarchie und ihre wichtigsten Instrumente
Auch zwischen den Nationalstaaten besteht eine globale Machthierarchie. Die mächtigste Nation tendiert dazu, sich selbst als durch göttliche Gnade über alle anderen Nationen gestellt zu sehen. Nach dieser selbstgerechten Überzeugung [des amerikanischen Exzeptionalismus] sind die USA die unverzichtbare Nation. Sie sind von der Geschichte dazu auserwählt, die Hegemonie eines säkularen  demokratischen Kapitalismus überall auf der Welt durchzusetzen.

Das Primat dieses Ziels stellt die US-Regierung über alle traditionelle Moral und über alle Gesetze, die nationalen wie die internationalen. Wenn wir Gewalt anwenden müssen, sagte Madeleine Albright einmal, dann - weil wir Amerika sind; wir sind die unverzichtbare Nation. Wir stehen aufrecht und blicken weiter in die Zukunft als andere Nationen. Ich glaube an die Sonderstellung Amerikas mit jeder Faser meiner Existenz, so Präsident Obama bei seiner Rede 2014 an der Militärakademie West Point. So ist es nur folgerichtig, dass Amerikas Sicherheitseliten davon ausgehen, jeder Winkel des Globus sei von größter strategischer Bedeutung und amerikanische Interessen seien überall bedroht. Sie brauchen eine Politik der globalen Dominanz, um die Welt für Amerika sicher zu machen. Die herrschende Klasse erschafft so erst die Feinde, die sie dann bekämpfen will.

Die Einsetzung des US-Dollars als Weltreservewährung in Bretton Woods hat die ökonomische Weltmacht der USA begründet. Ab diesem Zeitpunkt konnten die USA neu gedrucktes Geld exportieren, sich die Arbeitsleistung anderer Länder aneignen und diese zwingen, ihren Luxus, ihre überwältigende Militärmacht und ihre Kriegstreiberei zu finanzieren. Geldpolitik, Strukturanpassungspolitik der von den USA beherrschten IWF und Weltbank  - einschließlich der verdeckten weltweiten CIA-Operationen -  verdeutlichen, dass die USA das Zentrum der global herrschenden Klasse und damit der wichtigste Gegner im globalen Klassenkampf sind.

Nach Johan Galtungs Struktureller Theorie des Imperialismus muß sich der Hegemon darüber hinaus auf Vasallen in untergeordneten Ländern sowie auf deren Regierungen und Eliten verlassen können. Deren Führungseliten haben die Aufgabe, den Welthegemon zu unterstützen, ihm ungehinderten Zugang zu lokalen Ressourcen und Kontrollrechte zu gewähren und seinen Repräsentanten Straffreiheit zu sichern: Zwei entscheidende Kriterien der Macht, auf individueller wie auf kollektiver Ebene.

Ein hervorragendes Beispiel für ausbleibende Strafverfolgungen liefern die Anschläge des 11. September 2001. Wie Ruppert und andere gezeigt haben, befinden sich diejenigen, die eine neue und gründliche Untersuchung verhindern, zweifellos in einer Machtposition. Das gilt auch für jene, die Kriege anzetteln, die für den Mord an Hunderttausenden verantwortlich sind und dennoch dafür nicht vor Gericht gebracht werden. Nie wurde ein Mitglied der US-Regierung für Folterungen zur Rechenschaft gezogen, für gezielte Morde, Drohnen-Opfer, für die Verletzung der Verfassungsrechte, für Ausspähungen ohne Gerichtsbeschluß usw. Wer wurde für die Langzeitwirkungen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki zur Rechenschaft gezogen? Wer für die Folgen von Agent Orange in  Vietnam? Wer für den Einsatz von Munition mit abgereichertem Uran im Irak? Im Namen der US-Regierung sind eineinhalb Millionen Iraker umgebracht worden, wurde das Land ruiniert und wurden dem Steuerzahler 3 Billionen $ an Kriegskosten aufgebürdet. Die USA haben darüber hinaus den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten mit für lange Zeit unabsehbaren Folgen angeheizt. Das   Justizministerium der Obama-Administration, insbesondere seine strafrechtliche Abteilung […], hat sich niemals bemüht, diese hochrangigen Kriminellen zur Verantwortung zu ziehen. Stattdessen haben sie genau das getan, was sie bereits mit hochrangigen Kriminellen der Bush-Regierung etwa im Fall von Folter und Ausspähung unternommen haben: Nämlich die mächtigsten Gruppen in der Gesellschaft trotz überwältigender Beweislage und schwersten Straftaten vor Verfolgung geschützt. Und weiter: Wer bringt die Bankster vor Gericht dafür, dass sie die Mittelschicht ausgeplündert haben? Die Ruhe nach diesen Straftaten ist ohrenbetäubend.

Der Aufstieg der Neokonservativen - Erklärung des aktuellen Zustands
Tatsächlich hat es bisher nur eine Gruppe gegeben, die das Recht auf Weltherrschaft für sich beanspruchte: Die Neokonservativen in den USA. Die Neokonservativen hatten ihren ersten großen Erfolg, als Ronald Reagan an die Macht kam und einige ihrer Hardliner mitbrachte. Reagan war der am schlechtesten informierte Präsident. Reagans uninteressierter Stil und der Mangel an außenpolitischer Erfahrung ließen die Tür offen für Palastintrigen unter seinen Untergebenen, die begierig waren, diese Lücke auszufüllen.Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Regimes verloren die Neokonservativen an Einfluß, opponierten aber weiter gegen das außenpolitische Establishment sowohl der republikanischen Bush(Vater)-Administration als auch der demokratischen Nachfolger unter Präsident William Clinton. Zu ihrer größten außenpolitischen Sorge sagt der Defense Planning Guidance, ein Dokument, das 1992 vom stellvertretenden Verteidigungsminister Paul Wolfowitz unter Rumsfeld vorbereitet wurde:
»Unser wichtigstes Ziel ist es zu verhindern, dass ein neuer Rivale entsteht, ob auf dem Territorium der früheren Sowjetunion oder anderswo, der eine ähnliche Bedrohung wie die frühere Sowjetunion darstellt.  Diese Überlegung beherrscht die neue regionale Verteidigungsstrategie und verlangt, dass wir jede feindliche Macht, die eine Region dominieren könnte, deren Ressourcen ausreichen würden, um einen globalen Machtanspruch zu begründen, zu verhindern suchen.« 

1997 tauchte eine Gruppe unter dem Namen Project for a New American Century‹ ›PNAC auf, eine Denkfabrik in Washington, D.C., die von William Kristol und Robert Kagan gegründet worden war. Ihr erklärtes Ziel war es, die globale Führerschaft der USA zu fördern. Im Kern ihres Selbstverständnisses stand die Überzeugung, dass amerikanische Führerschaft gut für Amerika und gut für die Welt ist. Ihre Mitglieder kamen in zahlreiche hochrangige Positionen, und das PNAC beeinflußte viele Regierungsmitglieder der George W. Bush-Administration und prägte deren Entwicklung der Verteidigungs- und Außenpolitik.

Der erste militärische Test nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Reiches geschah, als der irakische Präsident Saddam Hussein 1990 in die Kuwait-Falle gelockt wurde. Die aus 28 Nationen bestehende Koalition der Willigen war zusammengekauft worden; das irakische Volk wurde mit Krieg überzogen, zunächst mit mörderischen Waffen, dann mit Sanktionen. Am 16. Januar 1998 schrieben Mitglieder des PNAC, darunter Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz und Robert Zoellick, einen offenen Brief an Präsident Clinton und verlangten von ihm, Saddam Hussein aus dem Amt zu vertreiben. Sie argumentierten, Saddam bedrohe die USA und ihre Verbündeten im Mittleren Osten sowie die Ölvorräte der Region, wenn es ihm gelänge, weiterhin Massenvernichtungswaffen anzuhäufen. DasPNAC unterstützte ebenfalls den Iraq Liberation Act von 1998, den manche als Beweis dafür betrachten, dass die Invasion des Iraks von 2003 eine lange beschlossene Sache gewesen ist.

Darüber sollte man nicht vergessen, dass auch der Krieg gegen Afghanistan deutlich vor 9/11 geplant war. Vertreter der USA waren in Verhandlungen mit den Taliban über den Bau einer Ölpipeline vom Kaspischen Meer nach Karatschi, Pakistan, die durch Afghanistan führen sollte, um den Iran zu umgehen. Im Juli 2001 wurde ein deutscher Diplomat zitiert, der berichtete, die Gespräche hätten mit der Ankündigung der USA geendet: »Entweder bedecken wir euch mit einem Teppich aus Gold, wenn ihr tut, was wir sagen, oder wir bedecken euch mit einem Bombenteppich.« Selbst der voraussichtliche Beginn der Bombardierungen war mit Oktober 2001 angekündigt worden. Das hatte überhaupt nichts mit den Anschlägen des 11. Septembers oder mit Osama bin Laden zu tun.  

Rebuilding America's Defenses vom September 2000, das am weitesten verbreitete Dokument der PNAC-Gruppe, wurde von Rumsfeld, Cheney, Wolfowitz und Scooter Libby erarbeitet und war der Frage gewidmet, wie die USA ihre Vorherrschaft bewahren, konkurrierende Mächte in Schach halten und das globale Sicherheitssystem nach den amerikanischen Interessen gestalten können. Abschnitt V enthält unter dem Titel Die dominierende Macht von morgen schaffen den Satz: Des Weiteren wird der Transformationsprozeß, auch wenn er einen revolutionären Wandel bedeutet, wahrscheinlich lange dauern, wenn nicht ein katastrophales und schicksalhaftes Ereignis eintritt – wie ein neues Pearl Harbour. Auch wenn dies nicht zwingend impliziert, dass Mitglieder der Bush-Administration die Anschläge von 9/11 mit geplant haben, wurde doch oft argumentiert, dass PNAC-Mitglieder dieses Ereignis als eben jenes Pearl Harbour nutzten, als eine günstige Gelegenheit, um ihre lang gehegten Pläne durchzusetzen.

In einer Rede vor dem Commonwealth Club hat der pensionierte General  Wesley Clark 2007 ein geheimes Pentagon-Memorandum von 2001  - also Monate vor den September-Anschlägen -  erwähnt, in dem zu lesen war, dass die USA in den nächsten fünf Jahren 7 Länder angreifen wollten: Den Irak, Syrien, den Libanon, Libyen, Somalia, den Sudan und den Iran, um die Kontrolle über deren natürliche Ressourcen, allen voran Öl, zu gewinnen und um fabelhafte Gewinne für die Rüstungs- und die Ölindustrie zu ermöglichen. »Unser Land  wurde von einer Gruppe Größenwahnsinniger wie Paul Wolfowitz, Dick Cheney, Donald Rumsfeld und anderen, die den Mittleren Osten destabilisieren und Kontrolle über seine Ressourcen gewinnen wollten, beherrscht.« Gegen Ende 2006 bestand das PNAC nur noch aus einem Anrufbeantworter und einer Geister-Webseite mit einem einzigen Angestellten zum Aufräumen. 2006  stellte Gary Schmitt, der frühere Geschäftsführer des PNAC und spätere Stipendiat am American Enterprise Institute sowie Leiter seines Programms für Fortgeschrittene Strategische Studien, fest, das PNAC habe sein natürliches Ende erreicht. An dessen Stelle gründete der neokonservative Falke Robert Kagan die Foreign Police Initiative.

Die Installation US-konformer Regimes  
Die strategische Logik des PNAC geht auf den früheren nationalen Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski zurück, der schrieb:
»Der Welt-Energieverbrauch wird sich in den kommenden zwei oder drei Jahrzehnten gewaltig erhöhen, [...] am meisten im Fernen Osten.  [...]  Zentralasien und das Kaspische Becken sind für Gas- und Ölvorräte bekannt, die jene in Kuwait, im Golf von Mexiko oder in der Nordsee weit in den Schatten stellen. Dazu sind sie [die zentralasiatischen Republiken] vom Standpunkt der Sicherheit und der historischen Ambitionen aus von wenigstens drei ihrer unmittelbaren und mächtigen Nachbarn, nämlich Rußland, der Türkei und des Irans aus gesehen wichtig, wobei auch China wachsendes politisches Interesse an der Region signalisiert.« Diese Analyse des globalen Schachspiels war das ideologische Kernstück der Bush Jr.-Administration. Als logische Konsequenz aus dieser Analyse verfolgten die USA seit 1991 unablässig die Strategie, Rußland einzukreisen. So brachten sie zwölf zuvor mit Moskau verbündete Länder in die NATO. Die Militärmacht USA steht nun direkt an der russischen Grenze. Auch die aktuelle Krise in der Ukraine steht in diesem Zusammenhang. Seit Ende des Kalten Krieges verläuft die US-amerikanische Politik gegenüber Moskau nach dem Muster: Jeder Schaden, der Rußland trifft, ist ein amerikanischer Sieg, und alles, was in oder für Rußland an Positivem geschieht, ist schlecht für die USA.

In der Absicht, überall Regierungen zu installieren, die amerikanischen Wünschen und Interessen gehorsam sind, waren die USA am Umsturz zahlreicher ausländischer Regierungen beteiligt, mit oder ohne Militärinterventionen. Solche Operationen werden in der Regel der CIA oder dem National Endowment for Democracy (NED) übertragen. Die Kunst des harten oder sanften Regimewechsels ist sehr weit entwickelt. Sie ist seit dem Staatsstreich im Iran in den frühen 1950er Jahren ein wichtiger Teil der US-Außenpolitik. Sie wurde in Mittelamerika, Südamerika, Südafrika und Fernost praktiziert und ist eigentlich rund um den Globus bis heute gängige Praxis. Man kann jede dieser farbigen Revolutionen als Teil eines Ringkampfs zwischen Moskau und Washington interpretieren, wobei auch die EU versucht, eine Rolle zu spielen. Die Propaganda  ist immer die gleiche und konzentriert sich auf Schlagwörter wie Demokratie, Menschenrechte, Wohlstand, Recht und Freiheit. In Wirklichkeit geht es darum, kapitalistisch orientierte Regierungen zu installieren sowie Deregulierungen und Privatisierungen durchzusetzen, den Zugriff auf natürliche Ressourcen zu erhalten, Militärbasen zu errichten, Waffen zu verkaufen und mögliche Rivalen zurückzudrängen. Um Wandlungsprozesse in Gang zu setzen, werden die Massenmedien, vor allem Fernsehwerbung, und Meinungsforschung genutzt.

Begleitend dazu werden konterrevolutionäre Zellen aufgebaut, und es fließen unerschöpfliche Geldmittel aus öffentlichen und privaten Quellen. George Soros’ Open Society Fund mit zahlreichen Ablegern und seine Central European University sind dafür anschauliche Beispiele. Ein Dokument, dessen Freigabe kürzlich in einem Freedom of Information Act-Verfahren von der Orient Advisory Group erzwungen wurde, bestätigt, dass das US-Außenministerium überall im Mittleren Osten ähnliche Anstrengungen unternimmt.
 
Seit dem 11. September 2001 sind die US-Spezialkräfte in jeder Hinsicht verstärkt worden. In den letzten Tagen der Bush-Präsidentschaft waren solche Spezialkräfte weltweit in etwa 60 Ländern stationiert, im Jahr 2013 in 134 Ländern. Dieser gigantische Zuwachs erfolgte während der Obama-Präsidentschaft. SOCOM, United States Special Operations Command, ist Berichten zufolge von 33.000 in 2001 auf 72.000 Mann in 2014 angewachsen. Die Finanzierung dieser Kommandoeinheit ist 2001 von 2,3 Milliarden $ auf 6,9 Milliarden $ gestiegen und 2013 auf 10,4 Milliarden $ angewachsen, wenn man zusätzliche Finanzquellen mitrechnet. Unzählige amerikanische Interventionen in anderen Ländern hatten Zehntausende Ermordete zur Folge. Die Operation  Gladio, in Washington entworfen und durch die NATO überwacht, hatte ein einziges Ziel: Die demokratische Wahl linker Parteien in Europa zu verhindern. Operacion Condor benutzte überall in Lateinamerika Terrorregimes und Todesschwadronen, um gehorsame Regierungen zu sichern, unabhängig davon, wie grausam sie waren.  

Zur Zeit der Niederschrift dieses Manuskripts (2014) waren Operationen für Regimewechsel in Ägypten, Thailand, Venezuela, in Syrien, Libyen, Georgien und in der Ukraine zu beobachten. In keinem Fall haben diese Einmischungen zu demokratischen Regierungen geführt: Ganz im Gegenteil ergriff jeweils eine korrupte Junta die Macht, die eine kleine Clique lokaler Krimineller zusammen mit ihren Komplizen in den USA bereicherte. Weit verbreitete Armut, soziale Polarisierung und Konflikte sind die regelmäßigen Folgen. Statt USA-freundliche und gehorsame Regimes zu etablieren, hat das PNAC überall nur zu Chaos, Angst und Feindschaft geführt. Das PNAC hat den Sarg gezimmert, in dem die Weltmacht USA beerdigt werden wird.

Der größte Erfolg der Neokonservativen war, dass sie die neoliberale Wirtschaftsideologie nicht nur in westlichen Ländern, sondern vor allem auch in den osteuropäischen Transformationsländern zur grundlegenden politischen Philosophie machen konnten. Aus Sicht des Autors war es der schlimmste Fehler der Neokonservativen, und zwar ein Fehler von globalem Ausmaß, dass sie alle Abrüstungs- und Friedensvorschläge des früheren sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow ab 1986 zurückwiesen. Eifrig bemüht, dem globalen   Konkurrenten einen tödlichen Schlag zu versetzen, haben sie dazu beigetragen, diesen charismatischen Politiker auszuschalten und an seine Stelle den pathologischen Alkoholiker, Boris Jelzin, zu setzen. Dafür verantwortlich waren an erster Stelle: Richard Perle, Paul Wolfowitz und Dick Cheney, damals Vorstandschef von Halliburton und später Vizepräsident. Dasselbe geschah und geschieht mit Präsident Putins Vorschlägen für vertrauensbildende Maßnahmen und engere Zusammenarbeit, die die Obama-Administration sogleich zurückwies. Wie hätte die Menschheit von der enormen Friedensdividende gewinnen können!

»Warum hat sich die Obama-Administration für diese Außenpolitik entschieden? Es geht einfach um zuviel Profit. Da ist Frieden keine Option.« Friedliche Koexistenz mit der Sowjetunion war das Allerletzte, was die USA wollten. Sie hätte den permanenten Aufstieg eines dauerhaften Militär-Establishments nicht rechtfertigen können, auch nicht die ca. 1000 Militärbasen im Ausland, noch die CIA, die National Security Agency NSA, verdeckte Operationen, Spionage, Interventionen in anderen Ländern, Staatsstreiche, Morde, Folter, Überwachung oder die Unterstützung von ausländischen Diktaturen. Die Macht und der Einfluß des militärisch-industriellen Komplexes haben zu außergewöhnlichen Profitraten geführt. »Nach einer neuen Studie von Morgan Stanley sind die Aktienkurse großer Rüstungsbetriebe in den letzten 50 Jahren um 27.699 % gestiegen, während es im übrigen Markt 6.777 % waren.«

Die Strategie der Spannung
Wie konnte es gelingen, dass die amerikanische Bevölkerung all das akzeptierte? Das ist ein Erfolg der Strategie der Spannung. Diese dient dazu, die öffentliche Meinung zu manipulieren und zu kontrollieren. Die Spannung erreicht sie durch Propaganda, Desinformation, psychologische Kriegsführung, Agents Provocateurs und terroristische Aktionen unter falscher Flagge und indem sie Angst produziert. Obgleich der Kalte Krieg seit 25 Jahren vorüber ist, gibt es Anzeichen dafür, dass die gleiche Angst vor Rußland nun wiederbelebt werden soll,  während gleichzeitig eine neue Angst vor dem Feind im Inneren aufgebaut wird. In einer Rede vor der National Defense University hat Präsident Obama 2013  den Feind wieder in die Nähe geholt, als er argumentierte, dass
»wir hier in den Vereinigten Staaten einer wirklichen Bedrohung ausgesetzt sind  - durch radikalisierte Individuen, fehlgeleitete oder entfremdete Menschen -  die oftmals amerikanische Staatsbürger oder rechtmäßige Ansässige sind.« Damit ist der Vorwand für den Überwachungsstaat geliefert. »Amerikaner leben nun in einer  Gesellschaft, in der nahezu jeder jeden ausspäht, in ihm einen potentiellen Terroristen sieht und einer staatlichen und betrieblichen Gesetzlosigkeit unterworfen ist, in der die Arroganz der Macht keine Grenzen mehr kennt.«

Der National Defense Authorization Act von 2012 gibt dem amerikanischen Militär ausdrücklich die Macht, jede des Terrorismus verdächtigte Person überall auf der Welt zu ergreifen und ins Gefängnis zu stecken, ohne Anklage, ohne Beweise, ohne Gerichtsverfahren.  

Die amerikanische Regierung nutzt ihren riesigen Überwachungs- und Datensammelapparat, um Dossiers von Personen anzulegen, die als politische Dissidenten in Frage kommen. Damit werden politisch Oppositionelle kriminalisiert. Die Liste der Überwachung von Abweichlern ist lang: Dazu zählen die Programme COINTELPRO des FBI, MINARE der NSA, die MINERVA Forschungsinitiative des Verteidigungsministeriums. Nun werden diese technisch perfektioniert, mit dem Ziel, potentielle Abweichler zu Terroristen zu erklären: Inventing Terrorists: The Lawfare of Preemptive Prosecution. Die Strategie der Spannung wirkt dann am besten, wenn die allgemeine Bildung gering ist und die Medien mehr oder weniger ausnahmslos auf Linie gebracht wurden. Es gibt zwar mehr als 1.400 Tageszeitungen in den USA, aber kein einziger Fernsehsender hat sich klar gegen die US-Kriege in Libyen, im Irak, in Afghanistan, Jugoslawien, Panama, Grenada oder Vietnam ausgesprochen. Niemals zuvor waren die Medien so konzentriert: 6 Medienkonzerne kontrollieren etwa 90 % all dessen, was Amerikaner lesen, sehen oder hören. Manche arbeiten direkt oder indirekt mit den Geheimdiensten zusammen. Damit ist die Gehirnwäsche nahezu perfekt.              

Der Tiefe Staat
Erst vor kurzem wurden von WikiLeaks, Edward Snowdon und anderen Whistleblowers erdrückende Beweise dafür vorgelegt, dass die USA zunehmend von einem Tiefen Staat, der auch als Geheime Regierung bezeichnet wird, regiert  werden. Der Tiefe Staat entzieht sich jeder demokratischen Kontrolle. Innerhalb der Vereinigten Staaten demonstrieren militarisierte Strafverfolgungsbehörden auf Bundes-, Einzelstaats- und lokaler Ebene diese Macht auf einschüchternde Weise. Außerhalb der USA kann der Präsident nach Belieben Kriege anzetteln, Drohnenmorde anordnen und gemietete Söldner einsetzen. Zur Zeit erhitzter Debatten angesichts der Budgetkrise konnte die Regierung dennoch 115 Millionen $ zusammenkratzen, um den Bürgerkrieg in Syrien in Gang zu halten und der britischen Regierung mindestens 100 Millionen £ für den Zugang zu Informationen des Government Communications Headquarter zu bezahlen.  Ferner hat die Regierung zur gleichen Zeit 1,7 Milliarden $ für den Bau eines Gebäudes in Utah, das so groß wie 17 Fußballfelder ist, ausgegeben. Dieses Mammutgebäude soll es der National Security Agency ermöglichen, ein  Yottabite an Informationen zu speichern. Ein Yottabite entspricht 500 Quintillionen Textseiten. Die NSA braucht soviel Platz, um jede Spur unseres elektronischen Lebens zu archivieren.

Der Tiefe Staat ist eine Mischung aus nationalen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden, dem Verteidigungs-, Außen- und Justizministerium, dem Ministerium für innere Sicherheit, der CIA und dem Finanzministerium, das für die Geldflüsse zuständig ist sowie für die Durchsetzung internationaler Sanktionen und die Symbiose mit der Wall Street. Das Executive Office des Präsidenten koordiniert all diese Behörden über den Nationalen Sicherheitsrat. Einige Schlüsselbereiche des Rechtssystems gehören ebenfalls zum Tiefen Staat, wie der Foreign Intelligence Surveillance Court, dessen Handeln selbst für die  meisten Mitglieder des Kongresses geheimnisvoll bleibt. »Es gibt derzeit 854.000 zivile Personen auf Vertragsbasis, die Zugang zu streng geheimen Unterlagen haben, eine Zahl, die höher liegt als jene der Regierungsangestellten mit  Zugang zur höchsten Geheimhaltungsstufe. Seit dem 11. September 2001 wurden in oder um Washington herum 33 Einrichtungen für streng geheime Nachrichtendienste gebaut. Zusammen nehmen sie eine Bürofläche von beinahe drei Pentagons ein; [….]. 70 % des Budgets der Geheimdienste werden für vertragliche Dienste aufgewendet. Die Membran zwischen Regierung und Privatwirtschaft ist überaus durchlässig: Der Direktor der Nationalen Nachrichtendienste, James R. Clapper, war früher leitender Angestellter von Booz Allen Hamilton, einem der größten Geheimdienst-Auftragnehmer [Edward Snowdons früherer Arbeitgeber; Eigentümer der Kanzlei ist die Carlyle Group]. Sein Vorgänger im Amt, Admiral Mike McConnell, ist zurzeit der Vizepräsident der gleichen Gesellschaft; Booz Allen hängt zu 99 % von Staatsaufträgen ab. Solche Vertragsfirmen bestimmen zunehmend den politischen und sozialen Ton in Washington sowie die Richtung, in die sich das Land bewegt. Aber sie tun das leise, ihr Handeln wird nicht im Congressional Record oder im Federal Register festgehalten und sie sind selten Gegenstand von Kongreßanhörungen.  Nach Dokumenten, die Edward Snowdon der Washington Post zugänglich machte, betrug das geheime schwarze Budget der 16 US-Geheimdienste  zusammen 52,6 Milliarden $ und sie beschäftigten 2013 107.035 Personen. Als das Repräsentantenhaus beschloß, sich nicht in die Ausspähaktionen der NSA einzumischen, stellte es sich heraus, dass die 217 Nein-Stimmenden doppelt so viele Zuwendungen von der Verteidigungs- und Geheimdienstlobby erhielten wie die 205 Ja-Stimmenden. Die Untersuchung ergab, dass das Geld dieser Lobbyisten eine bessere Vorhersage des Abstimmungsverhaltens ermöglichte als die Parteizugehörigkeit. Repräsentanten, die sich für die Fortsetzung des Telefon-Metadaten-Programms aussprachen, erhielten im Mittel 122 % mehr Geld aus diesen Quellen als diejenigen, die es gerne beendet gesehen hätten. Politische Aktionskomitees und Angestellte von Verteidigungs- und Geheimdienstfirmen wie Lockheed Martin, Boeing, United Technologies, Honeywell International brachten 12,97 Millionen $ an Zuwendungen für die Zweijahresperiode 2010-2012 zusammen. Zur Erklärung: Political Action Committees (PACs) sind  Geldsammelstellen von Lobbygruppen in den USA, mit deren Hilfe die Wahlchancen und das Verhalten von Abgeordneten beeinflußt werden sollen. Parlamentarier, die sich dafür aussprachen, das NSA-Programm fortzusetzen, bekamen im Durchschnitt 41.635 $ aus diesem Topf, während solche, die dem widersprachen, im Mittel nur 18.765 $ erhielten.   

In jüngster Zeit verändert sich die labyrinthische Struktur der Geheimdienste hin zu Kampfverbänden. Unaufhörlich gewachsen sind das Militär mit seinem eigenen Geheimdienst, das Department of Homeland Security als  Monsteragglomeration von Behörden, die unüberschaubare Zahl an Waffenproduzenten, Auftragnehmern sowie Profiteuren, die von einer Lobbyisten-Armee bestochen werden. Ein erstaunlicher Bericht trägt Beweise dafür zusammen, wie einige der weltgrößten Unternehmen sich mit privaten Nachrichten- und Geheimdiensten zusammengetan haben, um Aktivisten und Nichtregierungsorganisationen auszuspionieren. Umweltaktivisten sind prominente, aber keineswegs alleinige Opfer solcher Aktivitäten. Insbesondere Greenpeace wurde von verschiedenen Unternehmen verfolgt: Zum Beispiel in den 1990er Jahren von der privaten Sicherheitsfirma Beckett Brown International (BBI), dies im Auftrag des weltweit größten Herstellers von Chlor, Dow Chemical, weil die Umweltorganisation eine Kampagne gegen den Gebrauch von Chlor zur Herstellung von Papier und Plastik durchgeführt hatte. Greenpeace-Büros in Frankreich und Europa wurden durch französische private Nachrichtendienste im Auftrag von Électricité de France, dem weltgrößten Betreiber von  Atomkraftwerken, der zu 85 % der französischen Regierung gehört, gehackt und ausspioniert. Die Ölfirmen Shell und BP hatten die Privatdedektei Hackluyt, der enge Beziehungen zum britischen MI6 nachgesagt werden, beauftragt, Greenpeace zu unterwandern. Viele der weltgrößten Unternehmen und ihre Wirtschaftsverbände, darunter die US-Handelskammer, Walmart, Monsanto, Bank of America, Dow Chemical, Kraft, Coca-Cola, Chevron, Burger King, McDonald’s, Shell, BP und E.ON sind mit geplanten oder vollzogenen Spionageakten gegen NGOs, Aktivisten und Whistleblowers in Verbindung gebracht worden. Der Tiefe Staat ist nur wegen der strukturellen Vorteile, die die Exekutive vor der Legislative und der Judikative genießt, möglich. Die Exekutive  ist das bevorzugte Ziel von Lobbys und Spendern. Sie hat direkten Zugriff auf die Sicherheits- und Geheimdienstapparate, ist Partner internationaler Verhandlungen und Ziel der Medien, und steht in Diskussionen mit Wirtschaftsgiganten. Während die Demokratie in der Theorie auf Gewaltenteilung beruht, hebelt die Exekutive demokratische Kontrollen permanent aus. Viel von der öffentlichen Aufregung über die Spionagetätigkeit der NSA ist heuchlerisch: Alle Nachrichtendienste spähen nicht nur andere Länder aus, sondern auch  oppositionelle Gruppen und Unternehmen. Solange sich Regierungen gegenseitig in einer grundsätzlich feindlichen Welt wahrnehmen, dürfte sich das auch kaum ändern.

Zu den kriminellen Handlungen von Regierungen oder regierungsähnlichen Institutionen gehören verdeckte Operationen. Sehr oft handelt es sich um Staatsterrorismus wie Folter, Verschleppung, Operationen unter falscher Flagge, Regimewechsel, Kriegstreiberei, Ausspähung ohne richterlichen Beschluß. Damit   nicht genug: Unternehmerverbände sorgen zusammen mit bestochenen Politikern dafür, dass Gesetze gemacht werden, die unrechtmäßiges Verhalten erleichtern und vor Strafverfolgung schützen. Die Grenzen zwischen legalem und illegalem Verhalten werden so zunehmend verwischt; Geldwäsche hilft, Gelder kriminellen Ursprungs zu waschen und in legale Geschäfte zu investieren. Dies geschieht vor allem mit Hilfe der Finanzindustrie. Die leitenden Angestellten der Finanzriesen genießen de facto Immunität. In einer Anhörung vor dem Rechtsausschuß des US-Senats am 6. März 2013 sagte Justizminister Eric Holder: »Ich mache mir Sorgen, weil einige dieser Institutionen so groß wurden. Daher wird es für uns schwer, sie zu verfolgen und ein strafrechtliches Verfahren  zu eröffnen, weil man uns sagt, dies hätte negative Folgen für die Volkswirtschaft oder sogar die Weltwirtschaft.« Sie alle sind waschechte Vertreter der offiziellen Ideologie der herrschenden Klasse. Im Inland glauben sie beinahe unterschiedslos an die neoliberalen Prinzipien des Washington Consensus:  Finanzialisierung, Outsourcing, Privatisierung, Deregulierung und den Warencharakter der Arbeit. International treten sie für den American Exceptionalism ein: Das Recht und die Pflicht der Vereinigten Staaten, sich überall auf der Welt mit diplomatischen und militärischen Zwangsmitteln einzumischen. Sie vermeiden sorgsam die so schwer erkämpften Regeln internationalen zivilisierten Verhaltens.

Die neoliberale Ideologie hat dazu beigetragen, staatliche Regulierungen abzubauen und Reichtum bei 1 % der Bevölkerung anzuhäufen. Die Reichen sind in der Lage, einen erheblichen Teil der staatlichen Gesetzgebung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Sie und ihre Vermögen werden von Heerscharen von Parlamentariern, Managern, Wirtschaftsprüfungsunternehmen, Anwälten, Steuerberatern, Denkfabriken, Radiosendern, Filmstudios, Verlegern, Medien, Forschern, Schreiberlingen, Lobbyisten, Bodyguards und anderen Lakaien in ihren Diensten beraten und geschützt. Privateigentum ist das Goldene Kalb des Kapitalismus, und unregulierter Kapitalismus die Bibel der herrschenden Klasse. Sie können selbst Polizei und Militär in ihrem Interesse mobilisieren. Dafür bleiben der Nationalstaat und seine Regierung wichtige Institutionen; vor allem aber müssen die Regierungen die Massen unter Kontrolle halten.

Dies ist das Ende des Projekts Demokratie und die endgültige Übernahme durch die Plutokratie, es ist ein stiller Staatstreich.«

 

Bernd Hamm studierte an der Universität Bern Soziologie, Volkswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftslehre und öffentliches Recht. Er war Professor für Soziologie an der Universität Trier. 2008 ging er aus Protest gegen die Bologna-Reform vorzeitig in den Ruhestand. Von 1983 bis 1995 war er Mitglied der Deutschen UNESCO-Kommission. Seine Arbeitsschwerpunkte waren unter anderem Kapitalismuskritik, Neoliberalismus, Globalisierung und der Tiefe Staat.

Von zahlreichen der obengenannten Autoren finden sich Beiträge auf unserer homepage.

Quelle:
Neue Rheinische Zeitung
Aktueller Online-Flyer vom 2. Oktober 2017 

http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24133
Das Ende der Demokratie - wie wir sie kennen