Ein neues »Wunder an der Weichsel«? - Von Wolfgang Effenberger

Vor dem Denkmal für den Warschauer Aufstand gegen die deutschen

Besatzer im Zweiten Weltkrieg  - damals halfen amerikanische Piloten den polnischen Aufständischen -  huldigten jubelnde Polen US-Präsident Trump [1], der sich mit der Aussage Das amerikanische Volk liebt Polen[2] die Sympathien sicherte. 

Im Vorfeld hieß es dazu aus dem Weißen Haus, der erste bilaterale Besuch in Europa diene dazu, »Amerikas unerschütterliches Bekenntnis zu einem unserer engsten europäischen Verbündeten zu bekräftigen« [3] und die Bedeutung zu unterstreichen, die die US-Regierung der »Stärkung der gemeinschaftlichen Verteidigung« durch die NATO beimesse. Die polnische Regierung verspricht sich von Trump, dass er Polen gegen die angeblich von Deutschland dominierte EU den Rücken stärkt, vor allem gegen Merkels Flüchtlingspolitik. [4] Polen will keine Flüchtlinge aufnehmen. In seiner denkwürdigen Rede zeichnet Trump, mit Donald Trump, Donald Trump-Rufen begeistert gefeiert, die Geschichte Polens, welches von Rußland und Deutschland zerrieben worden sei, als ein leuchtendes  Beispiel für die Widerstandsfähigkeit der westlichen Zivilisation. Die Verklärung Polens gipfelte dann in dem Statement: Polen ist das Herz Europas [5].

In der Tat: Bereits 1361 wurden das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen zusammengeführt. [6] 1604 drangen polnisch-litauische Truppen bis nach Moskau vor [Zeit der Wirren. 1618 umfaßte das polnisch-litauische Gebiet in der größten territorialen Ausdehnung seiner Geschichte den größten Teil des Staatsgebiets des heutigen Polen, das heutige Litauen, Lettland und Weißrußland sowie Teile des heutigen Rußland, Estland, Moldawien, Rumänien und der Ukraine. Zwischen 1772 und 1795 wurde dieses riesige Gebiet zwischen Rußland, Preußen und Österreich-Ungarn aufgeteilt. Um Preußen vollständig zu bezwingen, gründete Napoleon 1806 einen von Frankreich abhängigen Rumpfstaat [7], der bis zur Auflösung 1795 noch zum Königreich Polen gehört hatte.

1916, nach militärischem Raumgewinn im Osten, proklamierten die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn im November 1916 die Gründung eines selbstständigen Königreichs Polen (Zweikaisermanifest) aus zuvor russischen Gebieten. [8] Damit wurden die Friedensverhandlungen mit Zar Nikolaus II. und Rasputin, die keinen polnischen Staat mehr dulden wollten, unmöglich gemacht. Mit Kriegsende 1918 entstand auf dem Gebiet des Königreichs Polen die Zweite Polnische Republik. Diese begann unverzüglich, die Nachbarn mit Krieg zu überziehen. Gehalten hat sich aber nur der Mythos vom Wunder an der Weichsel: Mitte August 1920 stand der sowjetische Reitergeneral Michail Tuchatschewski mit seiner Armee vor den Toren Warschaus. Mit Unterstützung Frankreichs führte Marschall Jósef Pilsudski den Gegenangriff und drängte die sowjetischen Kräfte bis weit in die Ukraine zurück. Der anschließend am 18. 3. 1921 in Riga erzwungene Friedensschluß  - die Sowjets waren durch die Konterrevolution geschwächt -  verlegte die am 8. 12. 1919 festgelegte polnisch-russische Grenze (Curzon-Linie) um ca. 200 km nach Osten. Die Bevölkerung zwischen alten und der nun neuen polnisch-russischen Ostgrenze umfaßte etwa 6 Millionen Ukrainer und Weißrussen, etwa 1,4 Millionen Juden und nur etwa 1,5 Millionen Polen. [9] 

In dem Narrativ vom Wunder an der Weichsel wird unterschlagen, dass die polnischen Truppen unter Marschall Pilsudski und die sie unterstützenden ausländischen militärischen Verbände Ende 1919 bis nach Kiew vorstoßen  konnten. Diese Erfolge wurden bald durch die sowjetische Rote Armee zunichte gemacht: Sie warf die polnische Armee so weit in das Landesinnere Polens zurück, dass eine Besetzung Polens drohte. [10] Parallel zum polnisch-sowjetischen Krieg überfiel Polen Litauen und eroberte im Oktober 1920 die litauische Hauptstadt Vilnius (polnisch Wilno). 

Dem polnischen Armeegeneral und Ministerpräsidenten von 1981 bis 1985, Woijech Jaruzelsiki (1923-2014) [11], verdanken wir einen Einblick in die patriotische Seele vieler Polen. In seinen Erinnerungen Mein Leben für Polen schildert er seine Erfahrungen vor Kriegsbeginn 1939: »Wir sind eine Macht. Wir sind ein großes Land …… Einmal drangen wir in der Tschechoslowakei ein und nahmen die Region Teschen in Besitz [im Oktober 1938, W.E.]. Dann richteten wir ein Ultimatum an Litauen, das sich zurückziehen mußte. Überall Defilees und Paraden, eine ständige Zurschaustellung von Macht. Und vor allem eine dauernde Geringschätzung der Kräfte des Gegners. …… Die Bolschewiken zählen sowieso nicht, eine Armee auf tönernen Füßen. Und außerdem haben wir mächtige Verbündete im Westen …… Doch damals wünschten wir uns diesen Krieg herbei ….. und wir würden diesen Deutschen zeigen, mit wem sie es zu tun hatten.« [12]. Heute, so Jaruzelski 1991 bei Abfassung seiner Erinnerungen, »erscheint uns das unerhört, und wenn ich daran denke, schäme ich mich.« 

Wenn alle Staats- und Regierungschefs in einer so ehrlichen Weise ihre Geschichte reflektieren würden, sähe es in der Welt weitaus friedlicher aus. Von dieser Größe scheint Donald Trump noch weit entfernt zu sein. Sein Auftreten in Warschau glich einem Fußtritt in Richtung der polnischen Nachbarn Rußland und Deutschland. Rußland wird destabilisierendes Verhalten vorgeworfen -  einen Tag vor dem Treffen mit Putin sicherlich sehr konstruktiv -  und gegen Deutschland wird gleich eine dreifache Attacke geritten: Trump »will eine andere EU, höhere deutsche Beiträge für die NATO und geht vor allem die deutsch-russische Energiekooperation an.« [13]  Wie bei seiner ersten Auslandsreise nach Riad geht es dem Dealmaker Trump vor allem um das Geschäft - vornehmlich das Waffengeschäft: Für bis zu 7,6 Milliarden $ soll Polen 8 Patriot-Raketenabwehrsysteme des Herstellers Raytheon ankaufen. [14] Dann soll Polen vom russischen Gas abgekoppelt werden und amerikanisches Flüssiggas kaufen. Da trifft es sich gut, dass sowohl die USA als auch Polen dem Klimaschutz keine Priorität einräumen. Wie in Riad traf sich Trump mit Staats- und Regierungschefs aus der Nachbarregion. Die aus mittel- und osteuropäischen EU-Staaten stammenden Politiker hatten sich zu einem Gipfeltreffen der Drei-Meere-Initiative in Warschau eingefunden, mit Trump als Ehrengast. [15] Geplant ist ein Korridor unabhängiger Staaten von Finnland bis nach Rumänien, der, wie schon ab 1919/20, Europa vor der Sowjetunion schützen soll. Heute geht es in erster Linie darum, die Annäherung Deutschlands an Rußland zu verhindern bzw. zu erschweren. 

Am 4. Februar 2015 hielt der Gründer und Vorsitzende des führenden privaten US-amerikanischen Think Tanks STRATFOR (Abkürzung für Strategic Forecasting Inc.), George Friedman, eine Rede vor dem renommierten Chicago Council on Global Affairs. [16] Prominente Redner wie die US-Präsidenten John F. Kennedy und Barack Obama sprachen hier zu hohen US-Militärs, Hedgefonds-Managern, einflußreichen Politikern und Vertretern internationaler Konzerne zu den globalen Aspekten amerikanischer Politik. In erschütternder Offenheit legte Friedman in Chicago die strategischen Ziele der USA in Europa auf den Tisch und machte gleich am Anfang deutlich, dass die USA keine Beziehungen zu Europa haben. Es gäbe nur bilaterale Beziehungen zu den europäischen Staaten. »Das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts, im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie im Kalten Krieg, waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland….. Seit einem Jahrhundert ist es für die Vereinigten Staaten das Hauptziel, die einzigartige Kombination zwischen deutschem Kapital, deutscher Technologie und russischen Rohstoff-Ressourcen, russischer Arbeitskraft zu verhindern.« [17] England habe im unter Bismarck vereinten und wirtschaftlich aufstrebenden Deutschland die Hauptgefahr gesehen. Da hätte Reichskanzler Bismarck nicht widersprochen. Am 7. April 1888 äußerte er sich wie folgt: »Das Interesse Englands ist, daß das Deutsche Reich mit Rußland schlecht steht, unser Interesse, daß wir mit ihm so gut stehen, als es der Sachlage nach möglich ist.« [18] Seit 1871 ist einer Elite der angelsächsischen Länder jedes Mittel recht, um eine starke Mittelmacht in Europa zu verhindern: Wirtschafts- und Handelskriege, Intrigen und gezielte Destabilisierungsmaßnahmen.

Und schon 1919 gab es die Idee, einen Gürtel von Pufferstaaten zwischen Deutschland und Rußland zu schaffen; den Begriff Cordon Sanitaire hatte der damalige französische Außenminister S. Pichon aus der Seuchenthematik in die politische Diskussion eingeführt. Bald erstreckte sich tatsächlich von Finnland über die baltischen Staaten und Polen bis Rumänien ein Staatengürtel, der die Sowjetunion vom übrigen Europa trennen sollte - angeblich zum Schutz vor der bolschewistischen Weltrevolution. Um heute den Alptraum einer deutsch-russischen Kombination zu verhindern, wollen die USA auf diese Idee zurückgreifen: Einen Gürtel aus antirussischen Staaten aufbauen, um Deutschland und Rußland von einander abzuschneiden/ bzw. zu schwächen. [19] 

Zibigniew Brzezinski (1928-2017), Graue Eminenz der amerikanischen Außenpolitik und zeitlebens ausgewiesener Rußlandhasser, wollte Rußland aufbrechen und in 68 Teile zerschlagen. Friedman jedoch äußert sich moderater: »Wir wollen die Russische Föderation nicht töten, sondern nur etwas verletzen bzw. ihr Schaden zufügen.« [20] Seit dem 31. Juli 2014 ist John F. Tefft Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika in Moskau. Er hat sich einen Namen als notorischer Unruhestifter und Experte für Regimewechsel gemacht. Seine Visitenkarte weist als Referenzen die Operationen in der Ukraine, in Georgien und in Lettland aus. Offensichtlich soll er jetzt die russische Bevölkerung gegen Präsident Putin aufbringen, damit dieser gestürzt wird. Die von außen inszenierte Krise des Rubels mit dramatischen Kursverlusten ist ebenfalls Teil der Strategie, in Rußland einen Aufstand zu provozieren. [21] Für jeden, der, durch Trumps Wahlversprechen ermutigt, den Konflikt mit Rußland zu entschärfen, auf Frieden in Europa gehofft hatte, muß nun leider klar sein: Donald Trump ist nicht die Alternative, sondern die Fortsetzung der expansionistischen und ausbeuterischen US-Außenpolitik, die auf einen Krieg mit Rußland und damit auf einen Weltkrieg zusteuert. [22]

Bereits unter US-Präsident Obama wurde das Strategiepapier TRADOC 525-3-1 [23] vom Dezember 2014 mit dem Titel Win in a Complex World 2020  - 2040 verabschiedet. Danach haben sich die US-Streitkräfte auf Die Abwehr nachfolgender Bedrohungen vorzubereiten:

-   Ru
ßland und China  
-   Iran und Nordkorea  
-   Terrorismus

Im Klartext: Die US-Streitkräfte sollen sich also in erster Linie auf einen Krieg mit Rußland und China einstellen. Zum Abschluß seiner Rede im Februar 2015 beruhigte Friedman die Europäer: Europa werde zum menschlichen Normalfall zurückkehren und Kriege führen wie z.B. in Jugoslawien und in der Ukraine. Er rechne aber nicht mit 100 Millionen Toten.

Und doch besteht seit dem 7. Juli 2017 wieder Grund zur Hoffnung: Einen Tag nach dem provozierenden Auftritt in Warschau einigte sich Donald Trump mit Vladimir Putin auf einen Waffenstillstand in Syrien, und zwar in einer deutlich freundschaftlichen Begegnung.

 

Quellen:

[1[  http://www.deutschlandfunk.de/us-praesident-in-polen-hohe-erwartungen-an-trump.1773.de.html?dram:article_id=390266  
[2]  http://www.handelsblatt.com/politik/international/trump-in-polen-dreifacher-angriff-auf-deutschland/20028084.html 
[3]  http://www.epochtimes.de/politik/europa/trump-besucht-vor-g20-gipfel-polen-a2139369.html    
[4]  http://www.deutschlandfunk.de/us-praesident-in-polen-hohe-erwartungen-an-trump.1773.de.html?dram:article_id=390266   
[5]  http://www.handelsblatt.com/politik/international/trump-in-polen-dreifacher-angriff-auf-deutschland/20028084.html   
[6]  Davies Norman: Im Herzen Europas. Geschichte Polens S. 299  
[7]  Monika Senkowska-Gluck: Das Herzogtum Warschau in Heinz-Otto Sieburg (Hrsg.): Napoleon und Europa Köln, Berlin 1971, S. 225f   
[8]  Keya Thakur-Smolarek: Der Erste Weltkrieg und die polnische Frage: Die Interpretationen des Kriegsgeschehens durch die zeitgenössischen polnischen Wortführer Berlin 2014   
[9]  Nach Angaben auf Grund polnischer Quellen (Polen. Deutschland und die Oder-Neiße-Grenze; Ostberlin, 1959, S. 863, 928f  
[10]  Norman Davies: White Eagle - Red Star. The Polish Soviet War 1919–1920 Pimlico, London 1972, 2004  
[11]  Woijech Jaruzelsiki von 1981 bis 1989 Vorsitzender der Polnischen Vereinigten Arbeiter   
[12]  Woijech Jaruzelsiki: Mein Leben für Polen München/Zürich 1993, S. 41
[13]  http://www.handelsblatt.com/politik/international/trump-in-polen-dreifacher-angriff-auf-deutschland/20028084.html 
[14]  http://www.faz.net/aktuell/politik/donald-trump-kritisiert-russland-bei-besuch-in-polen-15093825.html
[15]  http://www.zeit.de/2017/27/drei-meere-initiative-donald-trump-polen 
[16]  Gegründet  ein Jahr nach dem Council on Foreign Affairs (CFR) als Chicago Council on Foreign Relations am 20. Februar 1922     
[17]  George Friedman am 4 Februar 2015 in Chicago unter https://www.youtube.com/watch?v=oaL5wCY99l8&feature=youtu.be
Hier die gesamte Rede über 70 Minuten: https://www.youtube.com/watch?v=QeLu_yyz3tc  
[18]  Max Lenz/Erich Marcks: Das Bismarck-Jahr Hamburg 1915, Seite 190 
[19]  Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=QeLu_yyz3tc  
[20]  http://www.anderweltonline.com/klartext/klartext-2015/klartext-aus-amerika-us-think-tank-benennt-offen-imperiale-ziele/   
[21]  Ukraine: The Brown (Shirt) Revolution Interview mit Prof. Francis Boyle  http://sputniknews.com/voiceofrussia/2014_02_22/Ukraine-The-Brown-Shirt-Revolution-Prof-Francis-Boyle-7578/  
[22]  Vgl.dazu Naomi Klein: No ist Not Enough. Resisting Trump’s Shock Politics and Winning the World We Need No ist Not Enough. Resisting Trump’s Schock Politics and Winning the World We Need Chicago 2017  [23]  http://tradoc.army.mil/tpubs/pams/TP525-3-1.pdf