Rechtsstaat und Demokratie - Von Diethelm Raff 21.02.2016 22:09
Den an die Bundeskanzlei im Zusammenhang mit der Diskussion über Rechtsstaat
und Demokratie gesandten Ausführungen und Fragen ist folgendes voranzustellen. Mir scheint, dass die Rechtsstaatsdiskussion und die Direkte Demokratie in der Auseinandersetzung über die Durchsetzungsinitiative zu kurz kommen. Für mich handelt es sich - unabhängig von der Frage der richtigen Behandlung krimineller Ausländer - um einen Angriff auf das schweizerische aufgeklärte direktdemokratische System, das bis jetzt im Vergleich zu allen anderen Staaten die Volkssouveränität am ehesten in die Tat umzusetzen in der Lage ist. Von der Bundeskanzlei und Vertretern der
selbsternannten Eliten werden Massstäbe ehemals monarchistischer Staaten an die
sogenannte Rechtsstaatlichkeit angelegt, um das schweizerische System zu
beurteilen.
Denken wir daran, dass die federführenden
Islamistengruppen beim sogenannten arabischen Frühling wohlweislich einen über
den Menschen stehenden Rechtsstaat - gemäss
Scharia - als Alternative zu den
autoritären Regimes gefordert haben, somit keine Selbstbestimmung der Bürger, und
das genügte den Parteien von links bis rechts in den ehemaligen Monarchien in
Europa, um diese islamistische Bewegung nicht nur zu unterstützen, sondern sie
schwärmerisch als fortschrittlich zu begrüssen.
Meiner Meinung nach liegt der Fortschritt in
allen Belangen in der Selbstbestimmung der Bürger, und nicht in der
Mitbestimmung bei einzelnen, von den Eliten bestimmten Teilbereichen des
Lebens.
Sehr geehrte Damen und Herren in der
Bundeskanzlei Im Bundesbüchlein zur kommenden Abstimmung
am 28. Februar 2016 lese ich auf Seite 27 eine überraschende Definition von
Demokratie, die in der schweizerischen Demokratie fehl am Platz ist. Sie
erklären dort, dass in einer Demokratie das Parlament die Gesetze macht.
Das ist offensichtlich eine Definition aus
Deutschland oder einer anderen unvollendeten Demokratie, die aus Monarchien
oder gar Diktaturen hervorgegangen ist. Denn auch im deutschen Grundgesetz war
ursprünglich vorgesehen, dass die Umsetzung des demokratischen Prinzips, dass
alle Macht vom Volk, also von den Bürgern ausgeht, auf verschiedenen Wegen
umgesetzt werden sollte. Das kam aus machtpolitischen Gründen nie zustande und
die Bürger Deutschlands blieben unmündig. Es sollte eben nach dem 2. Weltkrieg
nie über eine immerwährende Neutralität und die erneute Militarisierung und Einbindung
im Rahmen der NATO abgestimmt werden, denn Deutschland wäre damals nach dem
Willen der Bürger neutral geworden und nicht in Militär- und andere
Machtbündnisse eingebunden, und hätte so viele Beiträge zum Frieden statt zum
Kalten Krieg leisten können. Es brauchte bis heute eine jahrelange Bearbeitung
der Bevölkerung Deutschland – dies einzig durch Parlamentsentscheide über den
Willen der meisten Bürger hinweg.
Entscheidend für eine eigentliche
Demokratie ist, dass alle Gesetze vom Volk ausgehen und ein Parlament nur
stellvertretend versucht, den Willen der Bürger umzusetzen. Falls das dem
Parlament aus irgendeinem Grund nicht möglich ist, sei es aus Machtgründen, aus
Parteisolidarität statt Bürgersolidarität, aus Manipulation durch Verwaltung
oder Interessengruppen, aus Unkenntnis der Materie oder Unverstand, gibt es das
Referendum, um den Willen der Mehrheit der Bürger herauszufinden und dabei zu
erfahren, ob das Parlament den Volkswillen erfasst hat oder eben nicht. Es handelt sich um die Umsetzung der Vorstellung von
selbstbestimmten, aufgeklärten Bürgern, wie sie zum Beispiel Immanuel Kant in
seiner Abhandlung von 1784 über die Frage ›Was
ist Aufklärung‹
benannt hat. ›Aufklärung
ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines
anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache
derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des
Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe
Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der
Aufklärung.‹
Die Vorstellung vom dummen Volk, das nicht in der Lage sei, anstelle einer
Elite urteilen zu können und deshalb nicht in der Lage sei, sich selbst eigene
Gesetze zu geben, kommt aus der autoritären Mottenkiste des Mittelalters, egal
ob von links oder rechts propagiert. Der Bürger soll systematisch so
eingeschüchtert werden, dass er sich nicht getraut, selbst zu urteilen. Er gibt
dann seine Mündigkeit an autoritär und selbstgerecht auftretende Besserwisser
ab.
Gerne weise ich Sie darauf hin, dass es in
den meisten Kantonen das Gesetzesreferendum oder sogar die Gesetzesinitiative,
also eine direkte Bestimmung eines Gesetzes durch das Volk, gibt und so gelebt
wird. Bedeutet Ihre Definition einer Demokratie als parlamentarische Demokratie
ohne
Volksrechte, dass die Kantone nicht demokratisch strukturiert sind, dort
also Undemokratie oder irgendeine Unordnung für die Herrschenden herrscht, wenn
die Bürger die Gesetze selbst bestimmen und selbst bestimmen wollen? Wollen Sie
deshalb das Volk vor sich selbst schützen? Und was sagen Sie zu der grossen
Mehrzahl der 2400 Schweizer Gemeinden, in denen kein Parlament existiert,
sondern die Bürger an Versammlungen oder an der Urne ihre Gesetze selbst
beschliessen?
Sind Sie so weit von der Realität
entfernt, dass Sie vergessen, dass im Schweizerischen Rechtsstaat das Volk die
Gesetze macht und das auf allen Ebenen -
ja dass die Direkte Demokratie in der
Schweiz genau dies immer zum Ziel hatte?
Und sind Sie sich bewusst, dass diese
Selbstbestimmung in der ganzen Geschichte der Schweiz immer wieder von neuem
gegen Ansprüche von Eliten in der Schweiz durchgesetzt werden musste? Zum
Beispiel durch die demokratische Bewegung in der 2. Hälfte des 19.
Jahrhunderts, die gegen den französisch inspirierten Zentralstaat von 1948
Volksinitiative und Volksreferendum durchgesetzt hat, gerade gegen eine
parlamentarische Demokratie – und das aus gutem Grund gegen die Machteliten und
entsprechend der in Gemeinden und verschiedenen Kantonen bestehenden
Selbstbestimmung der Bürger.
Ich frage also an: Wer in Ihrer Kanzlei hat
die einzig mögliche Demokratie als parlamentarische Demokratie definiert? Und wer
hat definiert, dass alle Alternativen zu dieser Scheindemokratie
undemokratisch sind? Und auf wen berufen Sie sich in Ihrer Definition? Kennen
Sie noch die Gemeindedemokratie und die Direkte Demokratie auch auf Bundesebene
als fortschrittliche Errungenschaft, auf die sich freiheitliche Bewegungen in
der ganzen Welt als gute Möglichkeit der Selbstbestimmung berufen, um die
Unzufriedenheit vieler Bürger zu überwinden?
Wie Sie vielleicht nicht wissen, ist
Demokratie als Volkssouveränität im Gegensatz zur Fürstensouveränität
definiert. Demokratie bedeutet, dass das Volk souverän ist. Das Parlament ist
lediglich dazu da, um vorübergehend, probehalber Gesetze zu definieren und
vorzuschlagen. Es müssen immer die Gesetze der Bürger sein, sonst sind sie nicht
legitimiert. Das Parlament muss in der Schweiz immer wissen, und tut
das hoffentlich auch, dass die Bürger die beschlossenen Gesetze immer umstossen
können, egal welches, wenn der Eindruck aufkommt, dass das Parlament den Willen
der Mehrheit der Bürger verpasst hat. Das ist der Sinn des Referendums, durch
das jedes Gesetz des Parlaments in Frage gestellt werden kann, weil es eben nur
unter Zustimmung der Bürger Gesetz werden kann. Sie haben vielleicht vergessen:
Gesetzgeber ist nicht das Parlament, sondern ist das Volk, die Bürger. Wie
kommen Sie dazu, zu behaupten, Gesetze seien etwas, das über dem Willen der
Bürger stehen könnte?
Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die
Gewaltenteilung von einem Herrn Montesquieu erfunden worden ist, einem
französischen Monarchisten, der lediglich die Macht unter den Herrschenden
aufteilen wollte und das Volk für zu dumm gehalten hat, um über sich selbst zu
bestimmen. Die Gewaltenteilung sollte sogar das gemeine Volk davon abhalten,
über sich selbst bestimmen zu können. Diese Gewaltenteilung ist für eine echte
Demokratie zwar auch brauchbar, um die Machtmöglichkeiten zu verringern, macht
aber nicht das Wesen selbst der Demokratie aus, nämlich die Selbstbestimmung
der Bürger. Die Gewaltenteilung allein ist auch mit einem elitären autoritären
Staat im Vergleich zum Absolutismus möglich, wie dies ja auch heute noch viele
autoritäre Staaten zeigen. Wie kommen Sie dazu, die sinnvolle
Gewaltenteilung innerhalb der Volkssouveränität als Gegensatz zur
Volkssouveränität zu definieren? Wo ist Ihre demokratische Legitimation, das Schweizer
Rechtsverständnis, das sich in den Volksrechten verdinglicht, umzudefinieren?
Die alte Frage ist, woher kommt Recht?
Rechtsetzung ist in einer Demokratie die Rechtsetzung durch die souveränen
Bürger. Die elitäre Definition und zum Teil auch die mystische Definition von
Recht ist ein Recht, das über den Bürgern steht und das aus dem Ideenhimmel
oder von höherstehenden Fürsten hervorgebracht wurde. Sie wissen vielleicht
nicht, dass die Fürsten ihre Legitimation meistens davon abgeleitet haben, das
Volk könnte nicht Recht setzen und Recht sprechen, weil es sich einfach
verstreiten würde, weshalb es eine sich auf höhere Einsichten abstützende Elite
bräuchte. Diesen Grundpfeiler für die Rechtfertigung einer Monarchie, einer
Plutokratie oder einer Herrschaft der Auserwählten wie in der griechischen
Demokratie, müssen Sie nicht wieder aus der Mottenkiste herausholen. Es
handelte sich hier immer um eine Definition der Herrschenden oder derjenigen,
die zu herrschen sich anschicken. Es soll dann einige Auserwählte geben, die dann
besser urteilen, was Recht ist. Die Fürsten wollten immer das Volk vor sich
selbst schützen und die Gedrückten und Gedemütigten gaben dem jahrhundertelang
recht. Immer waren es fortschrittliche Kräfte und Aufständische in der Geschichte,
nicht nur in der Schweiz, die sich getraut haben, diese Position in
Frage zu stellen. Es wurde durch viele, auch blutige Kämpfe hinterfragt, dass die
Rechtsetzung und Rechtsprechung durch Auserwählte, die einen besseren Zugang zu
Gottes Willen behaupteten, zu erfolgen hat. Leider ist es nur in der Schweiz gelungen,
dieses Prinzip der Hinterfragung über Jahrhunderte einigermassen
aufrechtzuerhalten und aufgeklärte Geister, die die Beherrschung nicht mehr mitmachten,
haben sich daran orientiert.
Zu behaupten, die Selbstbestimmung durch
die Bürger sei diktatorisch, ist obszön, denn die Auseinandersetzung in der
Geschichte, im Humanismus, in der Aufklärung und in den demokratischen
Bewegungen ging gerade darum, den Bürgern das Selbstbestimmungsrecht zu geben.
Diktaturen gedeihen nicht und sind auf dem Boden der Selbstbestimmung der
Bürger nie gediehen, sondern nur auf dem Boden der autoritären Machtentfaltung
und der Niederschlagung von Volksaufständen gegen die Besserwisser und
Machtbesessenen, die sich selbstverständlich immer ideologisch legitimiert
haben.
Woher nehmen Sie die Legitimation,
in der Schweiz ein Rechtsverständnis einzuführen, das dem einer autoritären
parlamentarischen Demokratie entspricht, in der sich einige Eliten aus Parteien
unkontrolliert die Macht aufteilen, Souveränität aus eigenem Gusto aufgeben
können, Währungen aus eigenem Gusto aufgeben, Verfassungen definieren, ohne sie
den Bürgern jemals vorzulegen, wie dies in Deutschland mit dem
Grundgesetz geschehen ist, oder in der EU geschieht,
in der Rechte und Gesetze definiert werden, ohne dass die Bürger ihre eigenen
Gesetze machen können?
Mit ihrer Umdefinition des Schweizer Rechts und dessen
Grundlagen untergraben Sie den Schweizer Rechtsstaat.
Können Sie mir bitte mitteilen, woher Sie ihre Definition nehmen und worauf sie
sich dabei beziehen - nicht etwa auf die
vielen Juristenprofessoren an Schweizer Universitäten aus Deutschland, denen
man nicht verargen kann, dass sie die Umsetzung der Volkssouveränität mit
Argwohn betrachten - sondern aus der
Schweizer Rechtsauffassung, die die Macht der Eliten bisher am besten zu
verhindern wusste?
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass in
einer Schweizer Demokratie auch die Richter den Bürgern gegenüber
verantwortlich sind und nicht einer abstrakten Rechtsauffassung, die ebenfalls
von Menschen definiert worden ist. Sie mag sehr gut sein oder auch nicht. In
einer Demokratie setzen die Bürger ihre eigenen Rechte und Gesetze, sonst sind
sie nichtig.
Woher haben Sie Ihre
Auffassung, dass Recht ausserhalb der Bürger entstehen soll? Wer ist dann der
Rechtssetzer ausser den Bürgern selbst? Menschenrechte entstehen aus
Vernunftgründen, aus Wissen über den Menschen, aus der Diskussion der Bürger,
aus der Auseinandersetzung mit der Realität. Übergeordnetes Recht ist ein
Mysterium, das nicht existiert, es ist immer von Menschen definiert und das von
Menschen definierte Recht wird auch hinterfragt und ist veränderbar.
Vielen Dank für Ihre Antwort - hoffentlich
vor dem Abstimmungstermin - und freundliche Grüsse
Diethelm Raff Präsident des Vereins für Direkte
Demokratie
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