Der große Happen - Von Wolf Gauer 26.09.2015 11:51
d.a. Von dem seit Jahren in São Paulo ansässigen Journalisten und Autor, von dem wir
drei gewichtige Berichte über
Vorgänge in Lateinamerika veröffentlicht haben [1], erhielten wir jetzt den
nachfolgenden Blick auf das BRICS-Mitglied Brasilien:
»Während ich dies
schreibe, lärmt ringsum wieder einmal das Protestritual des satten
brasilianischen Bürgertums, der ›panelaço‹: Man schleppt sich nach
dem Dinner auf den Balkon und klappert mit Töpfen, die ansonsten nur das
Personal in die Hände kriegt. Vorzugsweise dann, wenn sich Präsidentin Dilma
Vana Rousseff im Fernsehen an die Nation wendet. Brasiliens Begüterte wollen
nicht, was Rousseff will. Sie wollen keinen sozialen Ausgleich, keine
Landreform, keine Armen im Flugzeug, keine Schwarzen in der Universität. Sie
wollen den alten Staat der ›Eliten‹, der ihre Privilegien
verwaltet. Nicht den der Arbeiterpartei, der in 12 Jahren 70 Millionen der 200
Millionen Brasilianer ein Bankkonto verschafft hat. Sie verzeihen Rousseffs
knappen Wahlsieg im Oktober 2014 so wenig wie die ›New York Times‹ oder die deutschen Parteistiftungen. Was schert die Töpfetrommler die nach
der Militärdiktatur von 1964–1985 so mühsam eingeübte Demokratie und die trotz
vieler Mängel beachtliche soziale
Besserung? Brasiliens Eintreten für den ›Mercosur‹, für Solidarität mit Kuba und Venezuela, für die lateinamerikanische
Integration und für eine grundsätzlich multipolare Weltordnung? Vergessen wir
nicht: Das infantile Blechgebimmel wurde von chilenischen Großagrariern
aufgebracht und läutete ab 1971 den blutigen Coup des
Kissinger-Pinochet-Faschismus gegen die gewählte sozialistische Regierung
Allende ein, später auch die US-gesponserten Putschversuche gegen Präsident
Hugo Chávez Frías in Venezuela.
›Tod für
Lula‹ - ›Dilma,
warum haben sie dich nicht aufgehängt?‹ Im Schatten der
NATO-Kriegstreiberei in Europa erlebt Brasilien eine völlig neue, deutlich
maidan-mäßig synchronisierte Hasskampagne einschließlich erster tätlicher
Ausschreitungen und Rechtsbeugungen. Sie richten sich gegen die Präsidentin,
gegen ihren Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva, gegen die Arbeiterpartei
Partido dos Trabalhadores PT, und gegen unbequeme Linke aller Couleur. ›Ein Phänomen‹, wie dies selbst der frühere rechtslastige
Wirtschaftsminister Luiz Carlos Bresser Pereira zugibt, ›das ich nie in Brasilien gesehen habe. Ein plötzlicher, kollektiver Hass
der Oberschicht, der Reichen, auf eine Partei und eine Präsidentin. Nicht Besorgnis oder Angst, sondern
Hass. Hass, weil da zum ersten Mal eine Mitte-links-Regierung ist, die auch
links geblieben ist. Sie hat Kompromisse gemacht, sich aber nicht ausgeliefert.
Hass, weil die Regierung eine starke und klare Präferenz für die Arbeiter und
die Armen gezeigt hat.‹ [2]
Obwohl auch Brasiliens
Konjunktur schwächelt, ist die Beschäftigungslage immer noch gut und die Konsumversorgung die beste meiner bislang 41 Jahre in
Brasilien. Trotz der Blockierung aller sozial fortschrittlichen
Gesetzesvorlagen durch die Oppositionsparteien und trotz der erwähnten
Kompromisse mit den Rechtskonservativen. Ex-Präsident Lula konnte diesen am 1.
Mai wahrheitsgemäß vorhalten: ›Niemals haben Industrie und Banken so gut verdient
wie in den Jahren der PT-Regierung.‹ Dennoch durchlöcherte am 30. Juli ein Sprengkörper
das Tor seines ›Instituto Lula‹, das sich für soziale
Inklusion in Lateinamerika und Afrika einsetzt. Indessen versuchen
Länderstaatsanwaltschaften, Bundesrichter, Bundespolizei und der
Bundesrechnungshof Lula und Rousseff persönlich mit den Korruptionsvorwürfen um
den halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras in Verbindung zu bringen. Und die
Hetztruppe ›Morte ao Lula‹ [›Tod für Lula‹ mit 7600 Mitgliedern] kann auf
Facebook ungehindert zu Gewalt und Mord motivieren. ›Warum haben sie dich nicht
aufgehängt?‹ fragen Transparente in Anspielung auf die Folterungen der jungen Dilma Rousseff
während der Militärdiktatur.
Coup der
Konzernmedien Die Präsidentin ist weitgehend
entmachtet, ihre parlamentarische Unterstützung dahin. Ihre Neun-Parteien-Koalition
›Kraft des Volkes‹ vom Oktober 2014 zerbröselt. Teils wegen des
zunehmend kapitalorientierten, technokratischen Kurses ihrer Regierung, teils
aus pragmatischem, medial verwertbarem Ärger über die Rückfälle einiger
PT-Kader in die traditionelle Korruptionskultur, ironischerweise aber vom
Justizapparat der PT-Regierung selbst aufgedeckt. Die Schuldigen wurden
verurteilt und sitzen in Haft: Ein Novum. Die großen
rechts-sozialdemokratischen Oppositionsparteien PMDB und PSDB bestimmen heute
die parlamentarische Szene. Ihr zentraler und hysterisch nachgebeteter Vorwurf
der ›Korruption‹ hinderte sie selbst nicht
daran, am 27. Mai ungeniert die Wahlkampffinanzierung durch Unternehmerspenden
zu legalisieren. Eine unflätige und nur mit deutschen Verhältnissen
vergleichbare Medienkampagne gibt Rückenwind. Etwa fünf bourgeoise
Familienkonzerne bestimmen, was die Brasilianer zu denken haben. Rezept: Täglich
drei diskreditierende Nachrichten über Rousseff, Lula und PT, je eine über
China und Wladimir Putin. Folglich lehnen 71 % der Bevölkerung die Präsidentin
ab – laut Befragung durch Institute derselben Medienzaren. Der spanische
Medienwissenschaftler Ignacio Ramonet stuft die ›mediale Schlacht‹, den ›Medien-Coup‹, als wichtigstes Kennzeichen
der aktuellen lateinamerikanischen Auseinandersetzungen ein. Private
Medienkonzerne übernehmen die Funktion der rechtskonservativen Parteien, sobald
es gegen die Linke geht.
Zermürbung der
Präsidentin
Der gegenwärtige Präsident der
Abgeordnetenkammer Eduardo Cunha (PMDB) koordiniert und fanatisiert Rousseffs
parlamentarische Demontage, die auf Amtsenthebung beziehungsweise Selbstaufgabe
abzielt. Er kommt aus dem äußerst berüchtigten Dunstkreis des ehemaligen
Präsidenten Fernando Collor, der 1992 wegen Korruption und einer
Rekordinflation von 1200 % zurücktreten mußte. Cunha setzte danach auf die wachsende
parlamentarische Präsenz der einflußreichen evangelikalen Sekten Brasiliens und vertritt heute deren
machtpolitische und finanzielle Interessen. Wegen passiver Bestechung in Höhe
von mindestens 5 Millionen US-$ wackelt sein Stuhl, der Bundesanwalt plädiert
auf 180 Jahre Haft. Im Gegenzug bedroht Cunha die Präsidentin damit, daß er jederzeit 11 Amtsenthebungs-Anträge
seiner Gesinnungsgenossen auf die Tagesordnung setzen könne, sollte man ihm auf
die Pelle rücken. Er ist niveau-typisch für den mittlerweile sozialdemokratisch
beherrschten Kongreß. Hinter
Rousseff stehen lediglich noch die kommunistische PCdoB mit 357000 Mitgliedern,
die sozialistische PSB und die traditionelle Arbeiterpartei PDT, der Dilma
Rousseff selbst entstammt.
Frei Betto, der Dominikaner und
Befreiungstheologe ›Bruder Betto‹, Weggefährte und Berater von
Fidel Castro und Ex-Präsident Lula, glaubt angesichts des Drohszenarios nicht
an ein Amtsenthebungsverfahren: ›Es gibt kein Motiv dafür [...]. Selbst wenn Dilma
persönlich weitere drei Jahre aushalten würde, fürchte ich eher, daß sie aufgibt.‹ [3] Folgerichtig konzentriert die Rechte ihr
Feuer zunehmend auf den proletarischen Altpräsidenten Lula. Er nämlich könnte
2018 wieder zur Wahl antreten, und seine Wähler sind die 70 Millionen, die nicht vergessen haben, wer ihnen
einen Vorschuß auf Umverteilung
und gesellschaftliche Inklusion ermöglicht hat.
Washingtons
langer Arm Nicht alle Fäden werden in Brasilien
gesponnen. Eine Senatskommission unter Führung von Rousseffs Wahlgegner Aécio
Neves (PSDB) reiste im Juni nach Venezuela, um sich mit den politischen ›Opfern‹ der Regierung Maduro zu solidarisieren.
Wasserträger der USA, die sich sowohl in Washington als auch in der EU
profilieren will. Der kühle, aber korrekte Empfang in Venezuela geriet in den ›atlantischen‹ Medien zu einer Bedrohung von Leib und Leben: ›Brazil senators flee Venezuela attack‹. [4]
Seit dem Zweiten Weltkrieg
versuchen US-amerikanische Politiker und regierungsnahe Institutionen,
Brasilien als ›Schurkenstaat‹ mit nuklearen Ambitionen
zu etikettieren. Sie können dabei auf hiesige Sympathisanten zählen, laut
Insidern auch in den drei Gewalten: Am 28. Juli erfolgte überraschend die Inhaftierung
des 76 Jahre alten Vizeadmirals a.D., Ingenieurs und Wissenschaftlers Othon
Luiz Pinheiro da Silva. Dem mittlerweile pensionierten Militär und nur noch
privatwirtschaftlich tätigen Wissenschaftler und Energiemanager wird Korruption
vorgeworfen: Der Erhalt von 4,5 Millionen US-$ von Seiten eines bekannt ›generösen‹ Baukonzerns. Ein Vorwurf, dessen Klärung
andere Beschuldigte in Freiheit abwarten können.
Da Silva ist immerhin eine
Symbolgestalt brasilianischer Eigenständigkeit und Selbstachtung, kein Joseph
Blatter, und seine Inhaftierung eine offene Machtdemonstration gegenüber
Brasiliens linker, US-kritischer Regierung. Er dirigierte seit 1978 mit viel
Geschick und Beharrlichkeit die autonome Nuklearforschung des Landes, die nicht
auf die Bombe abzielt, sondern auf den Bau nuklearer U-Boot-Antriebe und
Kleinkraftwerke. Dies gegen den ständigen Widerstand der USA und mit
bemerkenswerten technischen Lösungen, vor allem beim Bau neuartiger Zentrifugen
zur Urananreicherung. Da Silva hatte die besondere Unterstützung von Präsident
Lula, der US-amerikanische Pläne einer Raketenabschußbasis im Staat Maranhão und eines
Marinestützpunkts in Rio de Janeiro abgelehnt hatte. Die ›New York Times‹ vom 28. Juli hat die Festnahme ›of that figure‹ bejubelt und den Admiral als ›Vordenker‹ eines ›geheimen nuklearen
Militärprogramms in den 70er und 80er Jahren‹ verleumdet.
Admiral da Silvas Inhaftierung
erinnert an die Anfänge der brasilianischen Nukleartechnologie in den 1950er
Jahren, die sich auf die reichhaltigen Thoriumvorkommen in Amazonien stützten.
Brasilien hatte damals in der (noch weniger als heute souveränen) BRD erste
Zentrifugen geordert, die bei der Verladung in Göttingen und Hamburg von den
Alliierten beschlagnahmt wurden. Der damals federführende Wissenschaftler Alvaro
Alberto, ebenfalls Admiral, wurde auf US-Druck hin gezwungen, das eigenständige
und wissenschaftlich brillante Nuklearprogramm Brasiliens einzustellen. Admiral
da Silvas Verhaftung ist auch deshalb brisant, weil er den Bau der von Siemens/KWU
und Areva/AN gelieferten Kernkraftwerke Angra II und Angra III energisch vorangetrieben
hatte. Angra I war dagegen noch aus der USA bezogen worden. Sein tatsächliches
Verbrechen ist, daß er, obwohl
Absolvent des elitären US-amerikanischen Technologieinstituts MIT, nicht vor
dem Imperium kuschte.
Brasilien ist der ganz große
Happen, der längst wegen seiner BRICS-Zugehörigkeit, wegen seiner enormen
Reserven an Agrarfläche, Süßwasser, Sonneneinstrahlung, Öl, Mineralien und
Arbeitskraft auf der imperialen Abschußliste steht. Die innenpolitische Krise, die Gewissenlosigkeit und
politische Unbildung breiter, ökonomisch saturierter Wählerkreise und ihrer
parlamentarischen Vertreter, animieren zum Komplott von rechts. Jedoch wenden
sich inzwischen erste landesweite Demonstrationen dagegen. Rund 200.000 Menschen
skandierten am 20. August ›Es gibt keinen Coup“, ›Cunha raus“ und ›Dilma bleibt“. Sie repräsentieren das Volk:
24 % mit einem Einkommen von unter 500 und 5 % über 5000 €, insgesamt 49 % afrobrasilianischen
Ursprungs.
Sollte die brasilianische Linke
dennoch scheitern, ist ganz Lateinamerika binnen kurzem wieder der Hinterhof
der USA. Das BRICS-Bündnis verlöre seinen einzigen Partner in dieser Hemisphäre
und der ärmere Teil der Welt einen unersetzlichen Helfer und Hoffnungsträger.
Anmerkung politonline d.a. Es sei daran erinnert, dass die
Staats-und Regierungschefs der BRICS-Gruppe - Brasilien,
Russland, Indien, China, Südafrika und ihre Verbündeten am 15. 9. 2014 in New
York während der Vollversammlung der Vereinten Nationen deutlich gemacht
hatten, dass sie entschlossen seien, ihre Völker durch wirtschaftliche
Entwicklung zu schützen und sich dem Diktat der Finanzoligarchie der Wall
Street und der Londoner City nicht zu beugen. Im Gegensatz dazu haben die Regierungen des
Westens signalisiert, dass sie
entschlossen sind, das todgeweihte transatlantische Finanzsystem und seine
Banken um jeden Preis zu verteidigen, nicht zuletzt durch immer offenere
Angriffe auf die nationale Souveränität. [5]
Nicht, dass Feststellungen dieser Art jemals bewirken
könnten, die ›Schlafwandler‹ in den Parlamenten aufzuwecken.
[1] http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=2087 17. 3. 13 Zum Tod des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez Frías
- Von Wolf Gauer http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=2328 2. 11. 14 Zum Ausgang der Wahlen in
Brasilien - Von Wolf Gauer http://www.politonline.ch/?content=news&newsid=1528 30. 5. 10 Militärische Kontrolle und Einkreisung Lateinamerikas
durch die USA - Von Wolf Gauer
[2] Folha de São Paulo, 1. 3. 2015, Übersetzung.
u. alle ff.: Wolfgang Gauer
[3] Brasil 247, 10. 8. 2015
[4] ›Brazil senators flee Venezuela attack‹ - Brasilianische
Senatoren flüchten vor venezolanischer Attacke; BBC vom 19. 6. 2015
[5] Strategic Alert Jahrgang 27, Nr. 40 vom 1. Oktober 2014
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