EINIGE MÄRCHEN ZUR PERSONENFREIZÜGIGKEIT - von Dr. iur. Marianne Wüthrich, Zürich

Vor der Abstimmung über die Erweiterung der Personenfreizügigkeit hat die Pro-Kampagne ein Ausmass angenommen, die die Propagandafeldzüge vor früheren Abstimmungen weit übertrifft. Zur millionenteuren Behördenpropaganda des Bundesrates und seiner Heerscharen von Integrationsberatern haben sich diesmal in kaum nachvollziehbarer Eintracht die Spitzen der Wirtschaftsverbände und der Gewerkschaften dazugesellt. Wer sich erlaubt, eine andere Meinung zu vertreten, wie dies eigentlich in der direkten Demokratie Schweiz möglich sein sollte, wird als «menschenverachtend» mundtot gemacht oder, wie der Jurist des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Romolo Molo, hinausgeschmissen. Weil sich die Befürworter gegenüber den zahlungsschwachen kleinen Parteien und Bürgergruppen am längeren Hebelarm wähnen, erlauben sie es sich, immer absurdere Märchen zu erzählen:

Märchen Nr. 1: Die Einwanderung von Arbeitskräften aus den neuen EU-Ländern werde nicht gross sein, denn aus den 15 bisherigen EU-Ländern seien auch viel weniger Leute gekommen als befürchtet.
 
Die Tatsachen: Grosse Einwanderungsströme sind vorprogrammiert. Die Erfahrung mit der Personenfreizügigkeit dauert gerade einmal gut ein Jahr. Bereits in den zwei Jahren zuvor wurden trotz Inländervorrang die Kontingente für Daueraufenthalter (15000 jährlich) laut EU-Integrationsbüro «erwartungsgemäss stark beansprucht. Sie waren nach 10 Monaten ausgeschöpft.» Die Kontingente werden übrigens nicht ewig dauern, und neue Länder mit vielen weiteren Bewerbern stehen bereits vor der Tür der EU. Ausserdem sind sowohl das Lohngefälle als auch die Arbeitslosenzahl der osteuropäischen Staaten gegenüber der Schweiz ungleich viel grösser als die entsprechenden Zahlen der alten EU-Länder. Weitere Erfahrung: In den ostdeutschen Bundesländern heuern Schweizer Arbeitgebervertreter billige Arbeitskräfte an, die dort ihre Stellen verloren haben, weil aus den Nachbarländern im Osten noch billigere Arbeiter nachdrängen.
 
Märchen Nr. 2: Der Gewerkschaftsbund wirbt erstaunlicherweise mit dem Slogan «Schluss mit der Lohndrückerei» für die Personenfreizügigkeit. Offenbar erhoffen sich die Gewerkschaftsbosse mehr Macht durch die sogenannte Verbesserung der flankierenden Massnahmen.
 
Die Tatsachen: Das Resultat des Experimentes mit den «griffigeren» flankierenden Massnahmen ist sehr fraglich, sonst würden sich die Grosskonzerne und économiesuisse nicht so stark machen für die Personenfreizügigkeit. Denn sie haben nur dann etwas davon, wenn sie billigere Arbeiter rekrutieren können. Leidtragende dieses Päcklis zwischen den Sozialpartnern werden jedenfalls die Arbeitnehmer in der Schweiz sein - auch die ausländischen Einwohner, denn ihre Arbeitsplätze und Löhne sind in Gefahr. Auch viele KMU werden grosse Probleme bekommen, weil sie auf gut ausgebildete Mitarbeiter angewiesen sind und diesen auch rechte Löhne bezahlen wollen. Wenn die Konkurrenz durch die sogenannten Einmann-Unternehmungen (die übrigens in den Einwanderungsstatistiken nirgends enthalten sind) zu stark wird, werden viele KMU nicht überleben können, was sich auch auf die Erhaltung der dringend nötigen Lehrstellen verheerend auswirken würde.
Märchen Nr. 3: Die EU werde im Falle eines Nein die Guillotine-Klausel anwenden, das heisst die Bilateralen Verträge I kündigen.
 
Die Tatsachen: Da die Rosinen in den Bilateralen I, entgegen häufiger Behauptungen, stark zugunsten der EU verteilt sind, werden die Herren in Brüssel sich eine Kündigung mehr als zweimal überlegen. Denken wir nur an die Unzahl von 40-Tonnern, die unsere Nord-Süd-Achse verstopfen und den Anwohnern das Leben versauern bzw. die Luft verpesten.
 
Märchen Nr. 4: Unsere Sozialversicherungen und staatlichen Einrichtungen (Schulen usw.) würden durch die vermehrte Einwanderung nicht sehr belastet, da die Erfahrung in den EU-Ländern gezeigt habe, dass die meisten Arbeitenden ihre Familien gar nicht mitbringen würden.
 
Die Tatsachen: Dies gilt vielleicht für die Grenzgänger, die abends zu ihrer Familie ins Nachbarland zurückkehren können. Übrigens werden diese Familien bei unseren Sozialversicherungen mitversichert. Abgesehen von diesen Fällen finde ich die Werbung für die Personenfreizügigkeit mit dem Argument, der Familiennachzug werde nur vereinzelt stattfinden, nicht nur unwahr, sondern menschenverachtend. Wenn wir schon billige Arbeitskräfte hereinholen, damit sie den Reichtum der Grosskonzerne vermehren sollen, ist es mehr als recht, dass sie nicht zusammengepfercht in Baracken hausen, sondern mit ihrer Familie ein menschenwürdiges Leben führen können. Dies aber kostet Geld, und wenn die niedrigen Löhne nicht reichen für das Existenzminimum der Familien, werden wir Steuerzahler zur Kasse gebeten.
 
Wenn wir menschenwürdige Lebensumstände für alle Einwohner der Schweiz anstreben, dürfen wir deshalb nur so viele Menschen aufnehmen, dass dies möglich ist. Auch unsere KMU sind in erster Linie auf eine hohe Kaufkraft im Inland angewiesen, denn die Inland-Nachfrage ist das stärkste Standbein der Wirtschaft, so weit diese nicht auf die fragwürdige Globalisierung setzt. Diesen Standpunkt als «menschenverachtend» abzutun, ist nicht recht.
 
Märchen Nr. 5: Um den sauren Apfel zu versüssen, behaupten einige Befürworter der Ausweitung der Personenfreizügigkeit, nach einem Ja sei der EU-Beitritt vom Tisch.
 
Die Tatsachen: Nachdem der Bundesrat kürzlich erklärt hat, das Beitrittsgesuch auch nach einem Ja nicht zurückziehen zu wollen, ist diese Hoffnung einer Gutgläubigen zerschlagen. Frau Calmy-Rey hat ja schon vor längerer Zeit unkluger-, aber ehrlicherweise verkündet, die Bilateralen II seien der nächste Schritt Richtung EU-Beitritt der Schweiz.
 
Fazit: Auch wenn die Gegner es sich nicht leisten können, Gratisznüni-Grossaktionen und Abstimmungspartys zu veranstalten, würde ich doch empfehlen, am 25. September ein Nein in die Urne zu legen.