Ukraine: Globale Machtprobe eskaliert

Präsident Putin hatte sich unmittelbar nach seinem Eintreffen zum Gipfeltreffen

der BRICS-Staaten in Rio de Janeiro mit Bundeskanzlerin Merkel, die anlässlich der Fußball-WM in Rio war, getroffen, um mit ihr über die Lage in der Ukraine zu sprechen, während US-Vizepräsident Joe Biden mit dem ukrainischen Präsidenten telefonierte, um der Kiewer Regierung die Unterstützung der Regierung Obama zuzusagen. 

Was die gegenwärtige Lage betrifft, so schreibt German Foreign Policy unter dem Titel Die Saat geht auf: »Angesichts des Flugzeugabsturzes tritt leider in den Hintergrund, daß die vom Westen protegierte Regierung der Ukraine ihre Kriegsführung im Osten des Landes verschärft. Angriffe auf Wohngebiete dauern an; nach der Preisgabe der Städte Slowjansk und Kramatorsk durch die Aufständischen sind die Regierungstruppen nun bestrebt, Donezk und Luhansk einzukreisen; in Slawjansk war es nach der Zerstörung der Wasser- und Stromversorgung sogar in Krankenhäusern zu Totalausfällen gekommen. Bereits vor Wochen hatte Sergij Taruta, der von Kiew installierte Gouverneur von Donezk, den Beschuß von Wohngebieten scharf kritisiert und darauf hingewiesen, daß dies den Aufständischen neue Kräfte zutreibe.  [1]  Dessen ungeachtet attackieren die Regierungstruppen fortgesetzt nicht nur Zivilisten, sondern zunehmend auch die wirtschaftliche Infrastruktur, mit fatalen Folgen. So wird der Direktor eines Grubenunternehmens in Donezk mit der Aussage zitiert, die Truppen hätten offenkundig gezielt die Kohleversorgung für das größte Kraftwerk der Region unterbrochen: Die Vorräte reichten noch für 20 Tage, danach könne es zu Stromknappheit kommen. 

Untermenschen
In Streitkräften und irregulären Milizen etablieren sich faschistische Kräfte, die Berlin hoffähig gemacht hat: Im Falle der Partei Swoboda durch Kooperation und gemeinsames Auftreten des Parteichefs mit dem deutschen Außenminister, im Falle des berüchtigten Prawy Sektor [Rechter Sektor] durch die billigende Inkaufnahme von dessen Erstarken auf dem Maidan. Die ukrainische Regierung, die die Angriffe forciert, steht einerseits unter massivem Druck faschistischer Kräfte. Ende Juni etwa hatten Tausende Ultrarechte auf dem Kiewer Maidan ein sofortiges Ende des damaligen Waffenstillstandes gefordert; Präsident Poroschenko müsse umgehend den Kriegszustand über das Donbass verhängen, hieß es. Anführer ultrarechter Freiwilligenbataillone verlangten, im Osten des Landes auf eigene Faust eingreifen zu können. Andererseits folgt die Kiewer Regierung mit den Attacken auch eigenen Positionen. So wurde etwa Poroschenko Ende der vergangenen Woche mit einem Ruf nach uferloser Rache zitiert: Für jedes Leben unserer Soldaten werden die Kämpfer mit Dutzenden und Hunderten der Ihren zahlen.  [2]  Bereits zuvor hatte Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk nach einer tödlichen Attacke auf ukrainische Soldaten erklärt, bei den Angreifern handle es sich um Untermenschen [subhumans], die ausgelöscht werden müssten; es gelte unser Land vom Übel zu säubern. Die auf der website der ukrainischen Botschaft in der USA publizierte Stellungnahme ist inzwischen leicht modifiziert worden; statt von subhumans ist nun von inhumans die Rede.  [3] 

Unter Präsident Poroschenko schreitet die Etablierung ultrarechter Milizen und die Durchdringung des ukrainischen Militärs mit Faschisten voran. Mitte Juni etwa besuchten mehrere Parlamentsabgeordnete der faschistischen Partei Prawy Sektor Einheiten der Streitkräfte, der Nationalgarde und irregulärer Milizen im Osten des Landes und übergaben ihnen Medikamente, Ausrüstung und Munition, die Swoboda mit einer Sammelaktion in Eigeninitiative beschafft hatte. Man werde auch weiterhin Druck ausüben, um die Verhängung des Kriegsrechts zu erreichen, erklärten die Abgeordneten anschließend. Swoboda und der Prawy Sektorsind für ihre exzessiven antirussischen Aggressionen berüchtigt; ihr Erstarken im Verlauf der Maidan-Proteste hat maßgeblich zur Eskalation der Aufstände im Osten der Ukraine beigetragen. 

Faschistische Paramilitärs 
Mittlerweile beschreiben nicht mehr nur russische und ukrainische, sondern ansatzweise auch westliche Mainstream-Medien den Einfluß faschistischer Kräfte innerhalb der Kiewer Regierungstrupps. Kürzlich hat etwa der französische Auslandssender France 24 geschildert, wie Aktivisten des Prawy Sektors in die Streitkräfte eintreten oder eigene Formationen bilden; vor  allem das Bataillon Asow besteht demnach zu einem hohen Anteil aus Faschisten. Es wird unter anderem von Oleh Lyaschko finanziert, der bei den Präsidentenwahlen mehr als 8 % der Stimmen erhielt. Im Juni hat eine deutsche Journalistin im hakenkreuzverzierten Hauptquartier des Prawy Sektors im Kiewer Hauptpostamt die Auskunft erhalten, die Organisation zähle heute bis zu 10.000 Aktivisten, von denen Hunderte in der Ostukraine kämpften. Durch ihre Kooperation mit der Regierung im Milieu von Streitkräften und irregulären Milizen werden die rechtsextremen paramilitärischen Gruppierungen de facto legalisiert, urteilt der ukrainische Politikwissenschaftler Wjatscheslaw Lichatschew.  [4]  

Die Rolle Berlins 
All dies ist für die Beurteilung der deutschen Ukraine-Politik nicht nur deswegen von Bedeutung, weil die Bundesregierung - unbeschadet ihrer aktuellen Forderung nach einem Waffenstillstand und erneuten Verhandlungen - Präsident Poroschenko und seine Regierung ungebrochen unterstützt und nur die Aufständischen und darüber hinaus Rußland mit Sanktionen belegt. Vielleicht noch schwerer wiegt, daß Berlin mit seinen Interventionen in Kiew ansatzweise schon seit Anfang 2012 seit dem Beginn der Maidan-Proteste vollumfänglich mit Swoboda kooperiert und die faschistische Partei dadurch weithin akzeptabel gemacht hat. Zudem hat die Bundesregierung das Erstarken des Prawy Sektor auf dem Maidan billigend in Kauf genommen; ihm wird entscheidender Einfluß auf die gewaltförmige Radikalisierung der Proteste und bei Janukowitschs Sturz beigemessen.«   

Wie die Deutschen Wirtschafts Nachrichten festhalten hat Merkel bei einem Treffen mit den Präsidenten von 8 Balkan-Staaten im kroatischen Dubrovnik am 15. 7. 14 die Westbalkan-Länder dazu aufgefordert, die Ukraine-Politik der EU zu unterstützen und betont, dass dies schon wegen der EU-Beitrittsambitionen der Staaten wichtig sei. »Mit ausdrücklichem Bezug auf den Konflikt in der Ukraine sagte sie: Hier will ich deutlich machen: Der Annäherungsprozeß beinhaltet auch den Versuch, sich in den außenpolitischen Fragen gemeinsam zu positionieren. Wir haben eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Hintergrund ist der Versuch gerade der Bundesregierung, eine einheitliche EU-Politik gegenüber Rußland zu organisieren; dabei geht es auch um die Frage weiterer Sanktionen.«  [5]    

Kaum eine Erwähnung in der Tagespresse findet der Umstand, dass die Regierung in Rom ein gutes Verhältnis mit Moskau pflegt. Eigentlich hatte, wie die die Deutschen Wirtschafts Nachrichten am 15. 7. schrieben, Merkel dem italienischen Premier Matteo Renzi in Aussicht gestellt, dass Italien die Position des Außenbeauftragten besetzen könne. Im Gegenzug hatte Renzi seinen ursprünglichen Widerstand gegen Jean-Claude Juncker als  EU-Kommissions-Präsidenten aufgegeben. Doch dagegen regt sich nun Widerstand bei den Hardlinern in Brüssel. Der Grund: Rom sei gegenüber Russland zu freundlich eingestellt. Italien übernahm mit Beginn des Julis die  EU-Ratspräsidentschaft und die erste Reise der italienischen Aussenministerin Federica Mogherini führte nach Russland, wo sie mit Sergej Lawrow zusammentraf, um das Pipeline-Projekt South Stream zu besprechen. Bei dieser Gelegenheit lud sie Putin zu dem für Oktober geplanten Treffen asiatischer und europäischer Führer nach Mailand ein. Wie die DWN des weiteren festhalten,  bewerteten vor allem die osteuropäischen Staaten diesen Besuch als Affront. Daher soll verhindert werden, dass Mogherini die Nachfolge von Ashton antreten kann. »Federführend bei der Kampagne gegen Mogherini sind Lettland, Estland, Litauen und Polen; die Begründung: Italien habe Russland gegenüber keine harte Haltung gezeigt.«  [6]   

Wie die Bürgerrechtsbewegung Solidarität hierzu vermerkt, wären die Staaten Kontinentaleuropas eigentlich gezwungen, sich strategisch und wirtschaftlich von der anglo-amerikanischen Empire-Fraktion abzusetzen, da deren Politik zu verrückt und gefährlich wird. »Indessen hat ja Europa«, so Scholl-Latour, »gar keine Außenpolitik. Europa vollzieht im Moment eine Unterwerfungspolitik gegenüber der USA, die es unter Helmut Kohl so nicht gegeben hätte und unter Schröder sowieso nicht. Es war ja vereinbart worden, dass die NATO nicht weiter als bis nach Ostdeutschland vorrückt, und da hört es dann auf. Dass die NATO die ehemaligen Ostblockstaaten, Polen, die baltischen Staaten und Rumänien, aufnimmt, das war ja damals ausgeschlossen worden. Nur war es die Dummheit von Gorbatschow, dass er dies nicht schriftlich fixieren liess, wozu der Westen damals bereit war. ….. Und jetzt haben wir auf einmal noch eine Verdrängungspolitik gegenüber Russland. Ich frage mich, was das soll. Die Deutschen sehen auch nicht, dass die Eurasische Union, die Putin machen möchte, nicht gegen Westeuropa gerichtet ist, sondern die Konsolidierung Russlands in Zentralasien bedeutet. Denn wenn Afghanistan jetzt geräumt wird und ein islamisches Chaos eintritt oder ein Gottesstaat entsteht, dann wird das ja auch ausstrahlen. Unter anderem auf Usbekistan und Tadschikistan, wo die Usbeken ja schon sehr stark in den Widerstandslagern in Pakistan vertreten sind. Hinzu kommt natürlich auch noch Kasachstan. Man will sich abschirmen: Diese asiatische Dimension ist im Grunde eine defensive Organisation, aber das hat man noch gar nicht begriffen. Und da wäre natürlich die Ukraine als europäisches Gegengewicht ein willkommener Partner gewesen. Das fällt jetzt weg und da bleiben dann nur noch Russland und Weissrussland und das sind eben nur 140 Millionen Menschen und davon, das darf man nicht vergessen, sind etwa auch noch einmal 20 bis 25 Millionen Muslime, und die sind nicht alle harmlos.  [7] 

Auch Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn betreibt eine aktive Diplomatie mit Russland. In einem Interview mit der österreichischen Zeitung Die Pressevom 10. 7. erklärte er: »Wenn man keinen Dritten Weltkrieg riskieren will, ist das die Realität: Die Krim ist de facto nicht mehr Teil der Ukraine. De iure werden wir das selbstverständlich nicht akzeptieren. Es ist jedoch illusorisch zu glauben, jetzt eine Lösung finden zu können. Russland wird nicht mit sich reden lassen. Das kann in zehn Jahren anders sein. Ich habe als Politiker eine andere Verantwortung als Sie. Wenn ich morgen aufwache, ist Russland noch immer auf der Landkarte. Ich muss zusammen mit Russland versuchen, aus dem Konflikt herauszukommen.« Asselborn kritisiert auch das Vorgehen der ukrainischen Führung: »Offenbar sucht Präsident Poroschenko eine militärische Lösung.« Europa und Amerika, so Asselborn ferner, könnten Russland und China die Politik nicht diktieren: »Eine Weltordnung funktioniert nicht ohne Russland und China. Der Westen muss sich auch selbst hinterfragen.« Dazu führt Asselborn das Beispiel Irak an: »Tony Blair hält den Irak-Krieg immer noch für richtig, obwohl dort Zehntausende von Menschen für nichts starben und heute reinste Anarchie herrscht.«  [8] 

Völlig unverständlich ist unter den gegebenen Umständen, dass auch ein Aussenpolitiker wie Karl-Georg Wellmann Russland vorwirft, die Lage in der Ostukraine weiter destabilisieren zu wollen. »Wenn Russland nicht aufhört, diesen Konflikt zu schüren, wird er weitergehen«, sagte Wellmann am 15. 7. Deutschlandfunk. Es muss ihm doch klar sein,  w e r  hier für die Destabilisierung zur Verantwortung zu ziehen ist. Für die Ankündigung Poroschenkos, die eigene Armee besser auszurüsten, äusserte der Politiker, der ausgerechnet der CDU angehört, sogar Verständnis: Poroschenko verteidige lediglich sein Land in einem Krieg, betonte der CDU-Aussenexperte. Im Gegensatz zu Wellmann schreibt allerdings auch Markus Bernhardt am 18. 7. in der jungen Welt klar und unmissverständlich: »Die bundesdeutsche Politik hat offensichtlich zunehmend Schwierigkeiten, die Geister, die sie selbst rief, wieder in die Schranken zu weisen.« Und Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Linksfraktion im Bundestag: »Im Rahmen der Kriegspolitik gegen die Menschen im Südosten der Ukraine gewinnen rechte Kräfte und Faschisten an Gewicht.«    


Quelle: GERMAN FOREIGN POLICY - Die Saat geht auf 
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58913
   15. 7. 14 
[1] Reinhard Lauterbach: Zivilisten als Ziele. junge Welt vom 5.
7. 2014 
[2] Ukrainische Soldaten durch Raketen getötet. Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.07.2014 
[3] Ukraine's Prime Minister Yatsenyuk: We will commemorate the heroes by cl beaning our land from the evil. http://usa.mfa.gov.ua/ua
   15. 6. 2014 
[4]  Simone Brunner: Gefährliche Hilfe von rechts. www.suedkurier.de 24.06.2014 
[5] 
http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2014/07/15/merkel-schwoert-balkan-staaten-auf-anti-russland-kurs-ein/  15. 7. 14  
[6]  http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2014/07/15/eu-will-italien-wegen-russland-freundlicher-position-abstrafen/   15. 7. 14  
[7]  http://de.ria.ru/opinion/20140704/268926478.html    4. 7. 14 
[8]  http://www.bueso.de/node/7497   15. 7. 14 
Zunehmendes Zerwürfnis zwischen Anglo-Amerikanern und Kontinentaleuropäern