Die Krim 09.03.2014 22:27
»Seit dem Untergang der Sowjetunion«, legt Orlando Figes, Professor für russische Geschichte
am Kirkbeck College an der University of London dar, »ist die Tatsache, daß die Krim zur
Ukraine gehört, in den Beziehungen zwischen der Ukraine und Rußland ein großes
Problem und für viele Russen auf der Krim und außerhalb ein Ärgernis. Daß sich
Moskaus Augenmerk nach der Revolution in der Ukraine vor allem auf die
Halbinsel Krim richten würde, konnte niemanden überraschen. Sie ist die einzige
Region der Ukraine mit einer klaren russischen Mehrheit.« [1]
Wladimir I., Großfürst von Kiew, ließ sich 988 in
Chersones, der antiken hellenischen Stadt bei Sewastopol, taufen und gab damit
den Anstoß zur
Christianisierung der Kiewer Rus, jenes Reichs, von dem Rußland seine religiöse
und nationale Identität herleitet. Die Krim, die über 500 Jahre lang von Türken
und tatarischen Stämmen beherrscht worden war, wurde 1783 von Rußland
annektiert. Hier verlief die für das Zarenreich so wichtige Scheidelinie
zwischen Rußland und der muslimischen Welt. Die tatarische Bevölkerung wurde
allmählich verdrängt und durch russische Siedler und andere orthodoxe Christen
ersetzt: Griechen, Armenier, Bulgaren und neue Städte wie Sewastopol errichtet.
Russische Kirchen ersetzten Moscheen. Die Entdeckung von christliches
archäologische Zeugnissen, byzantinische Ruinen, Höhlenkirchen und Klöstern
führte dazu, daß die Krim zu einem heiligen Ort erklärt wurde, zur Wiege des
russischen Christentums. Im 19. Jahrhundert war die Schwarzmeerflotte der
Angelpunkt der imperialen russischen Macht. Von Sewastopol aus kontrollierte Rußland
das gesamte Schwarze Meer, den Kaukasus eingeschlossen, ferner den Bosporus und
die Dardanellen und damit den Zugang zum Mittelmeer, wodurch Großbritannien
seine Interessen im Nahen Osten (den Verbindungsweg nach Indien) bedroht sah.
Nach der Niederwerfung des polnischen Aufstands 1830 und der ungarischen
Revolution 1848 durch zaristische Truppen breitete sich in Europa eine große
Russophobie aus. In der britischen Presse erschienen Forderungen, den Russen
einen Denkzettel zu erteilen, während
Napoleon III. auf eine Revanche für die Niederlage Napoleons I. vor
Moskau sann.
Der Krimkrieg von 1853 bis 1856 ging von Nikolaus I.,
aus, der die türkischen Protektorate Walachei und Moldau besetzt hatte; darüber
hinaus war er mit Frankreich in einen komplizierten Disput über den Zugang zu
den christlichen Stätten im Heiligen Land, das damals zum Ottomanischen Reich
gehörte, geraten und hatte sich zum Beschützer der orthodoxen Untertanen des
Sultans auf dem Balkan erklärt. Die Briten und Franzosen entsandten darauf hin
Truppen zur Krim, die den russischen Flottenstützpunkt zerstören sollten. Es
war zunächst ein militärisches Fiasko, bei dem 600 britische Reiter von der
russischen Artillerie auf den Höhen von Sewastopol niedergemäht wurden. Während
der danach einsetzenden Belagerung hielten die russischen Truppen elf Monate
lang durch, jedoch gelang den Franzosen Ende 1855 die Einnahme des innerhalb
der Stadtmauern gelegenen Fort Malakow, was dazu führte, daß die Russen
die Stadtfestung sprengten und ihren
Rückzug antraten. Durch den in der Folge 1856 geschlossenen ›Pariser
Frieden‹ wurden die Schwarzmeerhäfen
demilitarisiert und Rußland verlor Bessarabien.
Unter Alexander II. [der von 1855 bis 1881 regierte]
setzte die Besiedelung der Krim durch russische Bauern und Händler ein, die
dort lebenden Tataren wurden erstmals vertrieben. Während des
deutsch-französischen Krieges von 1871 setzte sich Rußland schlicht über die
Bestimmungen des ›Pariser Friedens‹ hinweg, bis die Alliierten eine neue
Schwarzmeerflotte billigten. Sewastopol wurde der strategische Vorposten im
Südwesten des russischen und später sowjetischen Imperiums. Stalin ließ Stalin große
Teil der angeblich nazifreundlichen Krimtataren nach Zentralasien deportieren
und rüstete Sewastopol massiv auf. Bis 1954 gehörte die Krim zu Rußland, bis
sie am 27. Februar 1954 anläßlich des 300. Jahrestags des Vertrags von 1654,
der die Einheit der Ukraine mit Rußland festlegte, von Nikita Chruschtschow der
Ukraine zugesprochen wurde.
Der Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und
Partnerschaft, in dem die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte in
Sewastopol geregelt wird, gibt den Russen weitgehende militärische Befugnisse.
2008 wollte die ukrainische Regierung den 2017 auslaufenden Pachtvertrag
zunächst nicht verlängern, doch unter dem Druck einer drastischen
Gaspreis-Erhöhung lenkte sie ein und verlängerte den Vertrag bis 2042.
Bis jetzt, schreibt Uri Avnery, sind schon unzählige
Artikel über die Krise geschrieben
worden. Historische Assoziationen gibt
es en masse. Obwohl Ukraine ›Grenzland‹ bedeutet, war es oft im Zentrum
europäischer Ereignisse. Die Veränderungen in der Geschichte des Landes waren
konstant und extrem. In einer Weise ist die Ukraine das Herzland der russischen
Kultur, Religion und der Orthographie. Kiew war bei weitem bedeutender als
Moskau, bevor dieses zum Mittelpunkt des Moskauer Imperialismus wurde. Während meiner
Lebenszeit mordete Stalin Millionen von Ukrainern durch bewußtes Aushungern.
Eine Folge davon war, daß die meisten Ukrainer die deutsche Wehrmacht 1941 als
Befreier willkommen hießen. Es hätte der Beginn einer wunderbaren Freundschaf
sein können, aber leider hatte Hitler vor, die ukrainischen ›Untermenschen‹ auszurotten, um die
Ukraine in den deutschen ›Lebensraum‹ zu integrieren. Die Krimbevölkerung
litt schrecklich. Das tartarische Volk, das die Halbinsel in der Vergangenheit
beherrscht hatte, wurde nach Zentralasien deportiert; erst Jahrzehnte später
wurde ihm erlaubt, zurückzukehren. Heute
sind sie eine Minderheit, anscheinend unsicher, wo ihre Loyalität liegt. Die
Beziehung zwischen der Ukraine und den Juden ist nicht weniger kompliziert.
Einige jüdische Schriftsteller wie Arthur Köstler und Schlomo Sand glauben, daß
das Khazarenreich, das vor tausend Jahren die Krim und die benachbarten
Gebiete beherrschte, zum Judentum
konvertierte, und daß die meisten Aschkenazim von ihnen abstammen. Dies würde
uns alle zu Ukrainern machen. [Viele frühe zionistische Führer kamen
tatsächlich aus der Ukraine] Als die Ukraine ein Teil des umfangreichen
polnischen Reiches war, nahmen viele polnische Adlige dort große Ländereien in
Besitz. Sie beschäftigten Juden als ihre Manager. So schauten die ukrainischen
Bauern auf die Juden als Agenten ihrer Unterdrücker, und der Antisemitismus
wurde zum Teil der nationalen Kultur der Ukraine. Wie wir in der Schule
lernten, wurden bei jedem Wandel in der Geschichte der Ukraine Juden ermordet.
Die Namen der meisten ukrainischen Volkshelden, Führer und Rebellen, die in
ihrer Heimat verehrt wurden, sind im jüdischen Bewußtsein mit schrecklichen
Pogromen verbunden. Der Kossake Hetman Bohdan Chmeinytsky, der die Ukraine vom
polnischen Joch befreite und von den Ukrainern als Vater der Nation angesehen
wird, war einer der schlimmsten Massenmörder in der jüdischen Geschichte. Symon
Petliura, der die Ukrainer nach dem 1. Weltkrieg gegen die Bolschewiken
anführte, wurde von einem jüdischen Rächer in Paris getötet. Für einige ältere
jüdische Immigranten in Israel war es
schwer zu entscheiden, wen sie mehr haßten, die Ukrainer oder die Russen [von
den Polen ganz zu schweigen].
Jetzt wollen sich die Ukrainer mit dem Westen verbinden,
sich der Unabhängigkeit und der Demokratie erfreuen. Was ist falsch daran? Nichts,
außer daß sie zweifelhafte Genossen haben. Neo-Nazis in ihren
nachgeahmten Nazi-Uniformen, die mit dem Hitlergruß grüßen und den Mund voll
antisemitischer Sprüche haben, sind nicht sehr attraktiv. Die Ermutigung, die
sie von westlichen Verbündeten erhalten, einschließlich
der abstoßenden Neokonservativen, ist ebenso wenig einladend. Auf der anderen
Seite ist Wladimir Putin auch nicht sehr einnehmend. Es ist der alte russische
Imperialismus, immer wieder. Der von den Russen benützte Slogan, die
Notwendigkeit, die russisch sprechenden Leute im Nachbarland zu schützen,
klingt doch unheimlich bekannt. Es ist eine genaue Kopie von Hitlers
Behauptung, 1938 die Sudetendeutschen vor dem tschechischen Monster zu
schützen. Aber Putin hat einige Logik auf seiner Seite: Sewastopol, das die
Belagerungen im Krim-Krieg und im 2. Weltkrieg erlitt, ist wesentlich für seine
Marine. Die Verbindung mit der Ukraine ist ein wichtiger Teil des russischen Strebens
nach Weltmacht. Als kaltblütiger berechnender Typ, wie er jetzt selten in der
Welt vorkommt, benützt Putin die guten Karten, die er hat, ist aber sehr
vorsichtig, nicht zu viele Risiken auf sich zu nehmen. Er managt die Krise;
scharfsinnig benützt er die offensichtlichen Vorteile Rußlands: Europa benötig
sein Öl und Gas, er benötigt Europas Kapital und Handel. Rußland spielt in
Syrien und im Iran eine führende Rolle. Die USA steht plötzlich wie ein
Zuschauer daneben. Ich vermute, daß es am Ende einen Kompromiß gibt. Rußland
will einen Fuß in der kommenden ukrainischen Führung haben.
Beide Seiten werden den Sieg verkünden, und das ist gut
so. [2]
Einer
Meldung von ›MMnews‹ vom 7. 3. zufolge zensierte der
Berliner ›Tagesspiegel‹ seine eigene online-Umfrage zu dem
Thema, wie der Westen mit Russland umgehen sollte. In der Umfrage konnten die
Leser abstimmen, wie der Westen gegenüber Russland reagieren sollte. Nach
wenigen Stunden hatte eine große Mehrheit dafür votiert, daß der Westen im
Umgang mit Rußland heuchlerisch sei; die meisten meinten, daß Moskau legitime
Interessen verteidigt. Damit hatten die Macher des Tagesspiegels vermutlich
nicht gerechnet; die Umfrage wurde kurzerhand von der website genommen. Eine
der Fragen hatte wie folgte gelautet: ›Bei
einer weiteren Eskalation sollte auch eine militärische Intervention durch die
NATO nicht ausgeschlossen werden‹. Dafür
votierten lediglich 4 %. [3]
[1] Orlando Figes ›Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug‹, Berlin Verlag, 2010 [2] Quelle:
Artikel vom 6. 3. 14 Uri Avnery, Gründer der
israelischen Friedensbewegung »Gush Schalom« und Aachener Friedenspreisträgers,
vertritt seit 1948 die Idee eines israelisch-palästinensischen Friedens und die
Koexistenz zweier Staaten: Israel und Palästina, mit Jerusalem als gemeinsamer
Hauptstadt. Für sein Engagement erhielt der 1923 geborene Avnery viele
Auszeichnungen; 2002 wurde er für seine friedensstiftenden Aktivitäten im Nahen
Osten mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik der Stadt
Oldenburg geehrt
[3] http://www.mmnews.de/index.php/politik/17339-tagesspiegel-zens
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