Europa am Scheideweg: Aufbau mit Eurasien oder Untergang mit dem Europa der Troika? - Von Alexander Hartmann 19.01.2014 21:03
Präsident Putins Wirtschaftsberater Sergej Glasjew, Mitglied der Russischen Akademie
der Wissenschaften, hat zum Jahresende
in der Zeitschrift ›Russia in Global Affairs‹ etwas dokumentiert, was eigentlich für jeden, der sich nicht von
der Propaganda der EU-Führung und den Massenmedien blenden läßt, längst
offensichtlich sein mußte: Die EU-Mitgliedschaft hat die Volkswirtschaften
Mittel- und Osteuropas wirtschaftlich massiv geschädigt. Drei Viertel der
Arbeitsplätze im polnischen Bergbau gingen verloren, der Schiffbau in Polen und
Griechenland liegt am Boden, ebenso die Elektro- und Automobilindustrie
Lettlands. Die Stromerzeugung sank durch erzwungene Stilllegungen von
Kernkraftwerken drastisch. Auch die Viehhaltung in den baltischen Staaten ist
zusammengebrochen. Gestiegen sind hingegen die Auslandschulden, z.B. diejenigen
Polens von 99 Mrd. auf 360 Mrd. $. Glasjews Aussagen werden durch weitere
Meldungen bestätigt und ergänzt. So berichtete die russische Tageszeitung ›Komsomolskaja
Prawda‹ am 28. 12. 13 unter der Überschrift ›Bulgarien stirbt leise‹ über die Lage des Landes,
das erst seit sieben Jahren Mitglied der EU ist: Die Wein- und Agrarerzeugung
des Landes ist zugrunde gerichtet worden; die Arbeitslosigkeit liegt zwischen
13 und 18 %, obwohl in den letzten 20 Jahren 2 Millionen Bulgaren aus
wirtschaftlichen Gründen ausgewandert sind. In Zypern führt die dramatische
Zunahme der Armut nach dem berüchtigten EU-Bail-in inzwischen zum
Auseinanderbrechen der Gesellschaft. Unter dem Titel ›Charakteristika und
Bedürfnisse der Nutzer der städtischen Tafel in Limassol‹ berichtete die ›Cyprus Mail‹ folgendes: »Die
Schaffung und Arbeit der Tafeln in den letzten beiden Jahren zeigen, wie
notwendig es ist, die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen, die
in den Jahren zuvor in einem Land mit einem relativ hohen Lebensstandard als
befriedigt vorausgesetzt werden konnten«, so die Sozialarbeiterin Christina
Tsiambarta. Es sei eine neue Klasse von Armen, die sogenannten ›Neu-Armen‹, entstanden. Die betroffenen Menschen brauchen
nicht nur Lebensmittelhilfe, sondern auch psychologischen Beistand. Charakteristisch
sei, »daß in der Kategorie der Bedürftigen jetzt neue Altersgruppen auftauchen,
die unter normalen Umständen aktive Mitglieder der Bevölkerung wären. Eines der
großen Probleme der Betroffenen ist der Umgang mit Stress und mit der
Arbeitslosigkeit.« Tsiambarta verweist auf die Zunahme seelischer Störungen
infolge der Finanzkrise; noch besorgniserregender sei jedoch, daß nur ein
Viertel der Befragten angab, professionelle medizinische Hilfe zu suchen.
Aber wie jeder weiß, leiden nicht nur
die ›neuen‹ EU-Mitglieder Osteuropas unter der EU-Politik. In Griechenland
leben inzwischen 44 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, die
Arbeitslosigkeit liegt bei 28 %. Nur 11,5 % der arbeitsfähigen jungen Griechen
unter 25 Jahren haben eine Arbeit. In Spanien stieg die Arbeitslosigkeit im
Oktober und November 2013 offiziell auf 26,7 % - die reale Arbeitslosigkeit
liegt jedoch, wenn man diejenigen berücksichtigt, die die Arbeitssuche
aufgegeben haben oder unterbeschäftigt sind, eher bei 40 %. Die offizielle
Jugendarbeitslosigkeit liegt hier bei 54,8 %. Die weitere Verschlechterung der
Lage ist vorprogrammiert. In Portugal kündigte Kabinettsminister Luis Marques
Guedes an, daß die Regierung die Solidaritätsabgabe auf Pensionen, die
eingeführt wurde, um die vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig
zurückgewiesenen Rentenkürzungen auf anderem Wege zu erreichen, anheben und
ausweiten will. Derzeit zahlen Pensionäre, die mehr als 1.350.- € Rente
beziehen, eine Abgabe zwischen 3,5 % und 10 %.
EU-Politik zielt auf die Zerstörung der Wirtschaft All dies ist Folge der von der
EU-Kommission bzw. der Troika diktierten Politik. Denn diese Politik ist nicht
darauf ausgerichtet, daß sich die Mitgliedstaaten gegenseitig in ihrer
wirtschaftlichen Entwicklung unterstützen, wie es de Gaulle, de Gasperi und
Adenauer vorschwebte; die EU hat sich vielmehr in einen Apparat zur
Durchsetzung einer Plünderungs- und Demontagepolitik verwandelt, auf Kosten der
Interessen der Bevölkerung sämtlicher Mitgliedstaaten. Ein einschlägiges,
Deutschland konkret betreffendes Beispiel hierfür ist die angekündigte Klage
der EU-Kommission gegen die deutsche Energiewende. Diese Klage richtet sich
aber nicht gegen die verrückte Entscheidung der Bundesregierung, aus der
Kernkraft auszusteigen und diese durch eine völlig ineffiziente Stromerzeugung
mit aberwitzig subventionierten Wind- und Solaranlagen zu ersetzen, sondern
gegen die Befreiung energieintensiver Betriebe von den Abgaben, mit denen diese
Subventionen finanziert werden. Insgesamt waren im vorigen Jahr 1700 Betriebe
in Deutschland von der EEG-Umlage befreit und die Bundesregierung will die Zahl
dieser Ausnahmen im laufenden Jahr noch ausweiten. Das hat einen sehr guten
Grund, wenn man einmal davon absieht, daß eigentlich alle Verbraucher von der
unsinnigen EEG-Umlage ›ausgenommen‹ werden sollten: Schon jetzt droht - trotz Befreiungen - die
massenhafte Abwanderung produzierender Betriebe, weil die Energieversorgung zu
teuer oder zu unzuverlässig geworden ist. Bis zu 25 % der Betriebe droht die
Schließung oder Verlagerung ins Ausland - verbunden mit entsprechenden
Arbeitsplatzverlusten.
Die eurasische Perspektive Sergej Glasjew weist darauf hin, daß
die ost- und mitteleuropäischen Länder viel besser dastünden, wenn sie sich
nicht nach Europa, sondern nach Eurasien orientieren würden. Anders als die
Politik der EU ist die Politik der von Rußland angeführten Zollunion und der
derzeit sich bildenden Eurasischen Union nämlich darauf ausgerichtet, die
wirtschaftliche Entwicklung ihrer Mitglieder nach Kräften zu fördern. Diese Politik
ist nicht auf den engen Rahmen der derzeitigen Mitglieder beschränkt, Rußlands
Präsident Putin arbeitet daran, sie durch entsprechende Abkommen mit China und
anderen ostasiatischen Staaten bis zum Pazifik auszuweiten, und er würde dies
auch gerne bis zum Atlantik tun, wenn die europäischen Staaten nur klug genug
wären, ihm die Hand zu reichen. Auf diese Weise könnte eine Region des
wirtschaftlichen Aufschwungs von Brest bis Wladiwostok entstehen, und - wenn in der USA eine vergleichbare Änderung
des Denkens vollzogen würde - auch über
die Beringstraße hinaus bis in den amerikanischen Kontinent. Am 28. Dezember 13
eröffnete China 6 neue Hochgeschwindigkeitsbahnen mit einer Streckenlänge von
zusammen fast 2000 km, in Betrieb sind nun rund 12.000 km. Erst im August hatte
der Staatsrat die Zahl dieser neuen Bahnprojekte von 38 auf 47 aufgestockt. Der
Kern dieses Streckennetzes soll auf 14.613 km ausgebaut werden, die bis 2019 in
Betrieb gehen sollen. Zum Vergleich: Spanien hat heute 3100 km Hochgeschwindigkeitsbahnen,
Japan 2664 km, Frankreich 2036 km - und die USA gar keine, wie die Zeitschrift ›Asia Sentinel‹ bemerkte.
Wird der Westen das Angebot annehmen? Glasjew schließt seinen Aufsatz mit der
Vermutung, daß sich die Lage im Westen wohl noch weiter verschlechtern muß, bevor
ein Umdenken stattfindet: »Wie es scheint, muß man noch zuwarten und erst eine
weitere Verschärfung der euro-atlantischen Integrationskrise erleben, bevor die
Länder Europas und Asiens das eurasische Prinzip einer gleichberechtigten
Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen akzeptieren können.« Tatsächlich gibt
es derzeit in Europa nur sehr wenige Stimmen, die den Wunsch nach einer solchen
Änderung erkennen lassen. Interessanterweise kommen einige dieser Stimmen aus
Deutschland, und die Tatsache, daß solche Stimmen überhaupt zu hören sind,
deutet darauf hin, daß es unter der Oberfläche der ›proeuropäischen‹ Ausrichtung der deutschen Politik durchaus Strömungen gibt, z.B.
in der Wirtschaft, die einen möglichen
Ausweg aus dem derzeitigen Desaster genau dort sehen, wo er zu suchen ist: in
der Zusammenarbeit mit den eurasischen Wirtschaftsmächten. Ein weiteres Indiz,
daß man in Berlin in dieser Hinsicht jedenfalls nicht alle Türen schließen
will, ist die Ernennung des SPD-Ostpolitikers Gernot Erler zum neuen
Rußland-Koordinator, der an die Stelle des profilierten Kreml-Gegners Andreas
Schockenhoff tritt und für eine weit umsichtigere Haltung bekannt ist. Zu den
prominenten Fürsprechern einer Verständigung und Zusammenarbeit mit Rußland gehört
auch der Rußlandexperte Alexander Rahr, der in der Tageszeitung ›Die Welt‹ darauf hinwies,
daß Putin bereits zahlreiche Versuche
unternommen hat, die Beziehungen zum Westen zu verbessern. Putins Rußland sei
keine Bedrohung für Europa, sein Projekt der Eurasischen Union ziele zwar
darauf ab, die russischen Interessen zu konsolidieren, aber diese Union sei
offen für eine Zusammenarbeit mit der EU. Rahr warnt jedoch auch, daß Putins
Rußland sich von Europa abwenden könnte, wenn es auf seine Angebote nicht
positiv reagiert, um statt dessen seine Zusammenarbeit mit China zu
intensivieren.
Tatsächlich ist Europa an einem Punkt
angelangt, wo es sich entscheiden muß: Der Weg, den es derzeit verfolgt, führt
über den Bail-in nach dem Zypern-Modell zur Zahlungsunfähigkeit und zum Kollaps
der Wirtschaft. Es reicht nicht, sich als Trittbrettfahrer ein bißchen an den
chinesischen Aufschwung anzuhängen. Wenn Europa seine produktive Wirtschaft weiterhin
demontiert, wird es auch nicht mehr vom Aufbau in China profitieren können, weil
es dann gar nichts mehr dazu beitragen kann. Wir müssen uns also dazu
entscheiden, mit der derzeitigen Politik zu brechen, die spekulativen
Finanzblasen durch ein Trennbankensystem aus der Welt zu schaffen und dann
endlich jene transeuropäischen Projekte in Gang bringen, die in den fast 25
Jahren seit dem Mauerfall in den Schubladen Staub gesammelt haben. Wenn dies
geschieht, können wir uns aus der Krise herausarbeiten, und dann steht einem
eurasisch-pazifischen Wirtschaftswunder nichts mehr im Wege. Dann kann auch
Europa selbst wieder eine führende Rolle beim Aufbau spielen. Es liegt an
Ihnen, werte Leser, den politischen Entscheidungsträgern auf die Sprünge zu
helfen.
Sergej Glasjew hat zudem die für viele sicherlich
provozierende Behauptung aufgestellt, daß Länder wie Griechenland, Zypern und
sogar die Türkei besser dastünden, wenn sie sich
statt der EU der in Vorbereitung befindlichen Eurasischen Zollunion und
Eurasischen Union anschließen würden. Glasjew war selbst früher Vizesekretär der
Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft. Wie er darlegt, könne niemand ernsthaft
behaupten, daß die sechs Länder der sogenannten ›Östlichen Partnerschaft‹ der EU, Armenien,
Aserbaidschan, Georgien, Moldawien, Ukraine, Weißrußland, von einer Assoziierung mit der EU in
irgendeiner Weise profitieren würden. »Eine unvoreingenommene Analyse enthüllt
rein politische Motive hinter der EU-Politik der ›Östlichen
Partnerschaft‹, mit dem Ziel, Möglichkeiten einer Beteiligung der ehemaligen
Sowjetrepubliken an der eurasischen Wirtschaftsintegration mit Rußland zu
blockieren. Den antirussischen Kern dieser Politik sieht man deutlich an den
konsequenten Bestrebungen von Politikern und Geheimdiensten der
NATO-Mitgliedstaaten, sich in die inneren Angelegenheiten der neuen
unabhängigen Staaten einzumischen, anti-russische Propaganda zu verbreiten und
rußlandfeindliche politische Kräfte zu fördern. Alle farbigen Revolutionen, die
vom Westen im postsowjetischen Raum angestachelt wurden, wurzelten in einer
fanatischen Rußlandphobie und zielten darauf ab, die Integration mit Rußland zu
verhindern.« Glasjew legt ferner dar, daß man als Reaktion darauf beispielsweise
Ländern, »die von den supranationalen Körperschaften der EU diskriminiert
werden«, allen voran Griechenland und Zypern, eine Beteiligung an der
eurasischen Integration anbieten könne. Dabei könne Zypern »als Pilotprojekt
für den Übergang von der europäischen Integration zur eurasischen Integration
dienen, insbesondere weil seine Wirtschaftsbeziehungen zu Rußland und zur
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten nach dem Bankrott seines Bankensystems noch
viel wichtiger geworden sind«. Griechenland stehe wahrscheinlich das
erniedrigende Schicksal bevor, daß Besitz der Orthodoxen Kirche und des
Staates zugunsten europäischer Gläubiger säkularisiert und enteignet wird.
Beide Länder unterhielten enge kulturelle und wirtschaftliche Verbindungen nach
Rußland. Glasjew erwähnt auch, daß Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew
die Türkei als »einen willkommenen Teilnehmer der eurasischen Integration«
bezeichnet hat. Vorerst erschienen solche Beteiligungen angesichts der »äußeren
Verpflichtungen gegenüber der EU« vielleicht unrealistisch. Dennoch schlägt
Glasjew folgendes vor: »Ein konstruktiver Ausweg aus den wachsenden Widersprüchen
zwischen den alternativen Integrationsprozessen in Eurasien wäre es, sie zu
einer wirtschaftlichen Kooperation zum beiderseitigen Nutzen zu
entpolitisieren. Allerdings scheinen die euro-atlantischen Vertreter nicht bereit zu
sein, ihren Anspruch auf Hegemonie in den internationalen Beziehungen
aufzugeben, so daß diese Option derzeit unwahrscheinlich erscheint. Wie
es scheint, man muß noch abwarten und erst eine weitere Verschärfung der
euro-atlantischen Integrationskrise erleben, bevor die Länder Europas und
Asiens das eurasische Prinzip einer gleichberechtigten Zusammenarbeit zum
gegenseitigen Nutzen akzeptieren können.«
Quellen – auszugsweise: http://www.solidaritaet.com/neuesol/2014/3/leitartikel.htm
›Neue Solidarität‹ Nr. 3, 15. Januar 2014
- alle Hervorhebungen durch politonline
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