Gegen Russland

Wladimir Jewsejew, der Chef der russischen Denkfabrik »Public Political Studies«

äusserte Anfang November die Ansicht, dass der US-Raketenschild in Europa bereits zum jetzigen Zeitpunkt für Russland gefährlich sein kann.

Ende Oktober hatte eine neue Phase des Raketenabwehr-Projekts eingesetzt, dem zufolge zunächst Aegis-Kampfsysteme in Rumänien zu stationieren sind; später sollen diese auch in Polen aufgestellt werden. Zwar sind sie vorerst nicht dazu geeignet, Gefechtsköpfe strategischer Raketen abzufangen, jedoch sei, wie Jewsejew ausführt, Russlands strategisches Potential trotzdem gefährdet, dies durch Aegis-Schiffe in der Nordsee oder im Europäischen Nordmeer: »Die Gefahr ist wie folgt: Falls sich Aegis-Kriegsschiffe im Norden einem Gebiet nähern, wo russische Atom-U-Boote der Borej-Klasse Patrouillen absolvieren, können die in westlicher Richtung abgefeuerten Raketen abgefangen werden.« Auch die Präsenz von Aegis-Schiffen in der Ostsee und dem Schwarzen Meer sei besorgniserregend, so Jewsejew ferner. Washingtons Argument, wonach sich der Raketenschirm in Europa gegen den Iran richte, hält der Experte für wenig überzeugend, denn der Iran verfügt nicht über Interkontinental-Raketen: »Die Reichweite der iranischen Raketen Shahab 3 und Shahab 3M beträgt nur 1.100 km. Es gibt auch Raketen mit einer Reichweite von 1.600 km, jedoch will sie der Iran nicht an seiner westlichen Grenze stationieren, um keinen  ausländischen Angriff zu provozieren. Deshalb stellen iranische Raketen mit dieser Reichweite keine Gefahr für Europa dar. Hypothetisch gefährlich wären nur Feststoffraketen des Typs Sajil 2. Sie wurden aber nicht in Dienst gestellt und seit Herbst 2011 nicht mehr getestet. Deshalb geht vom Iran keine Raketen-Gefahr aus. Das ist ein Mythos.« Jewsejew zufolge sind russische Raketen in der Lage, die gegnerische Raketenabwehr zu überwinden – und die US-Konstrukteure machen sich darauf gefasst: »Der modernisierte Raketenschirm soll falsche Ziele ignorieren, Abfangraketen mit mehreren Gefechtsköpfen abfeuern und so weiter.« Jewsejew betont, Russland dürfe vor diesem Hintergrund über die Gefahr der US-Raketenabwehr nicht hinwegsehen; diese bestehe bereits und werde weiter zunehmen. Deswegen sei Russland gezwungen, neue Optionen für die Überwindung des Raketenschirms zu entwickeln, was wiederum, wie es hiess, auf ein Wettrüsten hinauslaufe.  [1]  

Bereits im August 2008 hatte F. William Engdahl dargelegt, dass die Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Regierungen der Vereinigten Staaten und Polen über die Stationierung von Abfangraketen der USA auf polnischem Boden am 14. August 2008 der gefährlichste Schritt auf dem Weg zu einem Atomkrieg sei, den die Welt seit der Kuba-Raketenkrise 1962 gesehen habe. Und bereits zu jenem Zeitpunkt schrieb er: »Bei den US-Raketen in Polen handelt es sich nicht um einen defensiven Schritt, um die europäischen NATO-Staaten vor einem russichen Atomschlag zu schützen, wie dies Militärstrategen hervorgehoben haben, sondern sie stellen eine existentielle Bedrohung für die zukünftige Existenz der russischen Nation dar.« Inhalt der Vereinbarungen: Die Stationierung von 10 Abfangraketen in Polen und eines Radarsystems in der tschechischen Republik. »Laut Washingtons lächerlichen Behauptungen«, so Engdahl, »sollen jene mögliche Angriffe von sogenannnten Schurkenstaaten kontern, darunter der Iran. Um zu dem Abkommen zu gelangen, stimmte Washington einer Verstärkung der polnischen Luftraumverteidigung zu.« Die offizielle Verlautbarung der damaligen Sprecherin des Weissen Hauses, Dana Perino: »Wir glauben daß die Raketenverteidigung ein substantieller Beitrag für die kollektive Sicherheit der NATO ist.« Die Eröffnung der Abfangbasis in Polen war für 2012 vereinbart, während Tschechien am 8. 7. 2008 ein Abkommen für die Stationierung eines US-Radars unterzeichnete. Putin hatte die Durchsichtigkeit der Propagandakampagne der USA enthüllt und Präsident Bush angeboten, dass die USA die von Russland geleasten Radaranlagen in Aserbaidschan an der iranischen Grenze benützen könnte, um die iranischen Raketenstarts besser zu beobachten, ein Angebot, das die Bush-Administration ganz einfach ignorierte. Gleichzeitig vermerkte Engdahl: »Jedwede Illusionen darüber, dass eine Präsidentschaft Obamas einen Rückgang solcher provokanten militärischen Schritte der NATO und der USA bedeuten würde, sollte als gefährliches Wunschdenken abgelehnt werden. Obamas Aussenpolitik-Team enthält ausser Zbigniew Brzezinski auch Brzezinskis Sohn Ian, den derzeitigen Vizestellvertreter des US-Verteidigungsministers für europäische und auf die NATO bezogene Angelegenheiten. Ian Brzezinski ist ein treuer Unterstützer der US-Raketenverteidigungspolitik, der Unabhängigkeit des Kosovos und der NATO-Ausweitung in die Ukraine und Georgien.«  [2] 

Die gegenwärtigen Situation hat Engdahl in dem nachfolgend von uns veröffentlichten Aufsatz »Putin bereitet auf das Schlimmste vor und beendet Kooperation mit der NATO über Raketenabwehr« einer genaueren Analyse unterzogen: 

Hinter der Fassade der Kooperation zwischen der Obama-Regierung in den USA und der Putin-Regierung in Rußland über den Abbau des Chemiewaffenarsenals in Syrien und einer Einigung über das Atomprogramm mit dem Iran läuft eine eiskalte Eskalation von Spannungen, die in den westlichen Medien kaum zur Kenntnis genommen wird. Im Zentrum der Spannungen steht Washingtons hartnäckige Weigerung, in der Frage der »Raketenverteidigung« in Europa  - die diesen Namen sicherlich zu Unrecht trägt -  mit Rußland zusammenzuarbeiten. Mit Recht besteht Rußland darauf, daß sich die Stationierung von amerikanischen Raketen und entsprechenden Anlagen in Polen, der Tschechischen Republik und jetzt auch in Rumänien und Bulgarien nicht gegen den Iran richtet. Vielmehr werde damit eine existentielle Bedrohung für Rußlands Zukunft geschaffen. Westliche Medien reagieren pflichtschuldig mit einer persönlichen Verteufelung Putins, während die Vorbereitungen für einen atomaren Erstschlag gegen Rußland weiterlaufen. Ein Treffen zwischen Pentagon-Vertretern und dem rumänischen Präsidenten am 29. Oktober wurde in den westlichen Mainstream-Medien weitgehend ignoriert. Der Leiter der Abteilung Politik im US-Verteidigungsministerium, James Miller, tat den ersten Spatenstich für eine amerikanische Raketenstellung, die zur US-Raketenabwehr gehört und angeblich zum Schutz vor einem möglichen Angriff durch den Iran oder Nordkorea (!) auf Europa errichtet wird.

Standort der rumänischen Raketenabwehr ist ein ehemaliger Luftwaffenstützpunkt in der Nähe von Deveselu, 180 km östlich der rumänischen Hauptstadt Bukarest. Er wird 2015 fertiggestellt sein. Rumäniens Präsident Traian Basescu war bei der Zeremonie anwesend. Offenbar fällt dieser auf die Pentagon-Propaganda über den defensiven Charakter der auf rumänischem Boden stationierten  US-Raketen, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden können, herein. In seiner Begeisterung nimmt Basescu nicht zur Kenntnis, daß er damit Rumänien im Fall eines Kriegs mit der NATO zum vorrangigen Ziel eines atomaren Angriffs Rußlands gemacht hat. 

Bedeutsamerweise hat sich Washington immer wieder standhaft geweigert, sich auf rechtlich bindende Garantien festzulegen, daß die neue Raketenabwehr in Europa nicht gegen Rußlands strategisches Atomwaffenarsenal gerichtet ist. Rose Gottemoeller, im Verteidigungsministerium   der USA für Abrüstung zuständig, erklärte kürzlich vor polnischen Zuhörern: »Wir engagieren uns für einen Dialog über eine Raketenabwehr« – eine weitgehend bedeutungslose Geste, die es eindeutig so aussehen lassen soll, als verhalte sich Washington verantwortlich, ganz im Gegensatz zu den paranoiden Russen. Die amerikanischen Pläne für eine Verteidigung in Europa sehen Anlagen in Tschechien, Polen, Bulgarien sowie, wie bereits dargelegt, in Rumänien vor, desgleichen Radarstationen in der Türkei. Vertreter der USA und der NATO bestehen darauf, daß das System strikt dem Schutz Europas vor möglichen Angriffen durch den Iran und Nordkorea dient.

Putin reagiert    
Am 31. Oktober, zwei Tage nach der Zeremonie in Rumänien, antwortete Präsident Wladimir Putin auf die jüngste Bedrohung durch US-Raketen. Putin kündigte offiziell eine Order aus dem Jahr 2011 auf, durch die eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe im russischen Präsidentenamt gebildet worden war, die in der Frage der Raketenabwehr eine Zusammenarbeit mit der NATO entwickeln sollte. Zudem widerrief er ein Dekret vom 25. April 2012: »Über die Aufhebung der Anordnung des russischen Präsidenten bezüglich des ›Sonderbeauftragten des Präsidenten für die Raketenabwehr-Kooperation mit der North Atlantic Treaty Organization [NATO]‹«. Nicht minder alarmierend als der Bruch in der Zusammenarbeit mit der NATO ist die Tatsache, daß die Zeremonie in den westlichen Medien praktisch nicht zur Kenntnis genommen wurde. Es wurde nicht ernsthaft erwogen, weder in den Medien, noch bei den Regierungen, die Öffentlichkeit im Westen über den destabilisierenden Charakter der Stationierung der Raketenabwehr durch das Pentagon zu informieren. Wladimir Kozin, ein ehemaliger hochrangiger Raketenabwehrexperte des russischen Außenministeriums und jetzt Mitglied von Putins ressortübergreifender Arbeitsgruppe, die in Kooperation mit der NATO ein Regelwerk über Raketenabwehr zu entwickeln versucht, erklärte jüngst in einem Artikel in der russischen Zeitung Moscow Times: »Amerikanische operative Raketenabwehrsysteme, die 2015 bzw. 2018 in Rumänien und Polen stationiert werden sollen, sind nicht dazu gedacht, potentiell vom Iran abgeschossene Raketen abzufangen, wie die USA zur Begründung ihres geplanten Raketenschirms erklären. Das ist die Aufgabe der Raketenabwehrsysteme der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten in der Golfregion. Der einzige Zweck der amerikanischen Raketenabwehranlagen, die in Europa stationiert werden, besteht in der Zerstörung russischer Interkontinentalraketen.« Kozin betonte: »Rußlands Bedenken gründen sich auf eine Reihe objektiver Faktoren, wie beispielsweise das Vorrücken der NATO-Infrastruktur in Richtung auf die Grenzen Rußlands. Ein neuerliches Beispiel ist der Plan Bulgariens, Polens und Rumäniens, ein US-Raketenabwehrsystem auf ihrem Territorium zuzulassen, das noch weit schlagkräftiger sein wird als das bereits zuvor für Polen und Tschechien geplante.« In Wirklichkeit verfolgt Washington eine Politik von Lügen und Täuschung, seit US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Ende 2006 die Stationierung von Raketen und entsprechenden militärischen Anlagen in Polen und der Tschechischen Republik gegen »die Gefahr eines iranischen Raketenangriffs auf Westeuropa« ankündigte. Im Februar 2007 hielt Putin als Gast der internationalen Münchner Sicherheitskonferenz, der früheren Wehrkunde-Konferenz, eine ungewöhnliche Rede, die viele im Westen überraschte. Er erklärte ganz offen, die angekündigte US-Raketenabwehr in Polen und der Tschechischen Republik sei keinesfalls defensiv, sondern vielmehr offensiv ausgerichtet und richte sich nicht gegen den Iran, sondern gegen Rußland. Putin vor seinen schockierten Zuhörern in München: Das bedeutet, daß die NATO ihre Stoßkräfte immer dichter an unsere Staatsgrenzen heranbringt; ..…. es ist offensichtlich, daß der Prozeß der NATO-Erweiterung keinerlei Bezug zur Modernisierung der Allianz selbst oder zur Gewährleistung der Sicherheit in Europa hat. Im Gegenteil, sie ist ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt. Nun haben wir das Recht zu fragen: Gegen wen richtet sich diese Erweiterung? Und was ist aus jenen Versicherungen geworden, die uns die westlichen Partner nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages gegeben haben? Als Reaktion auf Putins Offenlegung der US-Offensivstrategie sprachen westliche Medien zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion im Jahr 1991 von einem neuen Kalten Krieg zwischen dem Westen und Rußland. Allerdings erwähnten sie nicht, daß ihn Washington und nicht Rußland initiiert hatte. Das US-Außenministerium veröffentlichte eine formelle Protestnote, in der sich die Bush-Regierung »über die wiederholten bissigen Kommentare über das geplante System durch Moskau verwundert« zeigte. Doch die Stationierung der Raketenabwehr in Europa und der Türkei ist alles andere als defensiv, genauso wenig wie die Haltung gegen China. Kein Geringerer als Lt. Colonel Dr. Robert Bowman, Direktor des Raketenverteidigungsprogramms der US-Air Force in der Reagan-Ära, bezeichnete die Raketenabwehr als »fehlendes Bindeglied zu einem Erstschlag«. Wenn eine von zwei konkurrierenden Atommächten Raketenabwehrsysteme stationiert und die andere nicht, so ist erstere versucht, einen atomaren Erstschlag auszuführen, weil sie sich kalt ausrechnet, daß die Fähigkeit zur Vergeltung für den anderen, in diesem Fall Rußland, durch die US-Raketen-Abwehr geschwächt ist.

Rußlands aktive Maßnahmen  
Rußland steht nicht untätig und händeringend herum. Am 1. November gab die staatliche Nachrichtenagentur RIA Novosti bekannt, daß sich zwei russische Tupolew-Bomber vom TypTu-160 Blackjack auf einem Einsatz in Südamerika befinden. Sie führen dort im Rahmen eines Trainings für den Kampfeinsatz mehrere Kontrollmissionen über der Region durch, teilte das   Verteidigungsministerium mit. Es sind atomwaffenfähige Bomber. Ursprünglich hatte Putin eingewilligt, sie nach einer kurzen Übung zurückzurufen. Am Tag nach dem ersten Spatenstich für die rumänische Raketenanlage rückte Putin von dem Plan ab, die russischen Tu-160-Bomber von ihrem Stützpunkt in Venezuela zurückzurufen. Am 3. November war die Türkei gezwungen, ihre amerikanischen F-16-Jagdflugzeuge starten zu lassen, um mehrere russische Flugzeuge an der Grenze zur Türkei, einer der Stellungen der US-Raketenabwehr, abzufangen. Es war eine nicht gerade subtile Warnung an Ankara. Zudem hatte Präsident Putin am Rande der jährlichen  russischen Militärmesse [9th International Exhibition of Arms, Military Equpiment and Ammunition] im September in Nischni Tagil angekündigt, Rußland werde in den kommenden Jahren umgerechnet 775 Milliarden US-$ für die Modernisierung seiner Streitkräfte aufwenden. Zum Vergleich: Die Nummer zwei der Welt, China, wird offiziell 132 Milliarden, inoffiziell vermutlich weit mehr, ausgeben. Doch der große Elefant in der Welt der Verteidigung ist Washington mit offiziellen Ausgaben von über 1 Billion Dollar in diesem Jahr, trotz Haushaltskürzungen. Der Trend weist in Rußland nach 20 Jahren Haushaltsstagnation deutlich nach oben. Auch wenn Wladimir Putin mit Sicherheit kein Heiliger ist, läßt sich nicht verleugnen, daß Rußland stets für diplomatische statt für militärische Lösungen eingetreten ist. Die Weigerung von inzwischen zwei US-Präsidenten, George W. Bush und Barack Obama, zu ernsthaften Verhandlungen mit Rußland über den Abbau der Atomkriegsgefahr ist mehr als merkwürdig. Sie läßt darauf schließen, das Washington und alle, die insgeheim die Fäden der Macht in der Hand halten, darunter auch die Militärs und der militärisch-industrielle Komplex der NATO-Mitgliedsländer, wieder einseitig die Vorstellung vom  Anfang der 1950er Jahre übernehmen, die damals von General Douglas MacArthur vertreten und von US-Marineminister Francis P. Matthews sowie dem vehementen Kommunismusgegner Papst Pius XII. und anderen unterstützt wurde – die atomare Auslöschung der damaligen Sowjetunion. 

 

[1]  http://german.ruvr.ru/2013_11_14/Experte-Raketenschild-in-Europa-ebnet-Weg-fur-Wettrusten-1554/    13. 11. 13    Experte: Raketenschild in Europa ebnet Weg für Wettrüsten – Interview mit  Andrej Iljaschenko   
[2]  http://boehses-holz.forumieren.de/t108-raketenabwehr-washington-und-polen-haben-die-welt-naher-an-den-abgrund-des-krieges-gebracht  20. 8. 2008  Raketenabwehr: Washington und Polen haben die Welt näher an den Abgrund des Krieges gebracht – Von F. William Engdahl   [3]  http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/europa/f-william-engdahl/putin-bereitet-auf-das-schlimmste-vor-und-beendet-kooperation-mit-der-nato-ueber-raketenabwehr.html;jsessionid=1D3A5D7F729542695AC2DD4383B4BB23  14. 9. 13  
Putin bereitet auf das Schlimmste vor und beendet Kooperation mit der NATO über Raketenabwehr - Von F. William Engdahl