Netanjahu in Berlin

Am Mittwochabend, 5. Dezember, fanden in Berlin zwei getrennte Kundgebungen gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu statt. Rund 40 Palästinenser demonstrierten in Sichtweite des abgesperrten Bundeskanzleramtes für die »sofortige Anerkennung des Staates Palästina«, während sich am Brandenburger Tor 20 vor allem israelische Jugendliche versammelt hatten, um Netanjahu und die ihn begleitenden Kabinettsmitglieder mit Protestschildern zu begrüssen. Auf Flugblättern warfen sie der Merkel-Koalition eine »einseitige Unterstützung der israelischen Regierung« vor und kritisierten die deutschen »Waffenlieferungen in die gesamte Region«. Eingeladen hatte der »iranisch-israelische Kreis«, ein Zusammenschluss junger Menschen aus beiden Ländern, die sich gegen Krieg, Sanktionen und Besatzung wenden.

Martin Forberg von der Gruppe »Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden« erklärte, Israel sei für die Palästinenser »keine Demokratie, so wenig wie der Iran das für seine eigene Bevölkerung sei«. Netanjahus Ankündigung neuen Landraubs, die unmittelbar nach der Palästina zu einem Nichtmitglied- oder Beobachterstaat aufwertende UNO-Abstimmung erfogte, ist bei Befreundeten und selbst Verbündeten ausgesprochen schlecht angekommen. Sie hatten versucht, schreibt Roland Etzel, Netanjahu Brücken zu bauen. Dennoch zog dieser es vor, sich dafür bei den Europäern mit einem Tritt gegen das Schienbein bedanken. Eine zusätzliche Ohrfeige aus Israel gab es für Deutschland. Merkel wird das besonders ärgern. Schliesslich hatte Berlin Mahmud Abbas bis zuletzt unter Druck gesetzt, den palästinensischen Antrag noch zurückzunehmen. Dennoch klagte die israelische Zeitung »Haaretz«, sei »der schwerste Schlag« von den Deutschen gekommen. Netanjahu hätte sich bis fast zuletzt darauf verlassen, dass Berlin wegen seiner historischen Sonderbeziehung zu Israel den Antrag der Palästinenser ablehnen werde. Der stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion Gernot Erler erklärte am 4. 12. dem »Kölner Stadtanzeiger«, die Fortsetzung der israelischen Siedlungspolitik untergrabe alle Hoffnungen auf einen baldigen Frieden. Darüber müsse Merkel mit Netanjahu Klartext reden. Dagegen forderte Erlers Fraktionskollege Reinhold Robbe »Stillschweigen« über die Verhandlungen. Für ihn gilt es, Sorge zu tragen, »dass niemand das Gesicht verliert«. Auf die Siedlungspolitik ging er gar nicht ein. Robbe ist Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.  [1] 

Wie inzwischen bekannt wurde, haben drei Rabbiner der New Yorker Synagoge B'nai Jeshurun die Abstimmung in der UNO-Vollversammlung, durch die der Status Palästinas zu einem Nichtmitglied-Staat mit Beobachtercharakter aufgewertet wurde, in einem e-mail an ihre Mitglieder gelobt.Diese Abstimmung sei  »ein grosser Moment für uns als Bürger der Welt«; »wir hoffen, dass der 29. November 2012 in Zukunft den Moment bezeichnen wird, der dem palästinensischen Volk ein nötiges Gefühl von Würde und Sinn brachte, der zu einem Ende von Gewalt führte und der die Zweistaatenlösung voranbrachte«, heisst es in der von der Rabbinerin und den zwei Rabbinern unterzeichneten Botschaft.  [2]  Die Gemeinde Bnai Jeshurun - Jeschurun bedeutet Israels Kinder -  [Manhattan, 88th St., W] ist im nicht-orthodoxen konservativ-liberalen Spektrum positioniert und zieht an Festtagen Tausende von Gottesdienstbesuchern an.   

Nachfolgend ein PortraitNetanjahus. 

King Bibi  -  Von Norman Paech 
Kriege werden nicht nur auf den Reißbrettern der Generalstäbe und in den Rüstungskammern der Armeen vorbereitet, sondern immer mehr in den Medien. Die eigene Bevölkerung und die Weltöffentlichkeit müssen für Kriegsverbrechen gewonnen werden. Sie aber von einem Überfall auf ein anderes Land zu überzeugen ist komplizierter, als die notwendigen Waffen zu kaufen, die Überflugsrechte zu sichern und die Angriffspläne zu erstellen. Es gibt da verschiedene Varianten des Kriegsmarketings. Die USA hatte im Frühjahr 2003 den UNO-Sicherheitsrat dazu benutzt, die psychologische Vorbereitung des Krieges gegen den Irak zu leisten. Zwar gelang es ihnen nicht, das erlösende Mandat für den Angriff zu erhalten, aber sie konnten mit ihren Fälschungen und Schautafeln die Mehrzahl der entscheidenden Medienkonzerne hinter ihre Pläne bringen und den verbleibenden Widerstand durch ihre Menschenrechtsbeschwörung paralysieren. 

Israel kann den UNO-Sicherheitsrat für seine Kriegspläne gegen den Iran nicht einspannen. Der Iran ist in der UNO bei weitem nicht so isoliert, wie es uns erzählt wird. Die Welt ist all der Kriege und all deren Folgen müde, des Elends und des Terrors, die vor keiner Grenze haltmachen. Und schließlich rechnet niemand mit einer Zustimmung von Rußland und China im Sicherheitsrat zu einem erneuten Krieg. Israel ist für diesen Feldzug ganz auf sich allein gestellt. Wenn es dennoch gelungen ist, offensichtlich erhebliche Teile der eigenen Bevölkerung und weite einflußreiche Kreise in der USA davon zu überzeugen, daß ein militärisches Vorgehen zum Stopp der Uranpläne notwendig ist, dann ist das vor allem das »Verdienst« eines einzigen Mannes: Benjamin Netanjahu. Seit Jahren hat er alle politischen, medialen und diplomatischen Hebel eingesetzt, um die Welt von der absoluten Gefährlichkeit der iranischen Führung, ihrem aggressiven Vernichtungswillen und ihrer unaufhaltbaren Arbeit an einer Atombombe zu überzeugen. Er hat dabei alle gewöhnlichen und ungewöhnlichen Mittel der Politik eingesetzt, von der Halbwahrheit über die Lüge, die Unterstellung und Diffamierung bis zur offenen Drohung und Erpressung. Was treibt diesen Politiker dazu, das Parkett der Politik so schnell wie möglich mit dem Kriegsschauplatz zu wechseln und sein Volk in den abenteuerlichsten und vielleicht letzten Krieg zu stürzen – trotz aller Warnungen auch im eigenen Land? 

Der israelische Schriftsteller David Grossman hat jüngst auf diese Frage eine Antwort versucht, die auf Netanjahus eschatologischen Tunnelblick verweist: »Weil Benjamin Netanjahu eine historische Geisteshaltung und historische Auffassung hat, der zufolge, einfach gesprochen, Israel eine ›ewige Nation‹ ist und die Vereinigten Staaten, bei allem Respekt, nur das Assur oder Babylon, das Athen oder Rom unserer Zeit sind. Soll heißen: Wir sind unsterblich, wir sind ein ewiges Volk, und sie, trotz ihrer Stärke und Macht, sind bloß vorübergehend und flüchtig. Sie haben engstirnige [...] Anliegen [...], während wir, wie schon immer, im Reich des Ewigen Israels leben. Wir verfügen über ein historisches Gedächtnis, das mit aufblitzenden Wundern und triumphalen Rettungen, die auf Logik und Wirklichkeit keine Rücksicht nehmen, gesprenkelt ist. Ihr Präsident ist ein Weichei, das daran glaubt, daß seine Feinde dasselbe rationale Denken wie er pflegen, während wir in den letzten viertausend Jahren in erbittertem Kampf mit den dunkelsten Mächten der Unterwelt und den finstersten menschlichen Absichten standen und deshalb sehr gut wissen, was nötig ist, um in diesen zwielichtigen Zonen zu überleben.« [Übersetzung von Andreas Platthaus, hier und im folgenden Absatz nach faz.net zitiert] 

Was aus der Nähe des israelischen Landsmannes wie mythisches Sendungsbewußtsein und Unantastbarkeitsglaube erscheint, sieht aus der Distanz eines nicht präsidentiellen »Weicheis« wie eine Mischung aus manichäischer Arroganz und gefährlichem Sektierertum aus. Demgegenüber schaut man auf die Anhänger der »Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage« oder die »Zeugen Jehovas« wie liebenswerte Einfältige. Gefährlich ist dieses in »viertausend Jahren in erbittertem Kampf« entwickelte – man ist versucht zu sagen »gestählte« – Bewußtsein, weil es nicht nur die gesamte Umwelt als Feinde betrachtet, sondern ihr auch die »finstersten menschlichen Absichten unterstellt«, mit der man folglich nur im Kampf überleben kann. »Israels Führung ist so in dieser Denkungsart gefangen, daß es für sie ein himmlisches Gebot oder ein Naturgesetz zu geben scheint, das Israel fast immer dazu verurteilt, bei jedem Dilemma oder jeder Sicherheitsentscheidung nur den einen Weg einzuschlagen: ›Bombardieren oder Bombardiertwerden‹, zwischen Angreifen und Angegriffenwerden«, urteilt Grossman. Diese Zwangsvorstellung hat, wie der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld – beileibe kein »Weichei« – jüngst beklagte, »in Israel eine widerliche Mischung von Aggression und Selbstmitleid hervorgebracht«. Man könnte auf den Gedanken kommen, daß diese ungebremste Aggressivität das Eingeständnis einer kolonialen Schuld gegenüber der verdrängten Bevölkerung überdecken soll. 

Netanjahus totale Unfähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstdistanz, seine Blindheit nicht nur gegenüber der Gründungs- und Entwicklungsgeschichte seines eigenen Staates, sondern auch gegenüber der politischen Realität in Israel zeigt sich an seiner stereotypen Preisung Israels als »Leuchtturm der Demokratie« oder »Leuchtfeuer der Freiheit und Menschenrechte«. Wer die Diskriminierung der arabischen Israelis, die brutale Realität der Besatzung mit Landraub, Vertreibung und Rechtlosigkeit der Bewohner, die kriminelle Militanz der Siedler und die Kriegsverbrechen des Gaza-Krieges nicht sieht, sondern verdrängt und leugnet, walzt wie ein Panzer über die eigenen Werte der Freiheit und Menschenrechte. Wer unfähig ist, die soziale Realität im eigenen Land kritisch wahrzunehmen, kann sich auch nur ein Wahnbild von der Realität im vermeintlichen Feindesland machen – was zwangsläufig zum Krieg führen muß. Die ganze Welt regt sich über Ahmadinedschads Leugnung des Holocausts und sein Gerede, daß Israel von der Weltkarte verschwinden werde, auf. Er hat jedoch niemals gesagt, daß er das selbst besorgen werde. Was ist die Beschimpfung und Beleidigung eines Kriegstreibers gegen die definitive Ankündigung eines Krieges durch den Kriegstreiber selbst? Es gibt keine rationale Erklärung für diese Kriegsplanung, denn der Iran hat niemals mit einem Angriffskrieg gegen Israel gedroht. Auch für die Zukunft hat er ihn ausgeschlossen, es sei denn, Israel setze seine Drohungen in die Tat um. Es gibt keine völkerrechtliche Legitimation für einen Überfall auf den Iran, denn Israel wird nicht angegriffen, und ein präventives Selbstverteidigungsrecht stünde – wenn überhaupt – eher dem Iran als Israel zu. Die New York Times hat Netanjahu einen autokratischen Führer, King Bibi, genannt, eine freundliche Kategorie, in die man auch den Kremlherren Putin steckt. Netanjahu hingegen bereitet ein monströses Kriegsverbrechen in aller Öffentlichkeit vor – und diese schaut zu, als wäre es das Börsenbarometer. Es gibt berechtigte Stimmen, die die Ernsthaftigkeit der Ankündigung immer noch nicht wahrhaben wollen. Sie können sich einen Irrsinn Shakespeare’schen Ausmaßes nicht vorstellen. Sie haben den Verdacht, daß es Netanjahu gar nicht um das Atomprogramm des Irans geht, sondern darum, im Windschatten der Sturmdrohung den Siedlungsbau voranzutreiben, um die Westbank endgültig in Besitz zu nehmen und den Traum von einem palästinensischen Staat definitiv zu zerstören. 

Die Bundesregierung läßt ausrichten, sie beobachte die Situation sehr aufmerksam und setze weiter auf eine politische Lösung, indem sie sich bemühe, den Iran dazu zu bringen, »die berechtigten Zweifel der internationalen Staatengemeinschaft zur Natur seines Atomprogramms auszuräumen«. Netanjahu – vom Wahn-Sinn getrieben – kann dies nur als Aufforderung zur Tat verstehen. Und was will die Bundesregierung dann beobachten?  [3]   


[1]  http://www.neues-deutschland.de/artikel/806482.tacheles-statt-schmusekurs.html 
6. 12. 12  Roland Etzel  

[2]  http://www.nytimes.com/interactive/2012/12/05/nyregion/05Bnai-Jeshurun-email.html?ref=nyregion 
[3]  Quelle:  http://www.sopos.org/aufsaetze/5041c6427d3cb/1.phtml  
Heft 18 / 2012  King Bibi  -  Von Norman Paech 
Impressum auf
http://www.sopos.org/ossietzky/oimpressum.php3 
Norman Paech, emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik, war von 2005 bis 2009 aussenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Linken und 2010 ein Passagier auf der »Mavi Marmara«.