Syrien - Fakten versus Meldungen

d.a. Mitte Dezember letzten Jahres hatte bereits der Publizist Jürgen Todenhöfer erklärt, dass »mindestens die Hälfte der Meldungen

über Syrien« »schlichtweg falsch seien, fast wie vor dem Irak-Krieg.« »Wenn ich abends die internationalen Online-Medien überflog, war es so, als läse ich Erzählungen von einem fernen Stern.« [1]  Wie Revolutionen gezielt von aussen entfacht und gesteuert werden, ist im Falle Ägyptens und Libyens inzwischen zur Genüge aufgezeigt worden. Der bekannte französische Autor und Journalist Thierry Meyssan deckt nun in einem mit der algerischen Zeitung »La Nouvelle République« bezüglich Syriens geführten Interview [2] die strategischen Pläne der USA und Europas auf, was ein gänzlich anderes Bild als das in der Tagespresse gezeichnete erkennen lässt. Während des Kampfgeschehens in Libyen hatte Meyssan u.a. berichtet, dass sich unter seinen Journalistenkollegen auch CIA-Mitarbeiter befanden und dass Journalisten zudem in die Auswahl von militärischen Zielen involviert waren. Nach der Lektüre der Darlegungen von Meyssan lassen sich die uns von der Presse gebotenen täglichen Meldungen in ihrer Mehrheit getrost als Makulatur betrachten.   

 

Die Syrienkrise - seit 2001 beschlossene Sache  -  Von Thierry Meyssan

La Nouvelle République: Sie waren in Syrien. Entspricht die Realität am Ort den von den westlichen Medien verbreiteten Äußerungen: Massive Demonstrationen, Schüsse mit scharfer Munition, die mindestens 5000 Tote verursacht haben, die Errichtung einer schon 1500 Mann starken Freien Syrischen Armee, und dieser Anfang eines „Bürgerkrieges“ mit 1,5 Millionen Syriern, die in dieser Falle Hunger leiden?

 

Thierry Meyssan: Eine französische Redewendung besagt: »Wenn man seinen Hund ertränken will, klagt man ihn der Tollwut an.« Im vorliegenden Fall sagen die westlichen Medien, daß, wenn ihre Mächte in einen Staat einmarschieren wollen, es sich um eine barbarische Diktatur handelt, daß ihre Armee die Zivilbevölkerung beschützen kann und daß sie das Regime stürzen und Demokratie bringen müssen. Die Wahrheit haben wir im Irak und in Libyen gesehen: die Kolonialmächte kümmern sich nicht im Geringsten um das Schicksal der Bevölkerung, sondern verheeren das Land und plündern es aus. Es gab niemals Massendemonstrationen gegen das syrische Regime, und deshalb war es auch nicht möglich, sie mit scharfen Schüssen aufzureiben. Es kam in den letzten Monaten zu ungefähr 1500 Toten, aber absolut nicht so wie es geschildert wurde. Es gibt wohl eine Freie syrische Armee, aber sie ist in der Türkei und im Libanon zu Hause, und hat höchstens einige hundert Soldaten, die man den TV-Kameras vorstellt. Syrien ist, was Nahrungsmittel betrifft, autark und trotz Lieferschwierigkeiten gibt es keine Knappheit. Die westliche Medienversion ist eine reine Fiktion. Die Wahrheit vor Ort ist, daß der Westen einen nichtkonventionellen Krieg gegen Syrien führt. Er hat arabische und Paschtunenkämpfer geschickt, die von Prinz Bandar Bin Sultan angeheuert und von den französischen und deutschen Spezialtruppen ausgebildet worden sind. Diese Kämpfer haben zuerst versucht, ein islamisches Emirat auszurufen, und danach breit angelegte Fallen gegen syrische Militärkonvois eingeleitet. Heute werden sie von einem Al-Qaida Emir, dem libyschen Abdelhakim Belhaj, kommandiert. Sie haben auf große Operationen verzichtet und führen Kommandoaktionen im Zentrum von Städten, um dort Terror auszulösen, in der Hoffnung, einen religiösen Bürgerkrieg anzustacheln. Ihre letzte Heldentat ist dieses doppelte Attentat in Damaskus.

 

LNR: In einem Ihrer Artikel stellen Sie sich hinsichtlich der von dem in London ansässigen syrischen Observatorium der Menschenrechte gelieferten Informationen die Frage: Wie kommt es, daß Institutionen wie das Hohe Kommissariat der Menschenrechte der UNO diese einfach übernehmen, ohne sie zu prüfen. Welchem Spiel widmen sich die UNO Institutionen Ihrer Meinung nach?

 

TM: Das syrische Observatorium der Menschenrechte [SOMR] ist plötzlich auf der Medienebene aufgetaucht. Dieser Verein hat keine Vergangenheit, auf die er sich berufen könnte, und nur eines seiner Mitglieder ist bekannt. Es ist ein Kader der syrischen Muslimbrüderschaft, der drei Pässe besitzt, einen syrischen, einen britischen und einen schwedischen. Dieser Herr verkündet jeden Tag die Anzahl der Opfer der Unterdrückung, ohne seine Aussagen zu begründen. Seine Behauptungen sind unüberprüfbar und daher ohne Wert. Sie werden trotzdem von allen jenen übernommen, denen sie nützlich sind. Das Hohe Kommissariat der Menschenrechte hat drei Kommissare mit der Erforschung der Syrienereignisse beauftragt. Ihre Mission überschreitet die Kompetenzen der UNO, welche regelmäßige Inspektionen vorsieht, die Syrien, den Abkommen entsprechend, erlaubt. Wie im Fall Hariri (Libanon) gehen die Vereinten Nationen von dem Prinzip aus, daß die örtlichen Obrigkeiten (libanesische oder syrische) unfähig oder unehrlich sind, so daß man sie durch ausländische Fahnder ersetzen muß. Daher können diese nicht einfach die Kooperation der lokalen Macht erwarten. So haben sie einfach von der Schweiz und der Türkei aus gearbeitet. Die Entsendung der drei Kommissare liefert keine Garantie für Unabhängigkeit. Sie kommen alle drei aus Ländern, die sich für die militärische Intervention in Syrien erklärt haben. Ihre Methode ist auch nicht akzeptierbar: unter dem Druck der türkischen Kommissarin, die eine engagierte Aktivistin im Kampf gegen Gewalttaten an Frauen ist, hat die Kommission es für überflüssig gehalten, die Zeugenaussagen zu prüfen: es wäre die Sache der Angeklagten, ihre Unschuld zu beweisen, wenn man sie vor Gericht stellte. Diese Art von Inquisition macht es möglich, jedermann irgendeiner Schuld anzuklagen, beweist jedoch überhaupt nichts. Die Fahnder haben mehr als 200 Leute angehört, die vorgeben, über Informationen zu verfügen und die behaupten, manchmal Zeuge oder selbst Opfer von Ausschreitungen gewesen zu sein. Gemäß der Prozedur bleibt der Name der Zeugen auf diesem Stand der Fahndung geheim. Aber der Prozedur nicht entsprechend bleiben auch die Namen der Opfer geheim. Die Hohe Kommissarin versichert in  lehrerhaftem Ton, daß die Unterdrückung mehr als 5000 Opfer gefordert hat, aber sie zitiert nur zwei Namen. Dies ohne Glück, da die beiden Fälle von Al-Dschasira sehr ausführlich erörtert  wurden und Objekt zahlreicher Studien waren. Der erste Fall betrifft ein Kind, das auf der Straße von unbekannten Schützen aus einem Wagen heraus getötet wurde; der zweite betrifft einen jungen Mann, der von einer bewaffneten Bande angeheuert wurde, um an einem Angriff gegen eine Militärresidenz teilzunehmen und der mit einer Kalaschnikow in der Hand gefallen ist. Das hat also nichts mit Repression einer pazifistischen Demonstration zu tun. Wir erwarten daher von der Hohen Kommissarin, daß sie die Namen der Opfer freigibt, damit wir die Richtigkeit der Anschuldigungen überprüfen können. Zahlreiche Instanzen der UNO haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Zum ersten sollte man nicht erlauben, die Verantwortung Experten anzuvertrauen, die nicht den Status von internationalen Beamten haben und nur nationale, von ihrem Land beauftragte Beamte sind. Man sollte nicht im Namen der UNO handeln können, wenn man gezwungen ist, seiner nationalen Hierarchie zu gehorchen.

 

LNR: In Syrien sowie in Libyen behaupten gewisse Beobachter, daß die Rebellen in Wirklichkeit Mordgeschwader, ausländische Söldner sind. Was können Sie dazu sagen?

 

TM: In beiden Fällen nehmen inländische Leute am Kampf teil, aber sie sind im Vergleich zu den ausländischen Kämpfern in der Minderheit. In Libyen haben sich Gruppen aus gewissen Stämmen den fremdländischen Söldnern für die Sezession der Cyrenaika angeschlossen. Aber sie haben sich geweigert, in Tripolitanien zu kämpfen, um Gaddafi zu stürzen. Es war somit erforderlich, Al-Qaida- Truppen zu entfalten und 5000 der regulären Armee Katars eingegliederte Kommandos an den Strand zu bringen, um die Schlacht auf dem Festland zu liefern. In den letzten Tagen der Jamahiriya ist der Stamm von Misrata den NATO-Kräften gefolgt und in Tripolis eingedrungen, als die Bombardierungen und die Schlacht zu Ende war. Die einzigen Libyer, die vom Anfang bis zum Ende gegen das Regime gekämpft haben, sind jene von Al-Qaida sowie eine Soldatengruppe, die zusammen mit General Abdel Fatah Younes abtrünnig geworden waren. Nun war Younes in der Vergangenheit von Oberst Gaddafi beauftragt worden, die Al-Qaida Rebellen zu bekämpfen. Das ist der Grund, warum ihn seine Al-Qaida-Alliierten ermordet haben, sich also sofort rächten, als sie ihn nicht mehr brauchten. Die Aufständischen, die es in Syrien gibt, sind die Muslimbrüderschaften und die Takfiristen. Es gibt hauptsächlich ausländische Kräfte, die Gauner engagieren und sie reichlich für Zivilistenmorde bezahlen. Das Problem der NATO ist, daß Syrien im Unterschied zu Libyen eine historische Nation ist. Es gibt keine regionale Spaltung wie zwischen der Cyrenaika und Tripolitanien. Die einzige mögliche Spaltung existiert auf religiösem Gebiet, aber sie funktioniert derzeit nicht, obwohl man einige solcher Konfrontationen - wie in Banyias und Homs -  erlebt hat. Die offizielle Ankunft der Libyer, um in der Türkei ein Hauptquartier aufzubauen und syrische Deserteure in diese Struktur einzugliedern, vervollständigt das ganze Unternehmen.  

 

LNR: Der nationale syrische Rat hat sich unter Frankreichs Obhut in Paris gebildet. Was kann man dazu sagen? Wird Frankreich wie in Libyen mit seinem Gesandten Bernard Henry Lévy die erste Geige spielen, oder mit einer anderen Strategie kommen?

 

TM: Zunächst ist es leicht zu sehen, daß die französischen Institutionen zum Teil von illegitimen Leuten wie Bernard Henry Lévy geführt werden, welche ohne Recht und ohne Titel Verantwortung übernehmen. Dann dienen gewisse gewählte Personen, wie Präsident Sarkozy, nicht nationalen Interessen, sondern jenen des imperialen US-Systems. Unter deren Obrigkeit hat sich Frankreich schon in einem Konflikt in der Elfenbeinküste engagiert, um das neo-konservative Projekt einer Neuformung des Erweiterten Mittleren Orients auf Nordafrika auszudehnen. Frankreich hat mit Syrien keine Streitigkeiten mehr, wie es der Besuch Präsident el-Assads aus Anlaß des Mittelmeergipfels in Paris gezeigt hat. Man könnte höchstens meinen, daß der alte Konflikt der 80er Jahre (speziell die Ermordung des französischen Botschafters in Beirut) zwar beigelegt ist, jedoch ohne Entschädigung, so daß man ihn eventuell reaktivieren könnte. Aber ich bin nicht sicher, ob das französische Verschulden in dieser Angelegenheit nicht größer war als das der Syrier.

 

Kurzum, Paris hat keinen Grund, Damaskus anzugreifen. Wir wissen alle genau, daß die wahre Geschichte woanders liegt: die Dominanz und die Ausbeutung dieser Gegend hängen von dem Bündnis der USA mit Israel einerseits, mit der Türkei und den Ölmonarchien andererseits ab. Dieses Bündnis stößt auf eine Widerstands-Achse, welche aus Hamas, dem Libanon, Syrien, dem Irak und dem Iran gebildet und von Rußland und China unterstützt wird. Auf regionaler Ebene haben sich zwei Pole  gebildet: der eine ist ausschließlich sunnitisch, der andere multikonfessionell - und nicht schiitisch,  wie es die Neo-Konservativen behaupten um die Fitna aufzudrängen. Frankreich ist der Handlanger der USA geworden. Es kann Syrien zu jeder Zeit den Krieg erklären, hat jedoch dafür allein nicht das Vermögen, selbst nicht mit Hilfe Großbritanniens. Und der Gipfel vom 2. Dezember 2011, der ein Dreierbündnis mit Deutschland schaffen sollte, wurde wegen Finanzschwierigkeiten abgeblasen. Inmitten der Euro-Krise haben die Europäer keine Mittel für ihren Imperialismus.

 

LNR: Die arabische Liga hat in einer unerwarteten Art beschlossen, Syrien aus allen Institutionen auszuschließen, noch bevor die von der syrischen Führung anerkannte Frist von 15 Tagen für die Ausarbeitung des arabischen Schlichtungsplan zur Krise abgelaufen war. Wie ist dieser Beschluß, der den Regeln der Liga widerspricht, da in solchen Angelegenheiten Einstimmigkeit mit höchstens einer Gegenstimme verlangt wird, zu betrachten?   

 

TM: Die internationalen Organisationen, ob es sich um die arabische Liga oder um die UNO handelt, gehören nicht den Mitgliedstaaten, sondern jenen, die sie finanzieren. Die Liga ist ein Spielzeug in den Händen der Ölmonarchien geworden. Leute die nicht einmal eine Verfassung besitzen, denken nicht daran, die Statuten der Organisationen, die sie gekauft haben, zu beachten. Über diese Feststellung hinaus ist die Beschlußfassung durch die Liga, Syrien wirtschaftlich zu belagern, nicht eine Sanktion für einen begangenen Fehler, sondern der Anfang eines konventionellen Krieges.

 

LNR: Es bildet sich das gleiche Szenario wie in Libyen. Werden wir die gleichen Zwischenfälle in Syrien erleben, oder sind die Umstände anders, oder werden wir es mit einer anderen Lage zu tun haben?

 

TM: Die Umstände und die Akteure sind anders. Libyen ist ein isolierter Staat. Oberst Gaddafi hat viel Hoffnung erregt und viel enttäuscht. Er war Anti-Imperialist, hatte aber viele geheime  Abkommen mit der USA und Israel. Er war der Alliierte von allen und hat jeden vernachlässigt oder gar verraten. Sein Land kannte keine Diplomatie, keine Allianzpolitik, abgesehen von der Investitionspolitik für die Entwicklung von Afrika. Libyen stand deshalb isoliert gegenüber der NATO. Im Gegenteil dazu ist Syrien eine alte Nation, die immer Bündnisse geschmiedet hat, selbst in ihrer Wahl des Widerstands an der Seite der Palästinenser, der Libanesen, Iraker und Iraner. Syriens Diplomatie ist so stark, daß sie in wenigen Tagen das doppelte russische und chinesische Veto im Sicherheitsrat bekommen konnte. Jeglicher Krieg gegen Syrien wird sich auf die ganze Region ausbreiten, oder sogar in einen Weltkrieg ausarten, falls der Iran und Russland direkt eingreifen. Die Libyer sind noch dazu nur 5 Millionen, während Syrien 23 Millionen Einwohner hat. Libyen hatte außer dem Tschadkrieg keine militärische Erfahrung, während es Syrien seit 60 Jahren gewohnt ist, in einer kriegsträchtigen Region zu leben. Die Experten der kriegerischen Lobby aus Washington behaupten, daß die syrische Armee schlecht ausgerüstet und schlecht trainiert sei. Sie versprechen, daß eine internationale Intervention eine Gesundheitspromenade sein wird. Das ist lustig, da dieselben Experten 2006 behaupteten, daß Israel einen neuen Krieg gegen Syrien vermeiden sollte, weil Syrien zu gefährlich wäre.

 

LNR: Manche Leute meinen, daß das, was in Syrien passiert, nur eine Verlängerung der arabischen Frühlinge sei, während Syrien laut Erklärungen von General Wesley Clark seit der Bush-Ära auf der amerikanischen Agenda steht; was glauben Sie: welcher Ausweg existiert für Bachar Al-Assad, um die Konspiration zu umgehen?

 

TM: Wie man sich erinnert, wurde der Beschluß, Syrien anzugreifen, in einer Versammlung in Camp David am 15. September 2001 getroffen, gerade nach den Attentaten in New York und Washington. Die Bush-Regierung hatte eine Reihe von Kriegen geplant: Afghanistan und Irak, Libyen und Syrien, Sudan und Somalia, um mit dem Iran zu schließen. Im Jahr 2003, kurz nach dem Fall von Bagdad, hat der Kongreß den Syrian Acountability Act verabschiedet, der den US- Präsidenten beauftragt, Syrien so schnell wie möglich den Krieg zu erklären. Was Präsident Bush aus Zeitmangel nicht machen konnte, soll sein Nachfolger Barack Obama nun ausführen. General Wesley Clark hat diese Strategie schon vor vielen Jahren freigegeben, um sich besser gegen sie zu wehren. Er hat eine sehr wichtige Rolle im Libyenkrieg gespielt, den er verzweifelt versucht hat,  mit Hilfe zahlreicher aktiver Generäle zu stoppen. All diese Leute verkörpern eine Strömung höherer Offiziere, die sich weigern, ihre Soldaten in Auslandsabenteuern, die nicht den Interessen der USA dienen, sondern nur einigen Israel nahestehenden Ideologen, sterben zu lassen. Sie  werden alles in Gang setzen, um den Krieg in Syrien zu verhindern und besitzen mehr Hebel als man glaubt, um die Weltpolitik zu beeinflussen. Präsident Bachar Al-Assad ist nicht wie sein Vater. Er ist kein Autokrat. Er regiert mit einer Mannschaft. Die Strategie seiner Regierung besteht einerseits darin, den zivilen Frieden entgegen Destabilisierungsversuchen und konfessionellen Spaltungen zu schützen, andererseits die Bündnisse zu stärken, speziell die mit dem Iran, Rußland und China.

 

LNR: Eine Erkenntnis, die sich uns in den Wirren der arabischen Welt aufdrängt, sei es in Tunesien, Ägypten, Libyen und jetzt in Syrien, ist diese Versöhnung des Westens mit den islamistischen Strömungen, die dieser doch bekämpft hatte. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe und Ziele dieses neuen Spiels des Westens?  

 

TM: Ich glaube nicht, daß die Islamisten jemals als Feinde des Westens betrachtet wurden. Wenn man die Geschichte studiert, sieht man, daß sie von allen Imperien dazu benutzt wurden, den nationalen Widerstand zu zügeln. Dies war der Fall bei den Ottomanen, den Franzosen und Engländern. Erinnern Sie sich daran, wie Frankreich das Gesetz der Trennung zwischen Kirche und Staat (1905) in Algerien niemals angewendet hat. Es hat im Gegenteil die Moscheen gefördert, um seine Autorität durchzusetzen. Die Angelsachsen haben es ebenfalls so gemacht. Noch mehr hat die USA in den 80er Jahren islamistische Bewegungen mit der Hoffnung kreiert, einen Zivilisationskonflikt zwischen der muslimischen Welt und der Sowjetunion zu provozieren. Es war die Strategie von Bernard Lewis, die von Zbigniew Brzezinski angewendet und von Samuel Huntington für das allgemeine Publikum zur Theorie gemacht wurde. Das ergab dann die Al-Qaida. Diese Leute haben die Interessen des US-Imperiums in Afghanistan, Jugoslawien, in Tschetschenien und in neuerer Zeit im Irak, in Libyen und jetzt in Syrien verteidigt. Abdelhakim Belhaj, den Ayman Al-Zawahiri zur Nummer 3 von Al-Qaida ernannte, als die islamische Gruppe der Kämpfer in Libyen von Al-Qaida absorbiert wurde, ist heute Militärgouverneur von Tripolis und Kommandant der Freien syrischen Armee. Er gibt sich ohne Komplex als Mann der NATO aus und verlangt vom MI6, der ihn gefoltert hatte, daß er ihm Rechenschaft ablege. Was die Muslimbrüder betrifft, welche Washington heute in Tunis, in Libyen und in Ägypten an die Macht bringt und die er in Syrien installieren will, so sind sie geschichtlich mit dem MI6 verbunden. Sie waren von Hassan Al-Banna konzipiert worden, um die Engländer zu bekämpfen, aber sie wurden von den Engländern benützt, um Nasser zu bekämpfen. Heute sind sie mit Geldsubventionen vom Golf Cooperation Council GCC] überhäuft, was kein Zeichen von Unabhängigkeit ist.

 

LNR: Wenn morgen das Bachar Al-Assad Regime fallen sollte, was wären die Folgen für die Widerstands-Achse Teheran-Hezbollah-Hamas?

 

TM: Die USA macht aus folgendem kein Geheimnis: Falls es ihnen gelingen sollte, Syrien zu zerstören  - ich sage Syrien zu zerstören, weil die Frage des Widerstands weit über die Person von Präsident el-Assad hinweggeht -  würden sie den Krieg fortsetzen und sofort den Iran angreifen. Daher würde der Fall Syriens eine Periode mit großer Instabilität einleiten, die in einen Weltkonflikt ausarten könnte.

 

LNR: In dem syrischen Konflikt hat die Türkei Partei ergriffen und die Thesen der syrischen pro-westlichen Opposition vollkommen übernommen. Da die Türkei bereit ist, das syrische Regime zu verbannen und Syrien so darzustellen, als würde es sein eigenes Volk töten, und auch bereit ist, die Demonstrationen zur Unterstützung des syrischen Präsidenten nicht zuzugeben, die Dimension der bewaffneten Protestbewegung zu bestreiten und Syrien bis zur Negierung der Bürgerwahlrechte der inneren Opposition und ihrer parlamentarischen Repräsentanzmöglichkeit zu treiben, um sie nur dem syrischen Nationalrat zuzuerkennen, ergibt sich die Frage, wie Sie diesen Umschwung der Türkei erklären können?

 

Thierry Meyssan: Wir hatten alle vergessen, daß die Türkei NATO-Mitglied ist. Das türkische Heer ist eine amerikanische Hilfstruppe. In der Vergangenheit war es dies, was die USA in Korea gerettet hat. Die Türkei beherbergt US-Basen und hat gerade zugestimmt, daß das Pentagon seine derzeit in Spanien liegenden NATO-Stützpunkte in die Türkei übersiedelt und neue Radarstationen, die den Iran überwachen sollen, dort aufbaut. Seit einem Jahrhundert begehen die türkischen Leader laufend politische Fehler. Erdogan hofft der Gendarm der Region zu werden, wie es vor ihm der Schah Reza Pahlavi und Saddam Hussein gemacht haben. Die Geschichte hat jedoch gezeigt, wie die USA jene behandelt die ihnen dienen: sie benützen sie und eliminieren sie später.

 

Chérif Abdedaïm und Thierry Meyssan

 

 

Sanktionen und Zerstörung - ein Merkmal auch der EU

Anmerkung politonline d.a.: Wie Karin Leukefeld von der jungen Welt [3] aus Damaskus berichtet, hat der öffentliche Versorgungssektor in Syrien derzeit durch gezielte Angriffe von bewaffneten Aufständischen hohe Verluste zu verzeichnen. Mitarbeiter im Gesundheitswesen, im Strom- und Ölsektor werden bedroht, entführt und getötet. Der syrische Gesundheitsminister Wael Al-Halaqi legte am 19. 1. bei der WHO in Genf einen Bericht vor: In den vergangenen Monaten wurden 12 Klinikmitarbeiter getötet und 25 verletzt; 12 Krankenhäuser, 43 Gesundheitszentren und 76 Krankenwagen wurden teilweise zerstört. Laut einer Erklärung des Ministers für Elektrizität, Imad Khamis, vom 18. 1. kappten bewaffnete Gruppen gezielt Stromleitungen und sprengten Strommasten. Der syrische Ölsektor sei von den »ungerechtfertigten und illegalen« Sanktionen betroffen, so Ölminister Sufian Allaw. Durch das Ölembargo seitens der USA und der EU seien dem Land seit September 2011 Verluste in Höhe von rund 1,55 Milliarden € entstanden. Firmen, mit denen Syrien Verträge über die Förderung und Entwicklung im Öl- und Gassektor abgeschlossen habe, würden durch die Sanktionen gezwungen, diese Verträge zu brechen. Lokale Mitarbeiter in den Projekten hätten ihre Arbeit verloren. Auch der Versuch, die täglich geförderten 140’000 Barrel Öl anderweitig zu verkaufen, werde durch die Sanktionen behindert, so Allaw. Transportfirmen seien zumeist in der USA und in den europäischen Staaten registriert und müßten sich den Strafmaßnahmen beugen. Ebenso verhalte es sich mit der Versicherung und Rückversicherung für die Ladung. Der Leiter der katholischen Kirche in Syrien, Patriarch Ignatius Joseph III [4], beschuldigt die westlichen Regierungen, die Rechte der Minderheiten in Syrien für wirtschaftliche und geopolitische Interessen zu opfern. Er erklärte, dass sich die Christen von der EU und der USA betrogen fühlten, weil sie beobachteten, dass die Europäer und die Amerikaner Fragen zum Mittleren Osten nur aus dem (eigenen) politischen und wirtschaftlichen Blickwinkel sehen.

 

Wie dem Blog von Joachim Guilliard [5] zu entnehmen ist, berichtete das syrische Nachrichtenportal ChamPress bereits im Mai letzten Jahres über einen im Jahr 2008 vom saudischen nationalen Sicherheitsberater, Bandar Bin Sultan, und dem damaligen US-Botschafter im Libanon, Jeffrey Feltman, ausgearbeiteten, recht detaillierten Plan, regierungsfeindliche Aktivitäten in Syrien zu organisieren, mit dem Ziel, Präsident Baschar Al Assads zu stürzen. Bandar bin Sultan war früher saudischer Botschafter in Washington und dort der einzige, der permanente Bewachung durch die US-Präsidentengarde genoss. Bandar ist für seine Verbindungen in Angelegenheiten, die in Beziehung zur Unterstützung widerstandsfeindlicher und pro-israelischer Kräfte stehen, bekannt. Die Diskussion solcher Pläne, schreibt Guilliard, ist für sich genommen noch kein Beweis dafür, dass sie tatsächlich umgesetzt wurden. Vor dem Hintergrund der langen Geschichte verdeckter US-Interventionen sind sie jedoch keineswegs unplausibel und vieles vom aktuellen Geschehen passt so gut, dass man eine Umsetzung einzelner Aspekte ernsthaft in Betracht ziehen muss. Der Verdacht wird noch dadurch stark erhärtet, dass Bandar offenbar bereits im Oktober 2010 in einer entsprechenden Mission persönlich unterwegs war. Er wurde dabei geschnappt, als er zusammen mit einigen Mitstreitern unter falschem Namen, mit gefälschtem Pass und Millionen Dollar an Bargeld in Syrien einreisen wollte. Das aktuelle Szenario passt auch sehr gut in die von Seymour Hersh im März 2007 enthüllten Pläne, den Einfluss Irans, Syriens und der Hisbollah im Nahen Osten zurückzudrängen, indem man Sunniten und Schiiten in der Region gegeneinander aufhetzt. In Geheimabsprachen waren Bandar und der damalige US-Vizepräsident, Dick Cheney, übereingekommen, zu diesem Zweck sunnitische und dschihadistische Gruppen über die Saudis verdeckt zu unterstützen. Konkret umgesetzt wurde dies im Libanon, wo Bandar die radikal-sunnitische Fatah al-Islam als Gegengewicht gegen die Hisbollah finanzierte. In der Folge kam es im Mai 2007 zu heftigen Gefechten zwischen der libanesischen Armee und dieser Untergrundorganisation. An Geld für solche Aktionen fehlt es dem illustren Prinzen sicherlich nicht. Wie der Guardian 2007 enthüllte, hat ihm allein der britische Rüstungskonzern BAE (vormals Britisch Aerospace) über 10 Jahre hinweg heimlich über eine Milliarde britischer Pfund zugesteckt, als Schmiergeld für die Hilfe bei den Al-Yamamah Deals, den größten Waffendeals in der britischen Geschichte. [6]  Einem größeren Publikum wurde Bandar durch Michael Moores Film Fahrenheit 9/11 bekannt, der ihn als engsten Freund von George W. Bush würdigt. Auch sein Kumpan Jeffrey Feltman ist ein erfahrener Strippenzieher. Der antisyrische Frontmann der Bush-Administration spielte eine wesentliche Rolle dabei, Syrien den Mord am libanesischen Premier Rafiq al-Hariri anzuhängen und Fuad Siniora als dessen Nachfolger einzusetzen. Dessen Regierung wurde im Libanon von vielen schlicht als Feltman-Regierung bezeichnet. Nach Angaben des ehemaligen libanesischen Parlamentariers Nasser Qandil traf Feltman sich im Januar 2011 mit syrischen Oppositionellen in Paris. Mit dabei sollen der US-Botschafter in Israel, Dan Shapiro, und Vertreter der libanesischen, von Saad al-Hariri geführten anti-syrischen Zukunftsbewegunggewesen sein. [7]

                       

Das Widerwärtigste an dieser Sachlage ist wohl der Fakt, dass sich unter denjenigen, die sich auch in diesem Jahr in Davos zu profilieren gedenken, mit Sicherheit auch solche befinden, die bei der Einkreisung Syriens ihre Hand mit im Spiel haben.

 

 

 

[1]  http://www.jungewelt.de/2011/12-17/009.php   17.12.2011 / Kultur & Medien / Seite 14

Nachschlag: Aufstandsmeldungen

[2]  Quelle: http://denkbonus.wordpress.com/2012/01/15/syrienkrise-seit-2001-beschlossene-sache/#more-4351    15. 1. 12

Mit freundichem Dank an Voltairenet.org -  http://www.voltairenet.org/Der-Beschluss-Syrien-anzugreifen  13. 1. 2012

[3]  http://www.jungewelt.de/2012/01-21/035.php  Karin Leukefeld: Sabotage gegen Infrastruktur Syrien: Energie- und Gesundheitsversorgung durch Angriffe und Sanktionen beeinträchtigt

[4]  http://www.doriangrey.net/index.php?page=politik   17. 1. 12   

[5]  Nachgetragen - Blog von Joachim Guilliard

http://jghd.twoday.net/stories/syrien-details-einer-verschwoerung/   11. 5. 11

[6]  http://www.guardian.co.uk/world/2007/jun/07/bae1   7. 6. 2007  David Leigh and Rob Evans - BAE accused of secretly paying £1bn to Saudi prince

[7]  http://www.crescenticit.com/special-reports/1953-may2011/3092-us-israeli-saudi-involvement-in-syrian-uprising.html  May 2011 - US, Israeli, Saudi involvement in Syrian uprising  By Tahir Mustafa