Libyen und die neue Kriegshetze - Von David Gibbs

Die Intervention der NATO in Libyen wird voraussichtlich eine noch vermehrt militarisierte und unsichere Welt zur Folge haben,

und das wird ihr dauerhaftestes Vermächtnis sein. Der militärische »Erfolg« in Libyen hat die Möglichkeit neuer Kriege gestärkt. Es gibt die weit verbreitete Auffassung, daß die NATO einen leichten Sieg gegen Gaddafi errungen hat, und das daraus resultierende Gefühl des Übermuts vergrößert das Risiko zukünftiger militärischer Aktionen gegen den Iran, Syrien und andere mögliche Ziele. Zweifelsohne begrüßen Politiker in NATO-Ländern die Ablenkung der Öffentlichkeit durch Krieg, besonders in Zusammenhang mit dem weltweiten wirtschaftlichen Abschwung, und das könnte sich als zusätzliche Motivation für neue militärische Aktionen erweisen.


Der Erfolg in Libyen wird zu höheren Stufen für Militärausgaben führen. Das britische Militär benutzte die Intervention bereits als Argument für eine Budgetsteigerung, das Gleiche wird zweifelsohne auch in Frankreich und in der USA stattfinden, wo die Intervention den jeweiligen Militär-Komplexen der Länder politischen Nutzen bringen wird. Ausgehend von den beschränkten Mitteln werden die relativ höheren Ausgaben für Militär, die aus dieser Situation resultieren, wahrscheinlich die Mittel für Bildung, Gesundheit, Umweltschutz und Seuchenbekämpfung, auch für die Hilfe an Entwicklungsländer, darunter auch Libyen, verringern.

 

Eine weitere Folge der Intervention ist die Erosion des internationalen Rechts, die sich in der Nichtbeachtung der UNO-Charta und im Kriegsermächtigungsgesetz der Vereinigten Staaten manifestiert; diese haben sich im Zuge der Bombenkampagne und der Anstrengungen, einen Regimewechsel herbeizuführen, offen über die bestehende Rechtslage hinweggesetzt. In früheren Zeiten hätten die Liberalen in der USA wohl den unkontrollierten Einsatz der exekutiven Gewalt, den die Obama-Administration vorführt, kritisiert. Derlei Bedenken sind jedoch eine Sache der Vergangenheit. Mit Libyen haben sich die Liberalen mit einer imperialen Präsidentschaft ganz und gar zufrieden gezeigt. Des weiteren bedeutet die Intervention einen Rückschlag für die internationale Zusammenarbeit, die die Einschränkung der Verbreitung von Atomwaffen zum Ziel hat: die Entscheidung der NATO, Gaddafi zu stürzen, obwohl er sich damit einverstanden erklärt hatte, sein Programm zur Entwicklung von Atomwaffen einzustellen, wird mit Sicherheit andere Länder wie Nordkorea davon abhalten, Gaddafis Fehler zu wiederholen. Die Bedeutung der Intervention wird weit über Libyen selbst hinausreichen, und es ist diese höhere Ebene von Auswirkungen, die die gefährlichste Auswirkung der Intervention darstellt. Niemand denkt gerne an die langfristigen Konsequenzen politischer Handlungen, besonders wenn ein Sieg im Spiel ist; aber diese langfristigen Konsequenzen werden bleiben und als Ergebnis wird die internationale Sicherheit in Mitleidenschaft gezogen werden.

 

Auswirkungen auf das Land Libyen

Wenden wir uns nun den Auswirkungen des NATO-Sieges auf Libyen und seine Menschen zu. Derzeit scheint das Ergebnis unsicher, da die Faktenlage mehrdeutig ist. Einerseits hat der Nationale Übergangsrat (NTC) volle Kontrolle über das Land erreicht und das Chaos, das viele befürchtet hatten, bisher vermeiden können. Andererseits bleibt die Situation instabil, was sich in den häufigen Zusammenstößen rivalisierender Milizgruppen zeigt, die um die Kontrolle über Tripoli und andere Gebiete kämpfen. Die NATO-Intervention selbst kann ein Problem für die zukünftige Stabilität bilden. Nachdem das neue Regime die Macht mittels Unterstützung von außen erreicht hat, ist es für Vorwürfe anfällig, daß dies das Ergebnis einer fremden Intervention ist. Es trifft zwar zu, daß die NATO-Mächte zumindest unter denjenigen Libyern einigen Zuspruch erhalten werden, die den Sturz Gaddafis betrieben haben, aber diese Unterstützung wird mit der Zeit verblassen, wenn der traditionelle und tief verwurzelte Antikolonialismus des libyschen Volkes sich wieder Geltung verschafft. Im Großen und Ganzen gibt es wenig in der Geschichte Libyens, was auf ein glückliches Ende hinweisen würde. Das Land ist aus über hundert eigenständigen Stammesgruppen zusammengesetzt, mit einer zusätzlichen Trennlinie zwischen den östlichen und westlichen Teilen des Landes, die auf die Zeit der ottomanischen Herrschaft zurückgeht. Parlamentarische Demokratie hat es so gut wie noch nicht gegeben. Die einzige nationale Einheit, die das Land je erreicht hat, ist weitgehend die Schöpfung Muammar Gaddafis.

 

Niemand sollte den Sturz Gaddafis betrauern, der (ungeachtet einiger Errungenschaften) im Grund genommen eine zwielichtige und größenwahnsinnige Figur geblieben ist. Die Frage ist, ob sich das neue Regime als besser oder schlechter erweisen wird als das vorhergehende. Hier gibt es verschiedene mögliche Varianten. Die neue Regierung könnte sich als eine relativ anständige und stabilisierende Kraft erweisen, die den Menschen Libyens eine bessere Lebensqualität bietet, als sie sie unter der Diktatur Gaddafis hatten. Vielleicht werden sie sogar eine Form von repräsentativer Demokratie erreichen, mit unabhängiger Rechtssprechung und Respekt für die Autonomie des Individuums. Jeder vernünftige Mensch würde auf ein solches Ergebnis hoffen. Dennoch wird dies kaum ins Spiel treten. Ein plausibleres Szenario ist, daß die Zentralregierung auseinanderfallen wird, was einen neuerlichen Bürgerkrieg zwischen den östlichen und westlichen Regionen auslösen wird. Alternativ dazu könnte es zu einem allgemeinen Absturz ins Chaos kommen, ohne klare Frontlinien, ähnlich dem, was in Somalia 1991 nach dem Sturz der Regierung Siad Barre geschah.

 

Das wahrscheinlichste Szenario wird vielleicht eine schwache und korrupte libysche Zentralregierung beinhalten, die inmitten von regionaler Instabilität, wirtschaftlichem Verfall und wachsendem sozialen Elend nominell herrscht. Früher hätten die Mächte des Westens vielleicht ein Hilfsprogramm im Stil des Marshallplans zusammengestellt, um den Erfolg der neuen Regierung zu gewährleisten. Solche Programme sind allerdings weitgehend aus der Mode gekommen und erscheinen derzeit überhaupt unwahrscheinlich, geht man von den sparsam eingestellten Regimes in Europa und der USA aus. Die NATO-Mächte werden sich sicher gegenseitig gratulieren, daß sie die Bombenkampagne finanziert haben, werden aber kaum genügend Geld für den Wiederaufbau des Landes auftreiben. Einfach gesagt wird das am ehesten wahrscheinliche Ergebnis ein Libyen sein, das sich in einem noch viel schlechteren Zustand befindet als vor dem Sturz Gaddafis.

 

Humanitäre Interventionen

Es besteht also eine reale Gefahr, daß die NATO-Intervention zu einer Verschlechterung der Situation der Menschen in Libyen führen wird. Die vorgeblichen Bemühungen bei humanitärenInterventionen haben in der Vergangenheit sicher die Dinge verschlimmert. Man nehme nur die Interventionen im Irak und in Afghanistan, die beide von Regimes regiert worden waren, die noch repressiver waren als das von Gaddafi und in moralischer Hinsicht abstoßender. Interventionen des Westens stürzten beide Regimes, und das geschah mit der Unterstützung von vielen der gleichen Intellektuellen, die vor kurzem den Sturz Gaddafis unterstützten. Die Ergebnisse waren katastrophal.

 

Angesichts der Invasion des Iraks 2003 lieferte Juan Cole folgende Unterstützung: »Ich bin weiterhin davon überzeugt, daß ungeachtet der Bedenken, die man anschließend haben könnte, die Entfernung Saddam Husseins und des mörderischen Baath-Regimes von der Macht die Opfer wert sein werden, die von allen Seiten zu bringen sind.« Es tut weh, diese Art von Quatsch jetzt zu lesen, fast ein Jahrzehnt später, so daß man die Frage nach der Urteilsfähigkeit Coles stellt. Die seinerzeitige Beurteilung des Irakkriegs ist es wert, im Lichte der neueren Schriften Coles zu Libyen, in denen er erneut eine Intervention befürwortet, ins Gedächtnis gerufen zu werden. Generell besteht eine Tendenz zu der Annahme, daß Interventionen mit der Bezeichnung humanitär immer zu positiven Ergebnissen führen müssen. Dies ist eine weit verbreitete Meinung und wird durch Samantha Powers einflußreiches (schlecht recherchiertes) Buch A Problem from Hell popularisiert. In der Geschichte gibt es allerdings kaum etwas, was diese Auffassung unterstützt. In der Tat verschlimmern militärische Interventionen typischerweise humanitäre Situationen im Vergleich zu davor und verbessern sie nicht, was durch die Hunderttausende Getöteter, die das Ergebnis der Interventionen im Irak und in Afghanistan waren, dramatisch illustriert wird. Und entgegen den Märchengeschichten verschlimmerten auch die vorhergehenden Interventionen in Bosnien und im Kosovo die humanitären Krisen in diesen Gebieten, was gut dokumentiert, wenn auch wenig bekannt ist.

 

Erstes Gebot: Richte keinen Schaden an!

In der Medizin müssen die Ärzte unerwünschte Ergebnisse in Betracht ziehen, ehe sie tätig werden: Richte keinen Schaden an ist der Grundsatz für ihr Vorgehen. Wir können nicht alle Probleme lösen, aber das Mindeste, was wir tun können, ist eine schlimme Situation nicht durch rücksichtslose oder schlecht überlegte Interventionen zu verschlimmern. Dieses Prinzip findet in Bezug auf medizinische Interventionen Anerkennung, warum sollte es also nicht genauso bei militärischen Interventionen angewendet werden, diejenigen eingeschlossen, die mit dem Etikett humanitär versehen sind? Zu guter Letzt müssen wir die Auswirkungen der Libyen-Intervention auf die liberale Linke bewerten. Diese Intervention zeigt die Aufgabe ihrer traditionellen Friedensposition durch die Liberalen. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich viele Liberale in einer Weise für militärische Gewalt begeistert, die sich nicht von den reaktionärsten und hurrapatriotischsten Elementen der Rechten unterscheidet. Seien wir ehrlich und nennen wir die Dinge bei ihrem richtigen Namen: die Bewegung für humanitäre Interventionen war in Bezug auf Libyen, Darfur, den Irak und den Balkan schon immer eine Bewegung für den Krieg, denn Krieg ist es, wovon wir hier wirklich reden. Was den Ton betrifft, so verkörpern die liberalen Interventionisten viel von der Hässlichkeit, die die Geschichte hindurch mit militaristischen Bewegungen in Verbindung gebracht wurde, einschließlich ihrer Haltung zu moralischer Selbstgerechtigkeit, ihrer Neigung, abweichende Meinungen zu verteufeln und ihrer unbekümmerten Geringschätzung der Risiken von militärischen Einsätzen. Da gibt es auch ein bemerkenswertes Vertrauen in die guten Absichten von Militär, Regierung und Koordinationsfunktionären der intervenierenden Mächte, verbunden mit der Weigerung, das Eigeninteresse zu bedenken, welches diese Figuren für die Durchführung von Intervention haben.

 

Heutzutage ist Kriegshetze nicht länger auf politisch Konservative beschränkt. Auch Liberale können sich der Spannung und des Gefühls der moralischen Erhabenheit durch die Befürwortung des Kriegs erfreuen – aber ohne das Gefühl der Verantwortlichkeit für die Konsequenzen ihres Dafürseins.

 

 

Quelle:  http://www.antikrieg.com/aktuell/2012_01_14_libyen.htm   13. 1. 12