Neun Jahre Zeit sind doch kein Schutz! «Erweiterte Personenfreizügigkeit» - Schon ab 2014 ohne flankierende Massnahme - von Tobias Salander, Historiker

Nicht nur China mit seinem fragwürdigen «Standortvorteil Diktatur» bedrängt auf den angestrebten schrankenlosen freien Weltmärkten unser Land. Auch die europäischen Billiglohnländer träten bei einer Annahme der «erweiterten Personenfreizügigkeit» bereits in neun Jahren, ab 2014, in ungehinderte Konkurrenz mit der Schweiz. So lange nämlich greifen die sogenannt flankierenden Massnahmen. Eine kurze Zeitspanne, während derer sogar laut Bundesratspropaganda die Löhne in der Schweiz bereits sinken und die Arbeitslosigkeit steigen dürfte. Und dies trotz Schutz. Was aber danach? Ein Nein zur erweiterten Personenfreizügigkeit könnte im Sinne eines Moratoriums genutzt werden, Konzepte für eine fairere Wirtschaft zu entwickeln. Als Beitrag der Schweiz für mehr Menschenwürde und Ethik in der Arbeitswelt. Und damit auch als Beitrag zum Frieden.

In der Diskussion über die erweiterte Personenfreizügigkeit fallen immer wieder zwei Jahreszahlen: 2011 und 2014. Die Schweiz im Jahr 2011 und im Jahr 2014, also in sechs respektive in neun Jahren. Gar nicht mehr so weit weg. Man stelle sich vor, Kevin sei heute neun, Sabrina sieben. Zwei Kinder einer durchschnittlichen Schweizer Familie. Mögen die beiden auch Velibor oder Filiz, Pradeep oder Fatma, Sahit oder Zdenka heissen: Im Jahr 2011 geht die obligatorische Schulpflicht für beide über kurz oder lang ihrem Ende entgegen. Dann heisst es für die grosse Mehrheit: Lehrstellen suchen. Wenn es Berufslehren dann noch gibt, wenn die obligatorische Schulpflicht dann noch besteht.
Oder haben wir in der Schweiz dann eine weitgehend durchliberalisierte und durchprivatisierte schöne neue GATS-Welt, in welcher jeder Bürger zuallererst nicht Mensch, sondern Kunde ist, und natürlich alles haben kann - vorausgesetzt, er hat das nötige Kleingeld? Herrschaft des schnöden Mammons?
Bekommen wir dann Antworten zu hören wie: «Eine Lehrstelle? Aber sicher, nur: Was bezahlen Sie?» «Eine gute Schule für Ihre Kinder? Aber sicher, nur: die Warteliste ist halt lang, aber wenn Sie kapitalkräftig sind, dann können wir schauen, was sich machen lässt!» «Eine gute medizinische Versorgung? Aber sicher, nur: Haben Sie eine Kreditkarte?» «Sauberes Trinkwasser? Aber sicher, nur: In welchem Teil der Metropolitanlandschaft Schweiz wohnen Sie?»
Und unsere Jugendlichen auf Lehrstellensuche, haben sie dann Aussagen wie folgende zu gewärtigen? «Wie, ihre Eltern sind arbeitslos? Ja, das ist halt dann Pech, tja, wer nicht arbeitet, der soll nicht leben, nicht wahr, so hiess es doch mal in früheren Zeiten, nein, so hart sind wir nicht, aber von nichts kommt nichts, da müssen Sie halt arbeiten gehen und sich ihre Lehre oder Schule selber verdienen, da gibt es ja diese prima 1-Euro-Jobs. Haben wir schliesslich auch gemacht, ich war auch Werkstudent, hat mir nichts geschadet, im Gegenteil. Sogar Bundesrat Blocher, ja der von der SVP, der damals 2005 gesagt hat, man müsse das Wagnis wagen, hat sich ja sein Jus-Studium selber verdient. Und hat's zu was gebracht. Also, nur Mut, Velibor, Zdenka, Pradeep, Kevin und wie Ihr alle heissen mögt, selbst ist der Mann, die Frau, das Kind, durch Arbeit zum Wohlstand, wer will, hat's noch immer zu was Ordentlichem gebracht.» Ab 2014 freier Handel mit Arbeitssklaven
Nun werden aber die eingangs erwähnten beiden Jahreszahlen 2011 und 2014 nicht im Zusammenhang mit dem GATS (General Agreement on Trade in Services) genannt. Obwohl GATS, der freie Handel im Dienstleistungsbereich, genau zum obigen fiktiven Szenario führen wird - es sei denn, die Völker der Welt künden diese ungleichen Verträge wieder, die nur die bereits Reichen und Starken begünstigen. Nein, im Jahre 2011 wäre bei einer allfälligen Annahme die Personenfreizügigkeit mit den neuen EU-Mitgliedern fast vollständig umgesetzt, 2014 dann definitiv. Dann fielen alle Schranken, so liest man heutzutage, im Sommer 2005, in den grossen Tageszeitungen der Schweiz. Das bedeutet, dass in naher Zukunft keine flankierenden Massnahmen, keine Kontingente, nichts mehr den freien Verkehr von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften zwischen EU-Grosseuropa und der Schweiz behindern dürfte. Ein Wirtschaftsraum, in welchem das Kapital frei dahinfliesst, wo es am gewinnbringendsten angelegt werden kann. Wo Menschen sich wie Ware auf dem Arbeitssklavenmarkt anbieten müssen, und der billigere wird beschäftigt werden. So wie bereits heute gemäss den Übereinkünften der WTO und GATS angestrebt. Rapider Schwund von Arbeitsplätzen schon jetzt
Schon heute, noch vor einer allfälligen Annahme der Personenfreizügigkeit, zwingt der durch die WTO-Verträge entfesselte freie Markt Schweizer Unternehmer, um konkurrenzfähig zu bleiben, wie immer betont wird, ihre Firmen im Ausland anzusiedeln. Fast täglich sind die Spalten der Zeitungen voll davon. So schreibt der «Tages-Anzeiger» am 5. Juli, die Schweizer Grossbanken verlagerten ihre Arbeitsplätze jetzt schon nach London, allein der Grossraum Zürich werde in den nächsten Jahren 15000 Arbeitsplätze verlieren, nochmals so viele die übrige Schweiz. Die Eltern von Kevin, Pradeep, Zdenka und wie sei alle heissen, werden hellhörig: Wohin gehen dann all die gutausgebildeten Kaufleute? Wer wird dann noch eine KV-Ausbildungsstelle anbieten, wer eine bekommen? Wenn 30000 Kaufleute arbeitslos sind? Und zu welchen Löhnen werden die ihre Arbeitskraft dann feilbieten? In Konkurrenz zu den billigeren und jüngeren unter ihnen? Und wer bezahlt ihnen dann die teuren Wohnungen im Grossraum Zürich? Und wer die Arbeitslosengelder? Und wer konsumiert dann, was Firmen im Grossraum Zürich anbieten? China als Wirtschaftsaufschwungskiller
Keine Sorge, meint der Bundesrat an seiner Pressekonferenz vom 4. Juli zur Frage der «erweiterten Personenfreizügigkeit». Osteuropa biete boomende Märkte. Zwar, so Bundesrat Blocher, sei mit einem Druck auf die Löhne und einer Nivellierung derselben zu rechnen («Tages-Anzeiger» vom 5. Juli), auch mit einer tendenziellen Zunahme der Arbeitslosigkeit («St. Galler Tagblatt» vom 5. Juli), und richtig heikel werde es, wenn die wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa und der Schweiz stagniere. Dass dem aber so ist, vermelden unsere Mainstream-Medien nun ja fast täglich mit ihren Serien über China als grosse Gefahr für Europa und die übrige industrialisierte Welt. Dies dürfte zu einer De-Industrialisierung und einer Verarmung im Westen führen, schliess-lich zu einer 80-zu-20-Prozent-Gesellschaft. Bundesrat Blocher als ehemaligem Chef der stark im China-Business tätigen EMS-Chemie dürften diese Fakten nicht unbekannt sein. Doch die Schlussfolgerung des SVP-Patrons: Aber schliesslich könne das Schweizervolk im Jahre 2009 die Notbremse ziehen und «die Übung Personenfreizügigkeit» abbrechen («Blick» vom 5. Juli).
Dass dies wohl nicht gehen dürfte, unterstrich hingegen seine Kollegin Calmy-Rey, denn schon heute würde die EU ein Nein als «Diskriminierung einzelner Länder» interpretieren und die Bilateralen I kündigen. Also wird man dann 2009 die Übung mit genau diesen Argumenten nicht abbrechen können; und wenn dann erst noch Bulgarien und Rumänien, die Ukraine und eventuell die Türkei dazustossen, gilt natürlich dasselbe. Wo, bitte, sollen die Schweizer im Ausland arbeiten?
Aber Schweizer könnten dann ja auch ins Ausland arbeiten gehen, so wird argumentiert. Nur: Der «Tages Anzeiger» vom gleichen Tag bringt auf der Seite Zürich und Region eine Statistik über den Ansturm junger Deutscher nach Zürich. Da wird festgehalten, dass heute bereits über 18000 Deutsche in Zürich leben, und die Zahl werde immer grösser. Grund? Originalton «Tages-Anzeiger»: «Die Zuwanderung ist aber auch ein Spiegel der Arbeitslosigkeit in Deutschland. Das mag erklären, weshalb nur wenige Schweizer von Zürich nach Deutschland ziehen: Im ersten Quartal 2005 waren es lediglich 54 Personen, hingegen zogen 1105 Nichtschweizer aus Deutschland zu.» Das ist nach Adam Riese ein Verhältnis von 1 zu 20! Und da will uns der Bundesrat weismachen, das Ausland böte Schweizern tolle lukrative Arbeitsplätze? Wo denn? In Polen als Erntehelfer? In Tschechien als Kondukteur? In Lettland als Wachmann? Für wie dumm will der das Schweizervolk verkaufen, wenn nicht mal das EU-intern immer noch als Hochlohnland gehandelte Deutschland Schweizer Arbeitskräfte anzieht? Weil es ganz offensichtlich schlicht keine gibt. Bei einer Arbeitslosigkeit im zweistelligen Prozentbereich wohl auch kein Wunder. Schweizer Jugend als ehrenamtliche Helfer ins Ausland
Eins sei klargestellt: Ein Nein zur erweiterten Personenfreizügigkeit hat nichts mit Fremdenfeindlichkeit zu tun, aber mit Menschenwürde. Es täte vielen Schweizern, auch gerade Jugendlichen, nur gut, einmal in Lettland, Polen, Tschechien oder Portugal, der Ukraine, Bulgarien und Rumänien zu leben und mitzuarbeiten. Zum Beispiel in den Ferien. Statt auf Tourismus zu machen. Und zwar ehrenamtlich. Um den eigenen Horizont zu erweitern. Nicht der pekuniären, sondern der persönlichen Bereicherung wegen. Manch einer würde dann zu Hause im Staatskundeunterricht interessiert zuhören, wenn es um die Frage der Demokratie, der Gewaltenteilung, der Verhinderung von Armut und Korruption, der Bildung, der Gesundheit, der Energieversorgung usw. geht. Und sie würden sich überlegen, wie man ein gerechteres Wirtschaftssystem entwickeln könnte, welches allen Menschen überall ein menschenwürdiges Leben gewährte. Manchem Hochkonjunkturkind täte es gut zu erfahren, was das Leben die längste Zeit der Menschheitsgeschichte hindurch, und heute noch für über 5 Milliarden Menschen, hiess und heisst: Entbehrung, Kampf gegen das Elend, für sauberes Wasser, für ausreichende und gesunde Nahrungsmittel, Aufstehen gegen die Gier einzelner, heute der multinationalen Konzerne und ihrer Aktionäre, Einsatz für ein menschenwürdiges Dasein.
In diesem Sinne ist die Vorstellung einer Nivellierung der Löhne nach unten nicht per se zurückzuweisen. Ansatzpunkt müsste dann allerdings das gesichtslose, anonyme Aktionärskapital sein. Die Milliarden und Billionen, die den Volkswirtschaften entzogen werden und zum unverschämten Reichtum einiger weniger beitragen. Gesunde Arbeit hingegen hat noch niemandem geschadet, zuviel Luxus kann im Gegenteil zu Sinnentleerung, geistiger Verwahrlosung, Vandalismus und Drogenmissbrauch führen. Mass des Menschlichen auch in der Wirtschaft
Wie hiess es einst? «Global denken, lokal handeln». So umstritten der Slogan mit seiner politischen Schlagseite auch sein mag, inhaltlich ist ihm voll und ganz zuzustimmen: die Mitmenschen in Osteuropa, aber auch überall auf dem Planeten Erde im Herzen mittragen und lokal für eine gerechtere Weltwirtschaft einstehen. Die Menschen in Osteuropa und überall so unterstützen, dass sie dort selber ein Leben in Würde führen, eine Wirtschaft aufbauen können, die zuallererst ihnen selber zugute kommt und dann natürlich auch den Austausch mit der übrigen Welt sucht.
Faires Wirtschaften, fairer Handel heisst, die ungerechten WTO- und GATS-Verträge zu künden, weil sie nur dazu dienen, ganze Völker auszuplündern und zu enteignen. Dem Schweizervolk mit seiner humanitären Tradition
stünde es gut an, ihrer das Mass des Menschlichen aus den Augen verlierenden Regierung hier den Weg zu weisen. Auf dass ein Kevin und eine Sabrina, ein Velibor und eine Filiz, ein Pradeep und eine Fatma, ein Sahit und eine Zdenka und all die Jugendlichen überall auf der Welt eine Zukunft haben. Eine Zukunft im friedlichen, fairen Miteinander.