Libyen - Der Haftbefehl

d.a. Die Anklage gegen Gaddafi auf Grund von Menschenrechtsverletzungen steht. Erwägt man

nun die hohe Anzahl von Menschen, die seit geraumer Zeit den verstärkten US-Drohnenangriffen in Pakistan zum Opfer fallen, und die zivilen Todesopfer, die die Besatzung Afghanistans fordert, oder auch den Fakt, dass die für den Jugoslawienkrieg Verantwortlichen niemals vor einem Gericht zu erscheinen hatten, so wird die unglaubliche Parteilichkeit, mit der hier vorgegangen wird, einmal mehr offensichtlich.
 
Es sind gerade einmal zehn Wochen vergangen, führt Norman Paech 1 aus, seit der UNO-Sicherheitsrat am 26. Februar sein Mandat für die Ermittlungen im Libyen-Konflikt erteilt hatte, und schon liegt ein detaillierter Haftantrag vor, ein Haftbefehl gegen Muammar al-Gaddafi, dessen Sohn Saif al-Islam und den Chef des Geheimdienstes, Abdullah Senussi. Dagegen liegt beispielsweise die Forderung der Goldstone-Kommission nach gerichtlichen Konsequenzen der Kriegsverbrechen im Gaza-Krieg 2008/2009 noch immer unerledigt beim  UNO-Sicherheitsrat, da die USA die Weiterleitung an den Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag [IStGH] blockiert. Staatsanwälte sind weisungsabhängig, und das ist auch der Chefankläger beim IStGH. Er hat die Vorwürfe, die ihm der Sicherheitsrat übermittelt, zu prüfen; darin ist er unabhängig. Die Vorwürfe wiegen schwer: massenhaft Morde an Zivilisten, Folter, Verfolgung Unschuldiger, gezielte Vergewaltigungen, Scharfschützen hätten auf Menschen geschossen, die gerade aus den Moscheen kamen, alles schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit und damit strafbar.
 
Es ist nicht bekannt, schreibt Paech ferner, dass Moreno-Ocampo ein Ermittlungsteam nach Libyen geschickt hat, es hätte dann wohl auch ein Auge auf die Kriegsführung der Rebellen und ihrer NATO-Alliierten werfen müssen. Aber der Druck der Auftraggeber war offensichtlich zu stark, um sich Zeit für umfangreiche und genaue Recherchen vor Ort zu lassen. Denn der Gerichtshof wird von der NATO als weitere Waffe in ihrem Krieg gegen Gaddafi geführt. Da die Bombardierung aus der Luft und von der See aus sowie die diplomatische, finanzielle und militärische Unterstützung der Rebellen Gaddafi bisher nicht stürzen konnten, soll der Haftbefehl weiteren Druck erzeugen. Das jüngste Angebot Gaddafis zur Waffenruhe wird ebenso ignoriert wie der seit März vorliegende Friedensplan der Afrikanischen Union. NATO und Rebellen geht es offensichtlich weniger um den Frieden und den Schutz der Zivilbevölkerung, sondern um die Beseitigung Gaddafis. In der Folgsamkeit des Anklägers liegt aber auch seine Dummheit. Merkt er nicht, dass er mit seiner Eilaktion nur den Ruf des IStGH als »Kolonialgericht« und »Afrikanisches Strafgericht« weiter entwertet? Wo sind die Anklagen wegen Kriegsverbrechen in Afghanistan, Irak oder Gaza? Die Täter der NATO und Israels sind offensichtlich vor diesem Gericht immun, nur nicht die aus Afrika. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Sollten sich die Vorwürfe erhärten, müssten sie vor dem Gericht geklärt werden.
 
Der amtierende Präsident der USA ist, was die Aggressivität seiner Aussenpolitik angeht, noch brutaler als sein Vorgänger, heisst es in einem Artikel der jungen Welt von Knut Mellenthin 2: »Der Krieg der NATO gegen Libyen hat eine zehnjährige Normalisierung der Beziehungen zwischen dem Westen und Tripolis ohne erkennbare Gründe zerstört. George W. Bush hatte das äußerst angespannte Verhältnis zu Libyen seit 2001 auf den für beide Seiten schwierigen Weg einer schrittweisen Normalisierung gebracht. Ergebnisse waren unter anderem die Wiederaufnahme der 1981 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen, die Streichung Libyens von der Liste der terrorunterstützenden Staaten und schließlich der Austausch von Botschaftern. Als erster Außenminister der USA seit 1953 flog Condoleezza Rice im September 2008 in die libysche Hauptstadt und schreckte sogar vor einem über zwei Stunden langen Treffen mit Muammar Al-Ghaddafi nicht zurück. Sie sprach von einem historischen Moment, mit dem sie selbst niemals gerechnet habe, von einer neuen Phase in den Beziehungen und lobte die von Libyen getroffene Entscheidung, dem Terrorismus abzuschwören und auf  Massenvernichtungswaffen zu verzichten. Obama brauchte nicht viel länger als zwei Jahre, um diese Entwicklung ohne einen auch nur halbwegs plausiblen Grund  von einem Tag auf den anderen abzuwürgen und militärische Mittel gegen Libyen in einem Ausmaß einzusetzen, wie es nicht einmal Ronald Reagan auf dem Tiefpunkt der Beziehungen in den 1980er Jahren getan hatte. Aber die Konsequenzen von Obamas Schritt sind noch weitreichender: Die politische und wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Normalisierung zwischen der USA und Libyen war in den vergangenen zehn Jahren regelmäßig als Beispiel dafür gepriesen worden, daß auch sogenannte Schurkenstaaten in Gnaden wieder aufgenommen werden können, sobald sie bereit sind, ihre Politik zu ändern. Die USA habe keinerlei ewige Feinde, beteuerte Rice bei ihrem Besuch in Tripolis. Libyen sei ein wichtiges Modell, wenn Nationen rund um die Welt darauf drängen, daß die Regimes des Irans und Nordkoreas ihr Verhalten ändern, hatte die Außenministerin schon bei der Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen im Mai 2006 gesagt. Nach Obamas Verrat aus heiterem Himmel dürfte es künftig nahezu unmöglich sein, diese Verlockungen noch irgend jemandem zu verkaufen, der bei Verstand ist. Das gilt übrigens auch für die afghanischen Aufständischen.«
 
Bekanntlich wurden schon am 13. 4. anlässlich eines Treffens der sogenannten Libyen-Kontaktgruppe in Doha / Katar die Weichen für eine Ausweitung des Krieges gestellt, der heute unvermindert seinen Fortgang findet. »Nicht auf Reformen«, legt Werner Pirker dar, »sondern auf nackte Gewalt setzt der Westen in Libyen, wo ein Wechsel zu einem prowestlichen Regime erzwungen und nebenbei auch der falsche Eindruck erweckt werden soll, daß der Imperialismus die militante Vorhut arabischer Befreiungsbewegungen bildet.« 3 Auf dem Weltweiten Aktionstag gegen Militärausgaben vom April dieses Jahres, an dem die Forderung von Ingenieuren und Wissenschaftlern erging, die Militärhaushalte drastisch zu kürzen, wurde vermerkt, dass sich die deutschen Grünen-Politiker beim Libyen-Konflikt leider als »Haupteinpeitscher des Kriegskurses« erwiesen hätten 4.
 
Wie das so üblich ist, zeichnet sich die Presse einmal mehr durch einmalige Feststellungen aus. Nachdem bekanntgeworden war, dass die frühere Kolonialmacht Italien den Gegnern der libyschen Regierung Waffen liefern will, schwärmte der Spiegel online laut Rüdiger Göbel 5 von dem Kriegsdeal: »Kleiner Hoffnungsschimmer im Kampf gegen den libyschen Machthaber Muammar Al-Ghaddafi«. Das Militärgerät soll nach Angaben der Aufständischen »sehr bald« geliefert werden. Die Regierung Silvio Berlusconis wollte nicht von einem offiziellen Waffenabkommen sprechen, sie nennt das Ganze stattdessen »Hilfe zur Selbstverteidigung«. Die Verschleierung ist deswegen notwendig, da für Libyen ein UNO-Waffenembargo gilt. Dem Onlineportal des Spiegels zufolge ist die Unterstützung »dringend nötig«, »die Truppen des Regimes gehen mit unnachgiebiger Härte vor«.
 
»Neben der Wahrheit als sprichwörtlich erstem Opfer des Krieges«, schreibt Jürgen Rose, Oberstleutnant der Bundeswehr a. D. 6, »ist es gerade das Völkerrecht, das bei diesem von langer Hand gemäß der Parole Der Schlächter von Tripolis muß weg! vorbereiteten gewaltsamen Regimewechsel auf der Strecke bleibt. Mal ganz abgesehen von dem Faktum, daß es für die von Machthaber Muammar al-Gaddafi angeblich angeordneten und von der libyschen Armee angeblich exekutierten Massaker am eigenen Volk keinerlei belastbare Beweise gibt, offenbart eine nachgerade prophetisch anmutende Passage aus dem Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr sehr eindrücklich, was es mit jener momentan in aller Munde geführten Schutzverantwortung  - Responsibility to Protect, R2P -  auf sich hat, die nun als Legitimationsformel für den zum Schutz der Zivilbevölkerung geführten Bombenkrieg herhalten muß. Dort, im Weißbuch, steht zu lesen: Als Reaktion auf die Intervention im Kosovo 1999 ist die völkerrechtliche Lehre von der Responsibility to Protect entstanden. Auch wenn die Staaten, die sich diese Lehre zu eigen gemacht haben, wahrscheinlich noch nicht in der Mehrheit sind, prägt die Debatte um die R2P doch zunehmend das Denken westlicher Länder. Dies wird langfristig Auswirkungen auf die Mandatierung internationaler Friedensmissionen durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben. Denn gerade wenn es zum Einsatz militärischer Gewalt kommt, ist die völkerrechtliche Legitimation entscheidend. Keineswegs verschafft der aktuelle Libyen-Krieg dem Prinzip Schutzverantwortung einen Präzedenzfall, ganz im Gegenteil: Bestätigt fühlen dürfen sich all jene Kritiker, die bereits vor mehr als zehn Jahren warnten, daß der NATO-Luftkrieg gegen Jugoslawien das Paradigma für den militärischen Zuschnitt der neuen Weltordnung liefern werde. Darüber hinaus enthüllt die vorstehende Passage aus dem deutschen Weißbuch, mit welch unverhohlener Dreistigkeit die sogenannte Strategic Community des Westens die Rolle der Vereinten Nationen auf die Funktion eines Grüßaugusts reduziert hat, der lediglich noch demutsvoll die von der NATO in Szene gesetzten Globalisierungskriege abzunicken hat. Exakt in letzterem nämlich liegt der eigentliche Zweck und wahre Charakter jener völkerrechtlichen Mißgeburt namens R2P begründet. Untermauert wird dieser Befund durch den Umstand, daß die in der Satzung der Vereinten Nationen niedergelegten fundamentalen Grundsätze des Gewaltverbots und des Interventionsverbots den Weißbuch-Schreibern keinerlei Erwähnung wert sind. Prekär erscheint der gegenwärtige Interventionskrieg des Westens gegen Libyen freilich nicht allein auf Grund vorstehender Einwände; auf welch abschüssigem Pfad sich jedweder kriegerischer Menschenrechtsinterventionismus bewegt, mag die Tatsache illustrieren, daß es kein Geringerer als Adolf Hitler war, der 1934 in seinem Machwerk Mein Kampf postuliert hatte: Menschenrecht bricht Staatsrecht. Wo das endete, ist bekannt.
  
Libyen -Manöver bereits im November 2010
Nicht zuletzt muß es als extrem befremdlich erscheinen, daß Frankreich und Großbritannien bereits im November 2010 beschlossen hatten, unter dem Rubrum Southern Mistral vom 21. bis zum 25. März 2011 ein gemeinsames Manöver ihrer Luftstreitkräfte durchzuführen und daß einen Monat bevor der Bürgerkrieg in Libyen ausbrach, einige dänische F-16 Jagdbomber auf dem italienischen Luftwaffenstützpunkt Grosseto gelandet waren, um nach Berichten eines Flughafenangestellten hier für Libyen zu üben. Genau dieselben dänischen Jets fliegen jetzt - natürlich rein zufällig - von Sigonella aus Luftangriffe gegen die libyschen Regierungstruppen. Als frappierend realitätsnah entpuppt sich auch das Übungsszenario von Southern Mistral: In einem imaginären Land namens Southland 7 soll eine Diktatur bekämpft werden, die für einen Angriff auf Frankreichs nationale Interessen verantwortlich ist. Frankreich trifft die Entscheidung, seine Entschlossenheit gegenüber Southland (auf der Grundlage der Resolution 3003 des UNO-Sicherheitsrats) zu zeigen. Die dann auf den 15. März 2011 vorgezogene Luftwaffenübung wurde laut offizieller Meldung der französischen Luftwaffe vom 25. März ausgesetzt; indes liegt nahe, daß sie in Wirklichkeit in den Ernstfall übergegangen ist. Honni soit qui mal y pense! (PK)«
 
 
1 http://www.neues-deutschland.de/artikel/197896.strafgerichtshof-fuer-afrika.html
Strafgerichtshof für Afrika? - Von Norman Paech; Paech ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht
2 http://www.jungewelt.de/2011/05-06/010.php    6. 5. 11 Bomben vom Bewährungshelfer - Von Knut Mellenthin
3 http://www.jungewelt.de/2011/05-21/010.php  21. 5. 11 Falscher Schutzherr - Obamas Rede war ein Flop - Von Werner Pirker
4 http://www.jungewelt.de/2011/04-13/042.php Entwicklung statt Rüstung
5 http://www.jungewelt.de/2011/05-09/029.php  Waffenhilfe für Bengasi - Von Rüdiger Göbel
6 http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=16443
Online-Flyer Nr. 299  vom 27. 4. 2011
Libyen kein Präzedenzfall - Gaddafis Sturz durch Bürgerkrieg längst erprobt - Operation mißraten, Patient tot - Von Jürgen Rose – auszugsweise
Jürgen Rose ist Vorstandsmitglied der kritischen  SoldatInnenvereinigung Darmstädter Signal
7 http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=16384  (1)