Eine Stellungnahme der »Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost«

In dem offenen, an den Richter Richard Goldstone gerichteten Brief

nimmt diese zu dessen sogenannten Rückzieher,der in den letzten zwei Wochen von der gesamten internationalen Presse mit Erstaunen und Entsetzen zur Kenntnis genommen worden ist, Stellung. In Israel war die Freude groß, daß man Goldstone endlich auf die Knie gezwungen hat. In Wirklichkeit war es aber kein Rückzieher und schon gar keine Entschuldigung. Es war eher ein verzweifelter Versuch Goldstones, sich von dem enormen politischen, sozialen und moralischen Druck zu befreien, den Israel und viele Juden in der Welt auf ihn ausgeübt haben. Es war aber ein sowohl wirkungsloser wie lächerlicher und jämmerlicher Befreiungsschlag, der den Israelis nicht den Nutzen gebracht hat, den sie davon erwartet haben und der Goldstone selbst zwischen alle Stühlen gesetzt hat. Es war ein Bumerang, der niemanden nützte und allen geschadet hat, und, wie wir jetzt sehen, für eine Welle von antisemitischen Reaktion, besonders in der arabischen Welt, gesorgt hat.
 
Sehr geehrter Herr Goldstone,
als Ihr UN-Bericht in Deutschland erschien, veranstalteten wir eine Pressekonferenz in Berlin, an der unser damaliger erster Vorsitzender, Prof. Dr. Rolf Verleger, die Herren Stéphane Hessel und Jeff Halper sowie der Verleger Abraham Melzer, der Ihren Bericht auf Deutsch verlegt hat, teilnahmen. Der Bericht hat viel Interesse in Deutschland erweckt, die Resonanz in den Medien war jedoch sehr bescheiden, da die Journalisten offensichtlich Angst hatten, den Bericht zu thematisieren.
 
Als der Staat Israel und die jüdische Gemeinde in Südafrika Sie beschuldigten, Antizionist und gar Antisemit zu sein und dazu noch ein sich selbst hassender Jude, haben wir uns darüber empört und dagegen protestiert. Ebenso sind wir empört über die Art und Weise, wie Israel und viele jüdische Institutionen Ihren Artikel in der Washington Post für ihre Zwecke instrumentalisieren. Auch wir haben diesen Beitrag gelesen, und obwohl wir mit einigem nicht einverstanden waren, so konnten wir darin keine Aufforderung Ihrerseits an die Vereinten Nationen erkennen, den Bericht zurückzuziehen, wie es der israelische Innenminister Eli Yishai gefordert hat.
 
Dennoch fragen wir uns, was Sie dazu bewogen haben mag, einen solchen Beitrag zu schreiben. War das der enorme seelische, soziale und politische Druck, den man auf Sie ausgeübt hatte? Wir sind Juden und Israelis und wissen sehr gut, wie inquisitorisch Israel vorgeht, und wir wissen auch, wozu israelische Soldaten fähig sind, zum Teil aus deren eigenen Berichten. Wir glauben deshalb, daß Israel Ihren Artikel als Persilschein interpretieren könnte, den dieses Land nicht verdient hat. Ihr Bericht hat einiges bestätigt, was wir über die Greueltaten der israelischen Armee schon wußten. Die vielen Zeugenaussagen der israelischen Soldaten, die gegenüber der Organisation Breaking the Silence gemacht wurden, sind sehr aufschlußreich. Sie berichten über deren seelischen Notstand und moralische Zweifel wegen Tötungen von Zivilisten, die militärisch unnötig waren und zum Teil aus Vergnügen, aus Langeweile und aus purem persönlichem Haß ausgeführt wurden. Es ist höchste Zeit, daß der Human Rights Council der UNO diese Zeugenaussagen untersucht.
 
Wir sind Ihnen für den Mut und die Integrität dankbar, die Sie bisher gezeigt haben und die Sie weiter benötigen werden, um dem Versuch des israelischen Staats zu widerstehen, Sie als integere Person zu diskreditieren. Wir gehen davon aus, daß der Druck auf Sie und gegen Sie noch stärker und gemeiner wird. Sie haben der israelischen Regierung zwar Ihren kleinen Finger gereicht, aber sie will die ganze Hand, wie den Aussagen von Präsident Shimon Peres deutlich zu entnehmen ist. Der Krieg gegen Zivilisten ist immer Teil der tagtäglichen Routine der israelischen Armee gewesen, in der zwar sehr viel über die Reinheit der Waffen gesprochen und gelehrt wurde, in der man sich aber immer mehr von dieser Maxime entfernt hat, wenn es sie je gegeben haben sollte. In Moshe Sharetts geheimen Tagebüchern liest man, wie er schon 1952 über draufgängerische israelische Kommandeure wie z. B. Ariel Sharon dachte, der nachts die Grenze überquerte und auf jordanischer Seite Zivilisten tötete. »Ich muß morgens aus den Nachrichten hören«, schrieb Sharett, »was dieser Bastard Sharon wieder getan hat.« In ihrem Buch Israel's sacred Terrorism kommentiert Livia Rokach Auszüge aus Sharetts Tagebuch, die das israelische Vorgehen gegen Zivilisten von Anfang an belegen. Daran hat sich bis heute leider nichts geändert.
 
Erwähnen muß man auch die unzähligen Aktionen israelischer Soldaten, denen es zwar nicht darum ging, Zivilisten zu töten, sondern nur darum, den Menschen das Leben so schwer wie möglich zu machen, sie zu drangsalieren und zu quälen, als man nachts Familien und die Bewohner ganzer Dörfer aus den Wohnungen warf und sie stundenlang im Glauben ließ, man wolle sie vertreiben. Viele Mitglieder unserer Gruppe haben auch in der israelischen Armee gedient, und erzählen solche und ähnliche Geschichten. Es war nie Zufall und Irrtum, sondern Methode und Absicht: Auf die Frage warum wir das machen, antwortete ein junger befehlshabender Offizier: »Weil wir ihnen (den Palästinensern) das Leben bitter machen wollen, damit sie von selbst fliehen.« Der Krieg gegen Zivilisten ist der rote Faden, der die israelische Armee von Anfang an begleitet hat. Die Erinnerungen von Itzchak Rabin erzählen, wie er und seine Kameraden im sogenannten Unabhängigkeitskrieg Palästinenser aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben haben. Uri Avnerys zweites Buch Die andere Seite der Medaille erzählt, wie Israel mit Zivilisten umging. Der Konflikt und der Krieg waren von Anfang an auch gegen eine unbewaffnete zivile Gesellschaft und nicht gegen hochgerüstete Armeen gerichtet. Hunderte von Städten und Dörfern sind ausradiert und ihre Bewohner getötet oder vertrieben worden. Man kann den Mythos der anständigen israelischen Soldaten nicht wieder beleben, die ihre Opfer telefonisch warnen, bevor sie sie töten. Das ist zynisch und lächerlich, unglaubwürdig und gelogen. Die israelische Armee ist keine humane Armee, wie es Ehud Barak nach dem Massaker in Gaza behauptet hat. Die israelische Armee ist brutal und zynisch wie andere Armeen und sollte deshalb keinen Kosher-Stempel bekommen, daß sie nur irrtümlich palästinensische Zivilisten getötet habe. Die schwere Bombardierung des Gazastreifens, des dichtest besiedelten Landstreifens der Welt, mußte voraussehbar zur Folge haben, daß dabei viele Zivilisten umgebracht oder verletzt werden.  
 
Täglich sind jetzt die Zeitungen voll absurder Meldungen über Sie und über den Bericht. Ein Knesset-Mitglied will gegen Sie ein Gerichtsverfahren vor dem Bundesbezirksgericht in New York initiieren. Israel will gegen einen UN-Bericht klagen, denn es meint wohl, er schade seinem Ansehen. Nicht die Berichterstattung unter Ihrer Obhut schadet dem Land, sondern vielmehr dessen zynische aggressive Anwendung von Gewalt unter dem Deckmantel einer defensiven Selbstverteidigung sowie die permanente Mißachtung von Menschenrechten und die Verletzung der Charta der Vereinten Nationen. Sie sollten aber wissen, daß es in Israel und überall auf der Welt Juden gibt, die diese inquisitorische Diffamierung ablehnen, Sie unterstützen und weiterhin hinter Ihnen stehen.
 
Wir befürchten, daß durch Fehlinterpretationen Ihrer Aussage, die besagen, Sie wollten sich von dem ursprünglichen Bericht distanzieren, weiterer Schaden verursacht werden könnte. Wir bitten Sie daher dringendst, klar und unmißverständlich zu bestätigen, daß Sie den Bericht weder relativieren, noch sich davon distanzieren wollen.
 
Abraham Melzer
Vorstand der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V
 
Haus der Demokratie und Menschenrechte
Berlin, Samstag, 16. April 2011