Die Protestwelle zieht durch Nordafrika

d.a. Die Protestwelle, die durch Nordafrika zieht und zum Sturz von Ben Ali führte, dessen straff geführte Diktatur in Tunesien 23 Jahre lang anhielt,

hat inzwischen auch auf andere Länder wie Algerien, Jordanien. Libyen, Bahrain und den Jemen übergegriffen. Die schwere wirtschaftliche und soziale Krise in allen Ländern an der Südküste des Mittelmeeres ist eine Folge der Freihandelspolitik, die vom Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Union erzwungen wurde; diese hat nicht nur zu einem Mangel an Nahrung und Energiesicherheit, sondern auch zu einem starken Anstieg der Preise geführt.
 
Im Fall von Tunesien ist dieser Zusammenhang unübersehbar. Die 20 Jahre Zusammenarbeit der tunesischen Regierung mit der Weltbank und dem Internationalem Währungsfonds haben die Arbeitslosigkeit massiv gesteigert, insbesondere unter den gebildeten Tunesiern. Laut einem Bericht der Weltbank hat sich die Zahl arbeitsloser junger Hochschulabsolventen in den zehn Jahren von 1996/97 bis 2006/07 von 121.800 auf 336.000 fast verdreifacht. Mit Unterstützung Frankreichs und der EU führte die Regierung Reformen durch, um wichtige Infrastrukturen, Industrien, Häfen, Stahlwerke und Bergwerke zu privatisieren, Importzölle abzuschaffen, Exportrestriktionen aufzuheben, die Währung abzuwerten und den einheimischen Arbeitsmarkt zu öffnen, damit ausländische Industrien Tunesier als Sklavenarbeiter für die Produktion von Textilien oder Automobilteilen nutzen konnten. Tunesien war das erste nordafrikanische Land, das 1995 ein Freihandelsabkommen mit der EU unterzeichnete und die volle Umsetzung dieser Politik zuliess 1. Offiziell beträgt die Arbeitslosigkeit 14 %, jedoch bestätigen Botschaftsstudien, dass sie in bestimmten Regionen bei über 40 % liegt. Wie die EU inzwischen erklärte, wollen die Europäer Tunesien nun bei demokratischen Wahlen helfen bzw. - wie es Rainer Rupp 2 ausdrückt - »den Wählerwillen in die richtigen Kanäle leiten. Da weiss zumindest die bürgerliche Oberschicht des Landes und die mit ihr verfilzte alte Garde ihre Interessen in guten Händen. Da kommt der Rat des iranischen Parlamentspräsidenten Ali Laridschani an seine tunesischen Glaubensbrüder genau richtig. Er warnt sie, sich ihre Revolution nicht stehlen zu lassen und vor den Hilfsangeboten bestimmter Länder auf der Hut zu sein, die bis vor wenigen Tagen noch die alten Strukturen unterstützt haben.« Schon 2002 erklärte die Exilopposition Tunesiens, dass das Land von einigen Clans im Umfeld von Ben Ali wirtschaftlich beherrscht und systematisch ausgeplündert wurde, was mit Vetternwirtschaft, Korruption, Zoll- und Steuerbetrug einherging. Kalte Enteignungen durch das Regime waren an der Tagesordnung; die Justiz hatte ihre Unabhängigkeit fast verloren und stand den Mächtigen zu Diensten. Der Zollbetrug des Trabelsi-Clans 2001 hatte für den tunesischen Staat einen Ausfall von rund 450 000 $ zur Folge 3. 2001 war Tunesien als offenes Gefängnis bezeichnet worden - mit rund 1000 politischen Gefangenen.  
 
Ägypten hat als Nation mehr als 30 Jahre verloren, seit Lyndon LaRouche und seine Mitarbeiter der Regierung in Kairo 1981-83 einen Plan vorlegten, durch massive Investitionen in die Wasser- und Agrarinfrastruktur die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln zu erreichen. Anglo-amerikanische Interessen, die durch Politiker wie Henry Kissinger, die in Ägypten und anderen grossen Entwicklungsländern die Bevölkerungskontrolle zum Hauptziel erklärt hatten, vertreten wurden, sabotierten damals den Plan. Die Hilfen der USA an Ägypten machten das Land von den USA abhängig und sorgten dafür, dass die Ägypter gerade einmal mit einem Minimum an Nahrungsmitteln versorgt wurden, aber selbst viel zu wenig erzeugten. Anfang der 90er Jahre schloss die Regierung mit dem IWF ein Abkommen zur Halbierung der Auslandsschulden. Sie willigte ein, Staatsunternehmen zu privatisieren, Einfuhrzölle auf Nahrungsmittel und Textilien zu senken - was die beiden Wirtschaftszweige im Inland ruinierte - den Export von Baumwolle, Obst und Gemüse für schnelle Deviseneinnahmen zu steigern und Subventionen für Landwirtschaft, Lebensmittel und Benzin abzuschaffen. Besonders schädlich wirkte die Privatisierung lebenswichtiger Infrastrukturen wie Verkehr, Wasser und Telekommunikation, die explosionsartige Preissteigerungen für kleinere Produktionsbetriebe und Farmen nach sich zog. Dies ermöglichte es internationalen Grosskonzernen, den Markt zu übernehmen. Das Empörendste aus Sicht der Bevölkerung war dabei, wie die Regierung und ihr Nahestehende bei der Privatisierung in die eigene Tasche wirtschafteten. So bildete sich eine grosse, reiche und korrupte Elite heraus, deren Loyalität nicht ihrem Land, sondern den globalen Wirtschaftsinteressen gilt. Das Land, das für die Stabilität der ganzen Region und wegen des Suezkanals für die ganze Welt enorm wichtig ist, wird zunehmend destabilisiert 1.
 
Es liegen mir keine Berichte vor, die festhielten, dass die EU-Kommission an diesen Zuständen je Anstoss genommen hätte. Insofern kann es auch nicht überraschen, dass sich Premierminister François Fillon von Präsident Mubarak den Weihnachtsurlaub unter ägyptischer Sonne samt Ausflügen auf dem Nil und zu einer Tempelanlage mit seiner Familie spendieren lassen hatte, was die sozialistische Parteivorsitzende Martine Aubry zu der Aussage veranlasste, die Regierung habe jeglichen Sinn für öffentliche Moral verloren. Wenn sie ihn je besass, kann man hinzufügen. So hatten die Sarkozys beispielsweise ihren Urlaub zum Jahresende in einem Palast des marokkanischen Königs Mohamed VI. verbracht 4. Auch die Reiseaffären der Aussenministerin Michèle Alliot-Marie sind nicht unumstritten. »Ihr wird vorgeworfen, für ihre Ferienreise in Tunesien während der Unruhen im Dezember den Privatjet eines Ben-Ali-Vertrauten benutzt zu haben. Die Ministerin wehrt ab: Alles Konstruktion. In den Ferien sei sie zudem nicht Ministerin, sondern einfach Michèle Alliot-Marie.« Einfacher kann man sich das gar nicht mehr machen.
 
Was die Löhne betrifft, so steht beispielsweise in Mahalla al Kubra Ägyptens grösste Fabrik. Sie gehört dem Staat - aber die Arbeiter sind weit davon entfernt, den staatlichen Mindestlohn zu kassieren. Jeder hier erhält im Monat 550 ägyptische Pfund. Das entspricht 62 €. Dafür arbeiten die Leute 8 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche. Der grösste Teil der 27 000 Arbeiter war am 17. 2. in einen unbefristeten Ausstand getreten. »Wir wollen nur, dass die Direktoren uns das zahlen, was das  Verfassungsgericht vorschreibt«, sagt Samir, ein 33 Jahre alter Vater von zwei Kindern. »Wir arbeiten weiter, sobald die Direktion uns den vom Verfassungsgericht festgelegten Mindestlohn von 1200 Pfund bezahlt«, sagt er ganz ruhig. Das werde ihnen seit mehr als einem Jahr versprochen, doch geschehen sei nichts. Sie wollten ausharren, bis der verhasste Generaldirektor Fuad Abd al Alim abgelöst ist. Wie alle seine Vorgänger leitet auch er grosse Teile des Betriebsvermögens auf seine Konten um, stellt Gefolgsleute ein und schiebt besser Qualifizierte in niedere Tätigkeiten ab 6.
 
Fall des Pharaos: Aufbruch im Arabischen Raum, ein Dilemma für die Heuchler der westlichen Welt
»Der Pharao ist weg«, schreibt Rainer Hermann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 6, »die Revolution des Volkes hat gesiegt und die westliche Welt, damit  ihre Glaubwürdigkeit nicht ganz und gar auf der Strecke bleibt, überschlägt sich in der Abgabe von Äußerungen, Erklärungen, Anweisungen, Ratschlägen und Forderungen, wie es nun dort weitergehen sollte. Die Ägypter sind keine Hinterwäldler und warten sicherlich nicht darauf, bevormundet zu werden. Wo war denn die westliche Welt in den letzten dreißig Jahre während der Herrschaft des Pharaos? Dreißig Jahre hat man hier die Schreie hungernder, unterdrückter und entrechteter Menschen überhört. Mubarak diente so lange als Aktivposten und Eckpfeiler amerikanisch-europäischer Politik, zum Schutze Israels in der Region. Er war derjenige, der die Vichy-Regierung der Palästinenser in Ramallah knetete, um ihr mehr Konzessionen abzuverlangen, bis von Palästina nichts mehr übrig blieb. Bei Mahmoud Abbas und seiner Verräterbande fand der Quisling weit offene Ohren, um Palästina endgültig den Zionisten zu überlassen. Dafür war der Tyrann gut genug und durfte alles tun und lassen, was er wollte. Alles wurde vom Westen durchgewunken. Die Hypermoralisten in der westlichen Welt wie Merkel, Sarkozy oder Obama haben die Schreie des Volkes nach Demokratie und Freiheit dreißig Jahre lang  nicht nur überhört, sondern haben den absoluten Herrscher toleriert, hofiert und unterstützt. Der Pharao, auch sein Schmarotzerapparat, durfte Korruption in Megaform betreiben. Mubarak allein häufte ein astronomisches Vermögen von 70 Milliarden Dollar an, dazu kommen unzählige Immobilien, Grundstücke und zahlreiche unter Decknamen geführte  Firmen. Die Inhaber der Decknamen wurden für ihre Untaten fürstlich belohnt und in den Milliardärsstand gehoben. Sogar der Außenminister Ahmad Abu Al-Gheith gilt, mit nur zwei Milliarden Vermögen, als unvermögend. Summierte man das Vermögen der korrupten Bande zusammen, überstiege das die gesamten Auslandsschulden Ägyptens um ein Mehrfaches. Reichtum und Macht haben den Pharao taub und blind für die Bedürfnisse und Leiden seines Volkes gemacht, wodurch ihm schließlich ein unwürdevoller Abgang bereitet worden ist. Er vertraute auf seinen gewaltigen Unterdrückungsapparat von 1,4 Millionen Polizei- und Sicherheitskräften, die nicht, wie üblich, als Beschützer des Volkes dienten, sondern in diesem ihren Feind sahen. Das Volk hat zwar nach Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, sozialer Gerechtigkeit, nach Arbeit, Brot, Beendigung des 30jährigen Ausnahmezustands und vor allem nach Würde und Ehre verlangt. Diese und andere wirtschaftliche und soziale Faktoren spielten eine wichtige Rolle beim Sturz des Pharaos. Dennoch waren diese Forderungen nicht der Hauptgrund für die großartige Revolution. Diese bildeten nur die Spitze des Eisberges. Nein, der Hauptanstoß für den überwältigen Aufstand lag viel tiefer, und zwar in der Schmach und der Schande, die der Pharao seinem Volk zufügte und über es brachte, als er ihre Brüder und Schwestern in Gaza einschloß und an die Zionisten auslieferte. Auch seine Rolle als Befehlsempfänger Israels und der USA nahm ihm das stolze Volk übel, da es ihre Ehre zutiefst verletzte. Das alles, mit dem sozialen Elend zusammen, führte schließlich zur Alles-oder-Nichts-Revolution, die mit Alles ein gutes Ende nahm. Auch in Tunesien war der Fall ähnlich gelagert.
 
Nachdem Amerika zu der Überzeugung kam, daß die Spitze dieses Regimes nicht mehr zu retten sei, ist man versucht, die Säulen des Systems in Form von Geheimdienstchef Omar Suleiman und seinesgleichen zu tarnen und zu installieren. Das Spiel ist billig und durchschaubar. Keiner ist so naiv, der nicht die Vergangenheit des Schlächters Omar Suleiman kennt. Insbesondere seine Verdienste für Israel und dessen Vichy-Regierung. Deshalb ist das Volk entschlossen, das Regime samt Säulen zu beseitigen. Frau Merkel, das wichtigste Sprachrohr Israels in Europa, nennt es eine historische Wandlung aber gleichzeitig verbindet damit die Forderung, das Verratsabkommen von Camp David mit Israel müsse bestehen bleiben. Nun hat sie es uns mitgeteilt, was ihr zunächst am Herzen liegt. Jedoch, es war und bleibt ein eiskalter Frieden, der nie in den Herzen und Köpfen der Menschen in Ägypten stattfand. Das hat der Autokrat auch nie erzwingen können. Ein Frieden, der nun im Gefrierfach seinen besten Platz finden wird, begleitet von den Doppelstandards und Heuchelei westlicher Länder.
 
Ein Letztes, es ist noch lange nicht alles überstanden. Es lauern, besonders was Ägypten betrifft, sehr große Gefahren seitens Israel und seiner Handlanger USA und Europa. Zumal wenn man bedenkt, daß sich Ägypten während des Demokratisierungsprozesses nationalistischer ausrichten und nicht als Befehlsempfänger des Westens fungieren wird. Es bleibt auch zu hoffen, daß das neue Ägypten sich gegenüber den Palästinensern in Gaza anders verhalten wird. Wie das der westlichen Welt, der Vichy-Regierung in Ramallah, aber auch den Gemäßigten (willigen) Arabern gefällt ist noch offen. Bei einem Demokratisierungsprozeß im arabischen Raum wird die USA ein unberechenbarer Risikofaktor sein, da die neuen, demokratisch gewählten Machthaber keine Gemäßigten Amerikawilligen sein werden. Im ganzen Spiel in Ägypten ist die Armee als eine Schwachstelle zu betrachten, obwohl das ägyptische Volk das Vertrauen in sie setzt und  höchste Achtung für sie hegt. Für mich ist sie allerdings nicht die Armee von 1952, nicht von 1956 und nicht von 1973. Nach dem Yom-Kippur-Krieg vom Oktober 1973 war sie die Armee von Anwar Sadat, und danach 30 Jahre lang die vom Diktator Mubarak gewesen. Und diese war, wie der Pharao, von Amerikas Gnaden abhängig. Es bleibt spannend.«
 
  
1 Strategic Alert, Jahrg. 25, Nr. 4 vom 26. 1. 11 sowie Nr. 5 vom 2. 2. 11
2 http://www.jungewelt.de/2011/01-19/032.php  19. 1. 11 Vergiftete Angebote - USA und EU wollen Tunesien helfen - Von Rainer Rupp
3 NZZ Nr. 97 vom 27. 4. 02
4 FAZ Nr. 34 vom  10. 2. 2011 / Seite 3
5 http://www.tagesschau.sf.tv/Nachrichten/Archiv/2011/02/07/International/Stolpert-franzoesische-Aussenministerin-ueber-Tunesien-Ferien  7. 2. 11
6 Quelle: F.A.Z., 18.02.2011, Nr. 41 / Seite 6  Vorgeschichte und Nachwirkungen - Von Rainer Hermann; auszugsweise; Hervorhebungen durch politonline