Afghanistan - Neue Ziele

d.a. Am 18. Mai waren bei dem schwersten Anschlag in Kabul seit mehr als einem Jahr 18 Menschen, darunter 6 NATO-Soldaten verletzt worden;

47 Zivilisten wurden verletzt. Zu dem gegen die »Invasoren der NATO« gerichteten Selbstmordanschlag bekannten sich die vormaligen Verbündeten der USA, die Taliban. Als Echo auf die Attacke kamen aus dem Hauptquartier des Kriegsbündnisses in Brüssel Durchhalteparolen. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen erklärte, die NATO sei weiter »entschlossen, ihre Mission zu erfüllen, die im Schutz der afghanischen Bevölkerung und in der Stärkung der Fähigkeit Afghanistans zur Verteidigung gegen den Terrorismus besteht«. Es ist noch immer nicht ersichtlich, dass irgendwo Hemmungen bestünden, uns diesen Krieg, der von jedem die Verhältnisse analysierenden Beobachter als reiner Eroberungskrieg erkannt werden muss, als Mission zu verkaufen. Dabei ist dieser Krieg, wie von vielen Seiten wiederholt dargelegt, »militärisch nicht zu gewinnen«. Nach Einschätzung von 5 deutschen Friedensforschungsinstituten »ist ein dauerhafter Frieden in Afghanistan nur in Zusammenarbeit mit afghanischen Stammesführern zu erreichen. Dazu gehöre, die am Hindukusch fest verankerten Machtstrukturen und Regelsysteme zu respektieren. Bei der Lösung von Konflikten sollten zudem auch Afghanistans Nachbarn sowie große Investoren wie China und Rußland künftig stärker eingebunden werden, meinte Bruno Schoch von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK).« Auch der aussenpolitische Experte des Spiegels, Erich Follath, wies erneut darauf hin, um was es in Afghanistan wirklich geht:  Milliardengeschäfte mit Transitleitungen für Erdgas und Bodenschätze, die »das bitterarme Land zu einem potentiell reichen machen«. Nachgewiesen seien »bedeutende Vorkommen an Gold und Kupfer, Eisenerz und Lithium«. Die »Nichtkämpfer« seien schon da: China habe mit der Ausbeutung von Kupfer begonnen und plane ein »gigantisches Eisenbahnnetz«. Rußland erkunde Gasfelder, plane drei Wasserkraftwerke und wolle eine Eisenerzmine kaufen: »142 in Sowjetzeiten gebaute und teilweise stillgelegte Projekte sollen wieder in Gang gebracht werden.« Follaths Kommentar: Berlins Gefolgschaft zu Washington verbiete zwar »ein schnelles - wünschenswertes - Ausscheren aus der NATO-Solidarität«: »Aber strategische Interessen gar nicht anzusprechen zeugt von Feigheit vor dem Volk.« 1
 
Während die amerikanischen Streitkräfte am 28. 5. ihren tausendsten Kriegstoten in Afghanistan registrierten, bewilligte der Senat tags zuvor einen Nachtragshaushalt für den Afghanistan-Krieg in einer Gesamthöhe von fast 60 Milliarden $. Das Votum des Abgeordnetenhauses steht noch aus. 130 Milliarden für die Kriegführung in Afghanistan und Irak im laufenden Haushaltsjahr hatte der Kongress schon früher bewilligt. Insgesamt werden die bisherigen offiziellen Kriegskosten der USA für den Irak mit 700 und für Afghanistan mit 300 Milliarden $ angegeben. Dass die US-Wirtschaft unterdessen Gefahr läuft, ungebremst auf einen Abgrund zuzusteuern und die Staatsschulden inzwischen den Stand von 13.000 Milliarden Dollar erreicht haben, scheint keinen der Befürworter zu beschäftigen: offenbar auch nicht der Fakt, dass laut der jüngsten Umfrage der Washington Post 52 % der Amerikaner der Meinung sind, dass der Krieg am Hindukusch »die Kosten nicht wert« sei 2.
 
Es gibt eine asiatische Spruchweisheit: »Wenn Gott eine Nation bestrafen will, dann lässt er sie in Afghanistan einfallen.« Der Kolonialmacht England ist es nie gelungen, Afghanistan zu beherrschen. Sie mussten schmachvolle Niederlagen einstecken. Dennoch hält die NATO an ihren Plänen in Afghanistan fest. Aktuell wird ein Grossangriff auf Kandahar, die Taliban-Hochburg und mit etwa 500000 Einwohnern die zweitgrösste Stadt Afghanistans, vorbereitet. Fakt ist immerhin, dass der Widerstand 2009 bereits 80 % des afghanischen Territoriums  kontrollierte. Die Dramatik zeigt sich zum einen in der Zunahme der Zahl der Anschläge mit Sprengfallen von 82 im Jahr 2003 auf 8.159 im letzten Jahr. Auch der Anstieg der getöteten Besatzungssoldaten ist ein Beleg dafür, dass sich der Charakter des Einsatzes qualitativ gewandelt hat. Die Zahl der getöteten Zivilpersonen hat sich laut UN-Angaben in den vergangenen drei Jahren mit 2412 Toten mehr als verdoppelt.
 
Eines der gegenwärtig angestrebten Ziele wurde auf der Afghanistan-Konferenz in London Ende Januar 2010 konkretisiert. »Im Oktober 2011 soll die afghanische Armee eine Stärke von 170.000 Mann haben und die afghanische Polizei soll auf 134.000 Mann angewachsen sein«, heisst es in der FAZ vom 29. Januar 2010. Das Konzept der NATO besteht in einer neuen Taktik der Aufstandsbekämpfung, die den Stichworten »shape, clear, hold and build« folgt: »Nach dem Truppenaufmarsch (shape) werden die Aufständischen angegriffen, also vertrieben oder vernichtet (clear), danach wird der Raum dauerhaft besetzt (hold); das sollen afghanische Sicherheitskräfte, vor allem Polizisten machen, so daß abschließend der Aufbau beginnen kann (build). Die Ausbildung der afghanischen Armee soll im Feld geschehen. Das wird als Partnering bezeichnet. Grundgedanke des Partnering ist, daß künftig nicht mehr die ISAF-Kräfte aus den Feldlagern zu ihren Operationen ausrücken und dann nach einigen Tagen zurückkehren, sondern daß ein einmal besetzter ›Raum‹, wie die Militärs sagen, dann dauerhaft gehalten wird, und zwar durch die afghanischen Sicherheitskräfte. Die ISAF-Partner würden etwa die Außensicherung übernehmen. Das ›gepartnerte‹ Vorgehen bedeutet also nicht, daß künftig Patrouillen aus drei Deutschen und drei Afghanen gelaufen werden, sondern daß ganze Einheiten nebeneinander operieren. (FAZ vom 21.4.2010)«.
 
Wie das »clear« funktioniert, darüber geben Berichte über einen Angriff auf einen afghanischen Ort in Hör- und Sichtweite des deutschen Feldlagers in Kundus Auskunft. Anfang November 2009 griffen 300 US-Spezialkräfte und 800 Afghanen den Ort Gul Tepa an. Nach übereinstimmender Darstellung kreisten Soldaten das Gebiet zuerst ein, dann begannen gezielte Bombardements aus Kampfjets und aus unbemannten Drohnen der US-Armee. Der Gouverneur von Kundus sprach von »unzähligen Bomben, die fünf Tage lang, 24 Stunden hindurch, abgeworfen« worden seien. Eine lokale Politikerin sagte, die Einschläge wären sehr nahe am Stadtkern gewesen. Die Bilanz: nach afghanischen Angaben 133 getötete Taliban. Erste Meldungen, Zivilisten seien nicht unter den Opfern, wurden bald aufgeweicht. Spiegel online schrieb am 17. November 2009: »So geht man im ISAF-Hauptquartier von rund 125 Toten aus, davon sollen aber nur 75 Taliban gewesen sein. Öffentlich spricht jedoch niemand über diese Zahlen.« Die wohlklingenden Ansätze der Zivilisierung des Krieges erweisen sich schon sehr schnell als Propagandavorhang, hinter dem ein ganz gewöhnlicher, aber höchst brutaler Krieg geführt wird, dem Zivilpersonen, darunter Frauen und Kinder, zum Opfer fallen. Schlimm ist, daß die Abschirmung gegenüber der Öffentlichkeit so gut klappt 3.
 
Was Rasmussen unterlässt, ist die Beantwortung der Frage, wie sich die fortschreitenden Massaker in Afghanistan und die damit einhergehende Entvölkerung mit dem von ihm im Zuge der Mission propagierten Schutz der Afghanen vereinbaren lassen.
 
 
Quellen:
1 http://www.jungewelt.de/2010/05-19/001.php
Desaster in Kabul - Von Arnold Schölzel - (Der Spiegel): Erdgaspipelines und Bodenschätze - und China, Rußland sind schon da
2http://www.jungewelt.de/2010/05-29/050.php1000 tote US-Soldaten - Von Knut Mellenthin
3 http://www.jungewelt.de/2010/05-29/015.php Reine Schaufensterreden - Hintergrund. Der NATO-Krieg in Afghanistan und Pakistan (Teil 1)