Afghanistan  - Dieses Vergessen ist eine Schande
»Kampf um die Sicherheit westlicher Demokratien? In Afghanistan? Bitte doch lieber hier! Zwei Drittel unserer Bevölkerung lehnt den Einsatz ab. Damit Regierung und Parlament ihr Gesicht nicht verlieren, nehmen sie die Toten in Kauf. Trauern um deutsche Soldaten. Die getöteten afghanischen Zivilisten - zählen sie nicht? Die hatten keine Wahl, dem Krieg auszuweichen. Vor 65 Jahren hieß es: Nie wieder Krieg! Nie wieder deutsche Soldaten in einen Krieg! Dieses Vergessen ist eine Schande!« 
 
Fakt ist, dass der Befehlshaber aller NATO-Besatzungstruppen in Afghanistan und ISAF-Oberkommandierende, US-General Stanley McChrystal, am 21. April bei seinem Besuch in Berlin Wahrheiten aussprach, »die unsere politische Elite der Öffentlichkeit nicht zumuten will«. Dazu gehört vor allem, dass weitere Bundeswehrsoldaten in Afghanistan fallen werden. »Darüber muss endlich offen debattiert werden - bevor es zu spät ist«, so Dietrich Alexander in der Welt. 1  Zweck seines Besuchs war, mit der Bundesregierung die von ihm konzipierte Strategie des »Partnering« im Afghanistan-Krieg zu besprechen, ein Vorgehen, bei dem mehr Truppen - die Rede ist von 5000 US-Soldaten - in dem bisher von den Deutschen besetzten Gebiet stationiert werden sollen. »Das heißt: mehr tote Soldaten und noch mehr tote Zivilisten sind einkalkuliert«, schreibt Arnold Schölzel 2. McChrystal bezeichnete 2010 gegenüber der Presse als »kritisches Jahr«, was wir selbstredend auch ohne ihn wissen. Gleichzeitig  »verkauft« er uns den Einsatz der Deutschen als »grossen Erfolg«, wobei ihm klar sein  müsste, dass die Mehrheit der Bevölkerung längst nicht mehr bereit ist, eine Behauptung dieser Art zu schlucken. Wenigstens machte BRD-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg darauf aufmerksam, dass das »Partnering«-Konzept, bei dem die Soldaten der ISAF-Truppe gemeinsam mit den auszubildenden afghanischen Sicherheitskräften patrouillieren, hohe Risiken und Gefahren in sich berge. Was dieses »Partnering« tatsächlich bedeutet, erklärte der Wehrbeauftragte Reinhold Robbe vor Beginn des Besuches von McChrystal in den Stuttgarter Nachrichten. Er warnte dort vor einem militärischen Alleingang der US-Truppen im deutschen Besatzungsbereich und stellte fest: »Die US-Verbündeten sind im deutschen Regionalkommando Nord stärker aufgestellt als die Deutschen selbst.« Guttenberg versicherte dagegen, er habe von dem US-General die »klare Bestätigung« bekommen, dass die »Führungsverantwortung Deutschlands nicht nur akzeptiert, sondern auch anerkannt wird.« Wie Rüdiger Göbel berichtete, hatte McChrystal laut der Leipziger Volkszeitung vom 14. April schon zuvor gefordert, dass deutsche Soldaten eine gezieltere Kampfausbildung unter kriegerischen Bedingungen erfahren müssten. Die Bundeswehr müsse »besser« auf die US-Strategie der Aufstandsbekämpfung eingestellt werden. Er erwarte einen wichtigen Beitrag der deutschen Truppen bei der im Sommer anstehenden Grossoffensive gegen die Taliban 3.   
 
Zumindest scheint man langam davon abzugehen, das in Afghanistan entfesselte Inferno zur Mission zu erklären; auch die Bezeichnung friedenserzwingender Einsatzscheint in die Schublade versenkt worden zu sein. Nach wie vor wird der Afghanistan-Einsatz jedoch immer noch als Kampf gegen den Terrorismus ausgegeben. Hierzu meinte Jörg Wiebach, Kapitänleutnant der Deutschen Marine und Sprecher des »Darmstädter Signals«, eines Zusammenschlusses kritischer Soldatinnen und Soldaten: »Die Regierung sollte angesichts der 70 %igen Ablehnung in der Bevölkerung endlich erklären, was denn nun ihre wirklichen Interessen am Hindukusch sind. Solche Unsinnsformulierungen, die Freiheit Deutschlands werde dort verteidigt, kann man sich nun wirklich sparen.« Nach dem Tod der drei deutschen Soldaten bei Gefechten mit den Taliban Anfang April sagte Guttenberg vor Journalisten in Bonn: Bei der Realität in der Region »kann man umgangssprachlich von Krieg reden.« Was heisst hier umgangssprachlich, Krieg ist Krieg. Vor einigen Monaten hatte er noch von »kriegsähnlichen Zuständen« gesprochen. Noch im Februar hatte Berlin den Bundeswehr-Einsatz neu bewertet und völkerrechtlich als bewaffneten Konflikt eingestuft; zuvor war von einem Stabilisierungseinsatz der Bundeswehr die Rede. Demnach waren die Bundeswehr-Soldaten dem zivilen Strafrecht unterworfen. In einem bewaffneten Konflikt ist die Gewaltanwendung eher gerechtfertigt, solange dies militärisch notwendig erscheint. Mit der Feststellung eines bewaffneten Konflikts gilt Kriegsvölkerrecht. Guttenberg wies Kritik an der deutschen Strategie in Afghanistan zurück. »Wir bleiben in Afghanistan«, unterstrich der Minister und widersprach der Ansicht, die Geschehnisse seien Ausdruck eines Scheiterns der neuen Afghanistan-Strategie der Bundesregierung. 4
 
Am 15. April schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Als wäre es unverständlich, dass vom Krieg die Rede ist. Wie ist die Lage in  Afghanistan? Deutsche Politiker verschleiern sie rhetorisch. Neueste Variante dieser Strategie des Euphemismus: umgangssprachliche  Deutlichkeit.« Geradezu einmalig ist der von Jürgen Trittin, dem Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Bundestag, am 14. April im Deutschlandfunk geäusserte Satz: »Die Verwendung des Wortes Krieg ist immer umgangssprachlich und nie völkerrechtlich.« »In der Tat:«, schreibt die FAZ weiter, »das Völkerrecht kennt den Begriff des Krieges nicht mehr. Die Staaten haben das Recht aufgegeben, das im Zeitalter der klassischen Staatenpolitik das Palladium ihrer Souveränität war: das Recht zum Krieg (ius ad bellum), die Freiheit, bei Vorliegen eines rechtmäßigen Kriegsgrundes den Krieg zu eröffnen. Was in der Alltagssprache der Journalisten und Historiker weiter Krieg heißt, ist in der Terminologie des Rechts der bewaffnete Konflikt [armed conflict]. Seit je unterscheidet das Völkerrecht Krieg und Bürgerkrieg, den Krieg zweier Staaten und den Krieg in einem Staat, in dem um die Staatsgewalt gekämpft wird. Völkerrechtliche Fragen wirft der Bürgerkrieg auf, wenn die Parteien auswärtige Unterstützung erhalten. Dieselbe Unterscheidung wird auch heute gemacht, nur in anderen Worten: Man unterscheidet den internationalen bewaffneten Konflikt vom nicht-internationalen bewaffneten Konflikt. Wie entsteht der Krieg, wenn er doch seit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 geächtet ist, das heißt, nicht entstehen soll? Die Antwort fällt nicht schwer: durch Rechtsbruch des Aggressors und durch rechtmäßige Verteidigung des Angegriffenen. Das ius ad bellum ist zum Recht auf Selbstverteidigung geschrumpft. Daher heißen die Kriegsminister heute Verteidigungsminister5
 
Angesichts der Anschläge auf die Bundeswehr hat Berlin, wie der Financial Times Deutschland vom 15. April zu entnehmen war, 60 gepanzerte Fahrzeuge des Typs Eagle IV beim Schweizer Hersteller Mowag in Kreuzlingen bestellt, ein Auftrag, der die deutschen Steuerzahler 61,5 Millionen € kostet. Im Jahr 2011 sollen ausserdem 90 weitere Fahrzeuge geliefert werden. Es sieht also nicht danach aus, als wäre man gewillt, dem Willen der deutschen Bevölkerung nach einem Abzug der Truppen aus Afghanistan Rechnung zu tragen. Mowag ist eine Tochterfirma der amerikanischen General Dynamics und hat der Bundeswehr 2008 198 Fahrzeuge und im November 2009 20 Fahrzeuge für ihren Afghanistan-Einsatz geliefert. Laut Guttenberg ist geplant, bis zu 200 neue gepanzerte Fahrzeuge nach Afghanistan zu schicken.
 
Die jüngsten Todesopfer unter deutschen Soldaten in Afghanistan und die zunehmende Zahl ziviler afghanischer Opfer von NATO-Militäroperationen erfordern laut IPPNW, der ärztlichen Friedensorganisation, sofortige friedensfördernde Massnahmen. Berlin wird aufgefordert, einen sofortigen einseitigen Waffenstillstand und einen Rückzug der deutschen Militäreinheiten in ihre Camps anzuordnen sowie die rasche Rückkehr der Truppen nach Deutschland vorzubereiten. »Deutschland wird nicht am Hindukusch verteidigt, und die Bevölkerung in Afghanistan braucht keine Bomben und Besatzungstruppen, sondern Friedenslösungen und Aufbauhilfe. Wenn die Trauer von Verantwortlichen um die Opfer auf beiden Seiten ernst zu nehmen sein soll, muss sie zu einer Wende der NATO-Politik führen, sonst sind weitere blutige Desaster unausweichlich«, erklärte Matthias Jochheim, stellvertretender Vorsitzender der IPPNW 6.
 
Ganz anderer Meinung ist die Bundeskanzlerin
Die von der Berliner Umschau 7 veröffentlichte Sichtweise Angela Merkels sollte den Deutschen im Prinzip jegliche Illusion rauben, dass für sie in absehbarer Zeit ein Entkommen aus dem Inferno geplant ist: »Der Afghanistan-Krieg ist und bleibt richtig - so das Fazit der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin. Am Morgen des 22. Aprils verteidigte sie den umstrittenen Bundeswehr-Einsatz am Hindukusch. Daran ändere auch der erneute Tod deutscher Soldaten nichts. Merkel stellte den Krieg in Zusammenhang mit den Anschlägen des 11. Septembers 2001, sowie der Attentate in London und Madrid. Deren Urheber seien in Afghanistan ausgebildet worden. Es wäre ein Trugschluß zu glauben, Deutschland wäre nicht im Visier des internationalen Terrorismus. Einen Rückzug der Armee schloss sie aus: [als] weit verheerender, als die Folgen der Anschläge vom 11. September 2001. Denn dann würden Terroristen ermutigt; und diese könnten versuchen, an Nuklearmaterial zu gelangen. Gleichzeitig verlangte Merkel eine Verlängerung des Afghanistan-Mandates - das aber gegenwärtig nicht zur Abstimmung steht. Wir können von unseren Soldaten keine Tapferkeit erwarten, wenn uns selbst der Mut fehlt, zu dem zu stehen, was wir hier beschlossen haben.«  

Dass in diesem Paket sozusagen nichts fehlt, was an Angsterzeugung ausgesprochen werden kann, ist klar ersichtlich. Was den 11. 9. sowie die Konzipierung des Afghanistankriegs betrifft, so sollte sich Frau Merkel eingestehen, dass sich der Bürger bei einer derartigen Argumentation als regelrechter Ignoramus eingestuft sieht. Leider werden wir nie erfahren, ob die Bundeskanzlerin selbst glaubt, was sie vorträgt - was eigentlich ausgeschlossen ist.  
 
Einem Bericht der Frankfurter Rundschau online zufolge 8, hat es Angela Merkel auch nicht verfehlt, den früheren Verteidigungsminister Peter Struck zu zitieren: »Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt. Bis heute hat es niemand klarer, präziser und treffender ausdrücken können.« Es scheint, dass die Zählebigkeit dieses Arguments trotz aller Widerlegungen nicht zu bändigen ist. »Merkel«, so fr.online ferner, »ließ keinen Zweifel daran, daß sie zu dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan steht. Sie äußerte erneut Verständnis dafür, daß in der Bevölkerung von Krieg gesprochen werde. Ein sofortiger Abzug wäre aber unverantwortlich. …… Ziel sei auch nicht, Afghanistan zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild zu machen. Vielmehr schützten die deutschen Soldaten die Deutschen davor, daß wir im eigenen Land Opfer von Terroranschlägen werden. Deutschland befinde sich im Visier des internationalen Terrorismus. Ein Rückzug der UN-Truppen aus Afghanistan würde die Gefahr drastisch erhöhen, daß Pakistan weiter destabilisiert werde und Extremisten dort oder im Iran in den Besitz von Nuklearwaffen kämen. So offen hat sich Merkel selten zu dem Thema geäußert.« Wobei dieses offenin meinen Augen nichts mit Ehrlichkeit zu tun hat, sondern, wie bereits konstatiert, eher dem Bemühen dienen dürfte, die Bevölkerung im Zustand der Angst zu halten. Und Angst lähmt bekanntlich den Widerstand. Dass Terroristen, unter diesen Begriff fallen sämtliche Widerstandskämpfer, die ihr Land vor dem Zugriff fremder Mächte zu schützen bestrebt sind, in den Besitz nuklearer Waffen gelangen könnten, ist ganz offensichtlich die neueste Komponente, mit der man anders geartete Sichtweisen gefügig zu machen versucht. Sorgsam ausgeblendet wird jeweils, dass der Terror so lange nicht zum Erliegen kommen kann, solange der Kriegsterror in Afghanistan anhält. Es ist noch nicht lange her, dass sich die Presse sozusagen überschlug, um Frau Merkel weltweit als die mächtigste Frau Europas darzustellen. Für meine Begriffe ist sie eher Wachs in den Händen der USA und deren Ziele.
 
Nicht nachvollziehbar sind für mich die Worte des Schleswiger Bischofs Gerhard Ulrich in seiner diesjährigen Ostermontag-Predigt im Schleswiger Dom: Er forderte mehr Unterstützung für deutsche Soldaten, wobei er sich ausdrücklich auf die Gefechte in Kundus bezog, bei denen am Karfreitag drei deutsche Soldaten getötet und vier schwer verletzt worden waren. »Wir sind denen die Osterbotschaft schuldig, die nicht wissen, wohin mit ihrer Trauer, ihrer Angst. Den Aufstand des Lebens gegen alle Gewalt sind wir ihnen schuldig.« Die zahlreichen elend zugrunde gehenden Afghanen fanden offensichtlich keine Erwähnung. Und was soll ein Aufstand des Lebens gegen die Gewalt, wenn diese doch von Seiten der Besatzung erbarmungslos fortgeführt wird. Auch für das nochfolgende Zitat aus der jungen Welt kann ich kein Verständnis aufbringen: »Ich kenne Eure Verzweiflung. Ich bewundere Euren Mut. Ihr kämpft gegen den Terror. Vor Euch verneigt sich das Land«, so Ernst Elitz, ehemaliger Intendant des Deutschlandradios, in der Bild-Zeitung vom 8. April. Man fragt sich, inwieweit Äusserungen dieser Art von den täglichen Presseinformationen beeinflusst sind.
 
Der Sprecher der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen, Monty Schädel, hatte zu der »breiten Trauer« um die in Afghanistan getöteten Bundeswehrsoldaten am 9. April erklärt 10: »Für uns sind sie nicht gefallen! …. Seit Jahren spricht sich eine deutliche Mehrheit der Bürger der Bundesrepublik gegen den Krieg in Afghanistan und die deutsche Beteiligung daran aus. Jetzt den Eindruck vermitteln zu wollen, daß die Bundeswehrsoldaten für diese breite Mehrheit im Krieg stehen und auch für sie fallen würde, verdreht die Realität. …. Natürlich kann ich das Leid von Angehörigen über den Tod ihrer Familienmitglieder und Freunde nachvollziehen, doch die Inszenierung der Trauerfeier als Heldenverehrung unter der Aussage, sie seien für Deutschland, die Freiheit oder die Demokratie gefallen, ist reine Kriegspropaganda.«
 
 
 
1 http://www.welt.de/debatte/kommentare/article7276697/Wir-muessen-uns-auf-mehr-tote-Soldaten-einstellen.html   21. 4. 10 Dietrich Alexander - Wir müssen uns auf mehr tote Soldaten einstellen
2 http://www.jungewelt.de/2010/04-22/065.php   22. 4. 10 Partnern bis zum Tod - Von Arnold Schölzel  
3 http://www.jungewelt.de/2010/04-15/054.php Freiherr auf Frontshow - Von Rüdiger Göbel
4http://bazonline.ch/ausland/europa/Tabubruch-Guttenberg-spricht-von-Krieg/story/25555162
4. 4. 10  Tabubruch: Guttenberg spricht von «Krieg»
5 F.A.Z., 15.04.2010, Nr. 87 / Seite 31 - Als wäre es unverständlich, dass vom Krieg die Rede ist - Von Patrick Bahners
6 http://www.ippnw.de/startseite/artikel/8cbc9e2c26/merkel-soll-sofortigen-waffenstillst.html
IPPNW-Presseinformation vom 19.4.2010 - Merkel soll sofortigen Waffenstillstand der Bundeswehr anordnen. 9.04.2010
7http://www.berlinerumschau.com/index.php?set_language=de&cccpage=22042010ArtikelPolitik1   22. 4. 10 Merkel verteidigt Afghanistan-Krieg - Abzug wäre verheerend
8 http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/2570643_Bundeskanzlerin-Merkels-Abschied-von-alten-Argumenten.html   22. 4. 10 Von Karl Doemens
9 http://www.jungefreiheit.de/Single-News-Display-mit-Komm.154+M5848ef9a17e.0.html
6. 4. 10  Bischof fordert mehr Unterstützung für deutsche Soldaten
10 http://www.jungewelt.de/2010/04-10/037.php