Der Holocaust, der Iran und das Böse - Von Gideon Levy

Am Holocaust-Gedenktag gingen sämtliche Großkopferten Israels bei Tagesanbruch zum Angriff über. Präsident Shimon Peres in Deutschland,

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu samt großer Gefolgschaft in Polen, der Außenminister in Ungarn, sein Stellvertreter in der Slowakei, der Kultusminister in Frankreich, der Informationsminister vor der UNO-Versammlung. Sie alle stürmten an die PR-Front, um Reden über den Holocaust zu schwingen. Der Zeitpunkt für diese ungewöhnlich aufwendige Kampagne ist nicht zufällig: Während der Goldstone-Bericht über den Gaza-Krieg in aller Munde ist, reden wir vom Holocaust, als wollten wir den Eindruck verwischen. Wenn alle Welt nach der Besatzungsmacht Israel fragt, antworten wir mit dem Iran. Wir haben einen Ministerpräsidenten, der über das Böse in der Welt spricht, aber gleichzeitig einen Zaun errichten läßt, um Kriegsflüchtlinge daran zu hindern, an Israels Tore zu klopfen. Dieser Ministerpräsident prangert das Böse an und ist doch selbst in das Verbrechen der Gaza-Blockade involviert, die schon ins vierte Jahr geht und 1,5 Millionen Menschen in schmähliche Bedrängnis bringt. Er regiert ein Land, in dem Siedler unter der Parole Preisschild, die grauenhafte historische Assoziationen weckt, ungehindert Pogrome gegen unschuldige Palästinenser verüben.
 
Jede Holocaust-Rede wird hohl tönen, wenn......
In seiner Gedenk-Rede setzte Netanjahu Nazi-Deutschland mit dem fundamentalistischen Iran gleich. Das ist billige Propaganda, die das Andenken an den Holocaust herabwürdigt. Der Iran ist nicht Deutschland, Ahmadinedschad nicht Hitler. Sie zu vergleichen, ist so falsch wie eine Parallele zwischen israelischen Soldaten und Nazis zu ziehen. Der Holocaust darf niemals vergessen werden, aber es gibt keinen Anlaß, ihn mit irgend etwas zu vergleichen. Israel muß seinen Teil dazu beitragen, um die Erinnerung lebendig zu halten, aber bitte mit reinen Händen. Israel darf nicht den Verdacht erwecken, daß es die Erinnerung an den Holocaust auf eine zynische Art und Weise dazu verwendet, um eigene Untaten zu verschleiern oder gar aus der Erinnerung zu löschen. Leider tut es genau das. Wie wundervoll wäre es gewesen, wenn Israel den Gedenktag dazu verwendet hätte, in sich zu gehen und beispielsweise zu fragen, wie es kommt, daß die Schlange Antisemitismus ihr Haupt ausgerechnet wieder erhoben hat, nachdem wir im Vorjahr Phosphorbomben über Gaza abgeworfen hatten. Wie wundervoll, wenn Netanjahu am 27. Januar 2010 eine neue Integrationspolitik für Kriegsflüchtlinge verkündet hätte, statt sie auszusperren, oder die Blockade des Gazastreifens beendet hätte.
 
Tausend Reden gegen den Antisemitismus werden die Feuersbrunst nicht löschen können, die die Operation Gegossenes Blei in Gaza entfacht hat, der schlimmste Angriff Israels seit dem Sechstagekrieg. Ein Inferno, das nicht nur Israel, sondern die gesamte jüdische Welt gefährdet. Solange die Blockade in Gaza andauert und Israel weiter in institutionalisierter Fremdenfeindlichkeit versinkt, wird jede Rede über den Holocaust hohl tönen. Solange das Böse bei uns wild wuchern darf, werden weder wir noch die Welt jene Predigten ernst nehmen, die wir anderen halten - und seien sie noch so gerechtfertigt. [1]
 
Eine etwas andere jüdische Stimme - Von Eileen Atci und Charly Kneffel
Es waren schon andere Töne, als man sie sonst von Vertretern des Judentums in Deutschland zu hören bekommt, und dem Zentralrat dürfte das, was Reuven Cabelmann, Oberrabiner Moshe Ber Beck, Rabbi Isroel David Weiss und Rabbi Ahron Cohen im Haus der Bundespressekonferenz zum Staat Israel, dem Holocaust und dem Besuch des Präsidenten Peres zu sagen hatten, nicht gefallen haben [2]. Doch das war einkalkuliert. Anlaß für die Veranstaltung der Gruppe Neturei Karta International, deren Sprecher Cabelmann die Veranstaltung organisiert hatte, war der Besuch des israelischen Staatspräsidenten Shimon Peres in Berlin. Dem wollte man nicht die Vertretung des Judentums in der Welt überlassen. Nach Auffassung der Referenten (Moderation Christoph Hörstel) hat er dazu kein Recht. Die vier orthodoxen Juden machten deutlich, daß sie den Zionismus allgemein, insbesondere den Staat Israel als Bedrohung des Judentums auffassen, der den jüdischen Namen zu unrecht in Anspruch nehme und für die Durchsetzung höchst irdischer Ziele mißbrauche.
 
Oberrabiner Beck, dessen Mutter und Großeltern (die Familie stammt aus Budapest) 1944 durch die Nazis in Auschwitz ermordet wurden, berichtete von seinen persönlichen Erlebnissen in dieser Zeit. Er selbst konnte mit 24 anderen nur in einem Erdloch versteckt der Ermordung durch die Nazis und ihre Helfer überleben, ein seltener Glücksfall, da so gut wie alle Juden außerhalb Budapests ermordet wurden und sich überhaupt nur im Stadtteil Pest ein Teil der Juden retten konnte - 65.000 von 250.000. Er vertrat dabei den Standpunkt eines streng rechtgläubigen Thora-treuen Juden und betonte, daß die jüdische Nation, hätte sie sich früher auf die weltliche Macht verlassen, heute nicht mehr existieren würde. Rabbi Cohen fügte hinzu, daß es die Bestimmung der Juden nach der Thora bzw. dem Talmud sei, sich bis zur Ankunft des Messias nicht in einem Staat zusammenzuschließen. Juden, die dieses trotzdem versuchen sollten, müßten mit schlimmen Konsequenzen rechnen. Zwar würden auch die Juden eines Tages durch den Messias erlöst, doch solle man das Walten Gottes nicht künstlich beschleunigen. Hart ging Cohen mit dem Staat Israel ins Gericht. Dieser legitimiere Verbrechen, unterdrücke die Palästinenser und sei aggressiv und arrogant. Der sehr temperamentvolle Rabbi Isroel David Weiss verwies auf eine 1.000 jährige Geschichte des friedlichen Zusammenlebens von Juden, Christen und Muslimen, die hauptsächlich durch den Zionismus zerstört worden sei. Älteren Menschen, vor denen er in Gaza sprach, sei diese Geschichte meist noch bewußt, bei der jüngeren Generation habe er zu Anfang starke Vorbehalte überwinden müssen. Zuversichtlich verwies Weiss darauf, daß Israel erst seit 62 Jahren bestehe, der Zionismus seit rund 120 Jahren, das Judentums selbst aber seit Jahrtausenden bestehe.
 
Reuven Cabelmann (z. Zt. Antwerpen) betonte, wie notwendig es gerade in Deutschland sei, einer anderen Stimme des Judentums Gehör zu verschaffen. Präsident Peres besitze die Frechheit, als Vertreter des gesamten Judentums aufzutreten, dabei sei der Zionismus eine häretische Sichtweise und bedeute in der Substanz eine Abkehr vom Schöpfer der Welt. Cabelmann erklärte, man kritisiere den Staat Israel nicht, sondern lehne ihn durchweg ab. Es sei Juden vorgegeben, keine eigene Staatlichkeit anzustreben, sondern sich in erster Linie als Bürger des Landes, in dem sie lebten, zu verhalten. Deutsche Juden seien insofern Deutsche, britische Juden eben Briten und US-amerikanische Amerikaner. Rabbi Weiss äußerte seine Genugtuung darüber, gerade in Deutschland, wo man grundsätzlich von den Medien boykottiert werde, vor einem aufgeschlossenen Publikum zu reden. Seine Hoffnung sei es, daß dies nur ein Anfang gewesen sein möge. Man möchte aber hinzufügen, daß man hierzulande solche Referenten auch (viel zu) selten zu hören bekommt. Das ließe sich ändern.
 
 
1 Der Gastkommentar von Gideon Levy, dem leitender Redakteur der israelischen Tageszeitung Ha’aretz erschien am 30. 1. 2010 in der Frankfurter Rundschau
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/meinung/2243871_Gastkommentar-Der-Holocaust-der-Iran-und-das-Boese.html  Aus dem Englischen übersetzt von Natalie Soondrum 2http://www.berlinerumschau.com/index.php?set_language=de&cccpage=27012010ArtikelPolitikKneffel1            27. 1. 10