Schengener-Vertrag: Einladung zur kritischen Begutachtung - von Patrick Freudiger, Stadtrat, Langenthal

Das Verhältnis zu Europa ist die an Wichtigkeit alles andere überragende Gretchenfrage der Schweizer Politik. Soll die Schweiz als souveräner Staat mit der EU punktuell zusammenarbeiten oder der EU beitreten und damit deren Recht widerstandslos übernehmen? Geht es bei Steuersenkungen z.B. um die Frage, ob man ein liberales Wirtschaftsklima schaffen will, so geht es bei der Europapolitik um die Frage, ob man überhaupt darüber abstimmen darf, ob man ein liberales Wirtschaftsklima schaffen will.

Der Schengen-Beitritt, über den wir am 5. Juni abstimmen, ist deshalb seit der EWR-Abstimmung die wichtigste Vorlage, zu der sich der Souverän zu äussern hat. Immerhin verpflichtet uns das Schengener-Abkommen, widerstandslos 500 Seiten EU-Recht zu übernehmen. Die Schweiz würde die Gewährleistung von Sicherheit -  wichtigste Aufgabe jedes Staates -  an Europa delegieren. Sie müsste zudem auch zukünftiges EU-Recht, das wir heute noch gar nicht kennen, widerstandslos übernehmen,.
 
Umso erstaunlicher ist deshalb die Einseitigkeit, mit der unsere Elite diese Frage dem Volk verkauft. SP-Bundesrätin Calmy-Rey sagte an einer Pressekonferenz, sie hätte auch nach langem Studium keinen Nachteil eines Schengen-Beitritts gefunden. Für eine Magistratin, die das ganze Volk zu vertreten hat und damit ausgewogen informieren muss, ist eine solche Aussage geradezu skandalös. Umso bedenklicher wird das Ganze, wenn wir uns Calmy-Reys Vorstellung von bilateralen Verhandlungen in Erinnerung rufen. Calmy-Rey: ?Indem wir die bilateralen Beziehungen zur EU intensivieren, können wir den Boden für den EU-Beitritt bereiten.? Diese Haltung hat im Bundesrat heute leider eine Mehrheit. Der Bundesrat hat den EU-Beitritt zu seinem strategischen Ziel erklärt und richtet jeden Schritt darauf aus. Dabei nimmt er auch Souveränitätsverluste bewusst in Kauf. Noch 1999 erklärte der Bundesrat explizit, Schengen mache ?Souveränitätsübertragungen an supranationale Instanzen unerlässlich.? Heute behauptet er das Gegenteil, um den Schengen-Beitritt am Volk vorbeischmuggeln zu können.
 
Doch damit nicht genug. Auch die Medien, welche eigentlich die Politik kritisch überwachen sollten, beteiligen sich aktiv am bundesrätlich verordneten Denkverbot. Schengen-kritische Meldungen werden bewusst nicht thematisiert. So informiert uns die Presse nirgends über die Auswirkungen des deutschen Visa-Skandals auf die Schweiz. Wer missbräuchlich ein Visum erlangt hat, könnte ohne Grenzkontrolle auch in die Schweiz gelangen. Ebenso wenig ist vom europäischen Haftbefehl zu lesen, der bei der Rechtsvereinheitlichung in der EU auch bald zum Schengen-Recht werden könnte. Mit dem EU-Haftbefehl müssten Menschen ohne Rekursmittel an fremde Staaten zur Beurteilung durch fremde Richter ausgeliefert werden. Kaum thematisiert wird schliesslich die mangelnde Zukunftsfähigkeit der EU. Osterweiterung (inklusive Bulgarien und Rumänien) und Türkei-Beitritt richten die EU zugrunde. In Frankreich droht zudem ein Nein zur EU-Verfassung, womit sich die vielbeschworene europäische Identität endgültig als Fiktion erweisen wird.
 
Bundesrat und Wirtschaft betreiben einseitige Propaganda. Medien verschweigen wichtige Themen. Schengen-kritische Grenzwächter, Polizisten, Beamte und sogar Regierungsräte erhalten Maulkörbe: Jetzt ist das aufgeklärte Bürgertum selbst gefordert, den Schengen-Vertrag kritisch zu begutachten.
 
Erschienen in der Ausgabe Mai / Juni 2005 von BERN